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Ausgabe:

Februar/1997

Spalte:

123 f

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bechtholdt, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Die jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1995. 485 S. gr.8°. Pp. DM 128,­. ISBN 3-17-013914-2.

Rezensent:

Udo Feist

Die in den vergangenen Jahren beständig steigende Zahl von Publikationen zur Geschichte des deutschen Judentums dokumentiert zum einen die ertragreiche Arbeit jüdischer Institute und steht zum andern, sofern sie von christlicher Seite stammen, vielfach in Zusammenhang mit Impulsen des ’christlich-jüdischen Dialogs’. Klimatisch tritt die ­ vermutlich aus einer Beruhigung durch den zeitlichen Abstand erklärliche ­ insgesamt größere Bereitschaft hinzu, sich in Deutschland mit Auschwitz und den Folgen, vor allem auch der Vorgeschichte zu befassen. Vorsichtig mag man davon sprechen, daß ein Bann gebrochen ist. Für diese Einschätzung spricht ebenfalls die Tatsache, daß neben unverzichtbar Grundlegendem, Aufarbeitendem zunehmend Titel erscheinen, die sich im Detail der Erforschung jüdischer deutscher Kultur mit all ihren geistigen, sozialen und historischen Bedingtheiten, Brechungen und Verwicklungen widmen. B. reiht sich mit seiner Dissertation (Mainz 1994/95) hier ein. Den tiefgreifenden religiösen und kulturellen Wandel im deutschen Judentum des 19. Jahrhunderts, der besonders am veränderten Umgang mit der biblischen Überlieferung sichtbar wurde, versucht B. an diesem Schnittpunkt von Zeit- und Geistesgeschichte nachzuzeichnen.

B. geht dabei im klassischen Dreischritt vor: Vier einleitende Kapitel raffen die Voraussetzungen, vier weitere Kapitel entfalten den Umbruch am Beispiel von vier paradigmatischen, gleichwohl bis heute weitgehend unbekannten jüdischen Gelehrtenbiographien, und ein abschließendes Kapitel (439-454: Zusammenfassung) bündelt die Erträge, fokussiert sie und versucht eine Einordnung. Deren zwiefältige Anlage spiegelt den Hintergrund der Arbeit, da zum einen der beherrschende Einfluß zeitgenössischer protestantischer Bibelkritik herausgestellt und zum andern auf deren latente, manchmal explizite und z. T. bis heute in der christlichen Theologie nachwirkende Antijudaismen verwiesen wird. Das dient der genaueren historischen Lokalisierung des beschriebenen Phänomens und schlägt zugleich eine Brücke zur eigenen Gegenwart.

Das einleitende Kapitel benennt in Form eines Slogans den Kern der Entwicklung (7-15: Vom Lernen zur Wissenschaft), denn die Begegnung und Auseinandersetzung der jüdischen Bibelgelehrtengenerationen des 19. Jahrhunderts mit dem Hi-storismus veränderte nicht nur die geistigen Konstellationen, sondern ebenfalls die materiellen Bedingungen der weiteren Gelehrsamkeit tiefgreifend. Die historischen Grundlagen der jüdischen Reformbewegung (16-41), die aus diesem Umbruch hervorging, werden insofern zutreffend in einen geistesgeschichtlichen Blickwinkel gerückt. B. nimmt dabei allerdings eine Engführung in Kauf, indem er die geschichtlichen Grundlagen der Judenemanzipation im allmählich raumