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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

907-910

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Grümme, Bernhard

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht und Politik. Be­standsaufnahme – Grundsatzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunterrichts.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 282 S. gr.8°. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-17-020821-6.

Rezensent:

Henrik Simojoki

Schlägt das Pendel zurück? Nachdem die religionspädagogische Diskussion in jüngster Zeit bis zur Einseitigkeit im Zeichen der verschiedentlich ausgerufenen ästhetischen Wende stand, kündigt sich neuerdings, nicht ganz unerwartet, eine gegenläufige Tendenz an: Die Politik, die nach den Zuspitzungen der Post-1968er-Jahre lange Zeit ein Schattendasein fristete, erobert wieder Terrain. In der Studie des katholischen Religionspädagogen Bernhard Grümme gewinnt diese Verschiebung im religionspädagogischen Feld erstmals monographische Gestalt. Jedoch macht der Vf. bereits in der kurzen Einführung zu seiner Grundsatzschrift klar, dass es ihm nicht darum geht, der einen Wende eine weitere folgen zu lassen – eine Versuchung, die in der Praktischen Theologie angesichts der vielfältigen interdisziplinären Bezüge vielleicht be­son­ders groß ist. Statt auf eine Revitalisierung emanzipatorisch-problemorientierter Konzeptionen der Vergangenheit zielt seine Ar­beit darauf, das Politische als »eine wesentliche Dimension des RU« (15) auszuweisen – wobei die Betonung auf beidem liegt: auf der Unentbehrlichkeit dieser Dimension (»wesentlich«) wie auch auf deren Nicht-Hegemonialität im Verhältnis zu den anderen Di­mensionen (»eine«). Damit ist der wohltuend ausgewogene Ton bereits angestimmt, der dieser Veröffentlichung ihr charakteristisches Gepräge gibt. Von Anfang an wird also deutlich: Das Pendel soll nicht von einem Extrem ins andere ausschlagen.
Aber wie sollen die altbekannten Klippen ideologischer Instrumentalisierung und privatistischer Entpolitisierung vermieden werden? Der Vf. plädiert für eine doppelte Normierung und Absicherung des religionspädagogischen Politikbezugs: Die von ihm angestrebte politische Dimensionierung des Religionsunterrichts soll sich »zum einen aus dem Gefälle der christlichen Botschaft er­geben« und »zum anderen aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler ableitbar sein« (14).
Angebahnt wird dieser Weg zu »einer politisch sensiblen Religionsdidaktik« (62) in einem methodischen Dreischritt, der auf­-fälligerweise nicht mit der im Untertitel der Arbeit aufgeführten Trias identisch ist: Auf eine kritische Selbstvergewisserung des Verhältnisses von Religionsunterricht und Politik (B.), die zugleich der grundbegrifflichen Klärung dient, folgt eine kritische Bestandsaufnahme vergangener und gegenwärtiger Ansätze (C.). Der Schwerpunkt der Arbeit liegt jedoch darauf, konstruktive und auch konkrete didaktische Perspektiven für einen politisch dimensionierten Religionsunterricht zu entwerfen (D.). Abgerundet wird der Argumentationsgang durch zehn prägnante Schlussthesen (E.).
In allen drei Teilen setzt der Vf. sein Ansinnen, perspektivische Engführungen zu vermeiden, konsequent um. Das führt zu einem Reichtum an Zugängen, der unmöglich im begrenzten Rahmen dieser Rezension abgebildet werden kann. So nähert sich der Vf. im ersten Hauptteil dem Verhältnis von Religionsunterricht und Politik aus jugendsoziologischer, politologischer, gesellschafts- und religionstheoretischer, bildungstheoretischer, didaktischer, rechtlicher, partei- und gesellschaftspolitischer und schließlich theologischer Richtung. Die Reihenfolge ist nicht unerheblich und lässt bereits den roten Faden erkennen, der die verschiedenen Teile zu­sammenhält: Es geht dem Vf. stets um den unauflöslichen Zusam­menhang zwischen humanwissenschaftlicher und theologischer Reflexion. Auf der einen Seite kann die politische Dimension des Religionsunterrichts nur unter Berücksichtigung der aktuellen Jugendforschung, im Gespräch mit der Politikwissenschaft und vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen und poli­-tischen Entwicklungen bestimmt werden. Um jedoch der Gefahr der Funktionalisierung durch Gesellschaft und Staat zu entgehen – der Vf. warnt besonders eindringlich vor dem »Spektrum zivilreligiöser Versuchungen« im Kontext der aktuellen Wertedebatte (50) –, müsse die Logik des Politischen auch fundamentaltheologisch er­schlossen werden. Der Vf. tut dies vornehmlich unter Rückgriff auf die von Johann Baptist Metz maßgeblich geprägte Neue Politische Theologie. Bereits die veränderte Sprache lässt erkennen, wie sehr es ihm an solcher »Rückgründung in eschatologischer Hoffnung« gelegen ist: »Das Christentum als eine Hoffnung zu begreifen, die als Hoffnung auf universale Gerechtigkeit und Befreiung praktisch werden will, offenbart dessen politische Signatur.« (57) Damit sei, so die nicht sonderlich konkret ausgeführte Schlussfolgerung, den zivilreligiösen und anderen Vereinnahmungsversuchungen des Religionsunterrichts eine klare Grenze gesetzt.
Kürzer kann die anschließende kritische Bestandsaufnahme rekapituliert werden, auch weil sie in dem Buch lediglich vorbereitende Funktion hat. Sie überzeugt besonders dort, wo der Vf. den aktuellen religionspädagogischen Stellenwert politischer Bildung vermisst, etwa in Auseinandersetzung mit kirchlichen Dokumenten zum Religionsunterricht, mit aktuellen Bildungsplänen und mit hervorgehobenen Konzepten aus der jüngsten religionspädagogischen Diskussion. Besonders zu würdigen ist, dass er, was selten ist, auch Schulbücher und die Ebene der Lehrerbildung in die Analyse mit einbezieht. Dagegen wird die knapp gehaltene histo­rische Rückschau den referierten Positionen nicht wirklich gerecht. Selbst die in dieser Hinsicht besonders verpönte »Evangelische Un­terweisung« war ihrem Selbstverständnis nach keineswegs so unpolitisch, wie in der stark auf Sekundärliteratur gestützten Evaluation nahegelegt wird. Ferner fällt auf, dass die Geschichte der politisch ja ebenfalls keineswegs indifferenten katholischen Religionspädagogik in der Darstellung fast komplett zurücktritt.
Diese Verkürzungen erklären sich jedoch mit der zu begrüßenden Schwerpunktsetzung des Vf.s, dem in erster Linie daran gelegen ist, nicht nur verantwortbare, sondern auch umsetzbare Perspektiven für einen politisch dimensionierten Religionsunterricht aufzuzeigen. Dieser konstruktiven Absicht entspricht die Argumentationsführung des nun folgenden Hauptkapitels der Arbeit, das sich an dem methodischen Dreischritt Sehen-Urteilen-Han­deln orientiert. Der Vf. setzt an mit einer bildungstheoretischen Grundierung und einer umsichtigen Vermessung des gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Bedingungsfeldes, um auf dieser Basis den politischen Bildungsauftrag des Religionsunterrichts präziser zu konturieren. Dies geschieht in Form einer Aufreihung von acht zusammenhängenden Merkmalen, denen kriteriologische Bedeutung »für die Analyse und normative Bestimmung der politischen Dimension religionspädagogischer Lernprozesse« zu­kommt (148). Dieser Kriterienkatalog – »parteiisch«, »wahrnehmend«, »konfrontie­rend«, »kritisch-informierend«, »emanzipatorisch«, »trans­foma­torisch«, »subjektorientiert«, »anamnetisch-temporal« un dschließlich »pluralitätsfähig« – steht exemplarisch für das umfassende Integrationsinteresse dieser Arbeit, das vom Vf. anschließend auch wissenschaftstheoretisch expliziert wird: Es geht ihm darum, »kulturhermeneutische und gesellschaftskritische Aspekte im Kontext eines auf Emanzipation ausgerichteten Paradigmas zusammenzuführen« (153). Ästhetisch-kulturhermeneutische, kognitiv-reflexive und strukturell-politische Momente religiöser Bildung stehen in einem korrelativen Verhältnis zueinander und sind daher einerseits in ihrer relativen Eigenständigkeit zu würdigen, andererseits stets konstruktiv und kritisch aufeinander zu beziehen (154 f.).
In dem erfreulich ausführlichen Versuch des Vf.s, die grundlagentheoretischen Überlegungen in handlungsleitende »Bausteine« politisch-religiöser Bildung zu überführen, kommen dann die Stärken, aber auch die Grenzen dieses Integrationsmodells zum Vorschein. Ob er nun die politische Dimension in die aktuelle religionspädagogische Kompetenzdiskussion einträgt, didaktische Grundsätze für einen politisch sensiblen Unterricht aufstellt, in­haltliche Aufgabenfelder problemorientiert entfaltet oder schließlich, was ja oft unterschlagen wird, auch aufgaben- und subjekt­gerechte didaktische Werkzeuge präsentiert, stets überzeugt die Ausbalancierung der sich zum Teil widerstrebenden Begründungsmomente.
Das zeigt sich exemplarisch in der differenzierten Einholung der Problemorientierung, deren religionsdidaktische Leistungsfähigkeit für die Erhebung epochaler Schlüsselprobleme produktiv entfaltet wird, ohne ihr jedoch die frühere Stellung eines religionsdidaktischen Leitprinzip wieder zu gewähren (196 ff. 211 ff.). Allerdings ist das Bemühen, sämtliche Aspekte politisch-religiöser Bildung einzufangen und miteinander zu verweben, um den Preis eines gewissen Schematismus erkauft, der schon auf der Gliederungsebene deutlich wird: Zusätzlich zu den be­reits erwähnten acht Gütekriterien eines politisch sensiblen Bildungsbegriffs werden, stets numerisch aneinandergereiht, allein im fünften Unterkapitel fünf politische Kompetenzen, acht didaktische Prinzipien, sieben Schlüsselprobleme, fünf Lerngelegenheiten und fünf Lernwege differenziert und dargestellt. Dieses Vorgehen beeinträchtigt etwas den Lesefluss und führt zudem dazu, dass keiner der verhandelten Einzelaspekte besonders ausführlich zur Entfaltung kommt.
Der letzte Einwand spricht freilich nicht gegen diese Studie, sondern verdeutlicht einmal mehr deren Intention und Gattung. Es handelt sich um einen Grundlegungsbeitrag mit hohem Orientierungswert und einem Differenzierungsgrad, der Maßstäbe setzt für den künftig sich wohl intensivierenden Diskurs über das politische Profil religiöser Bildung.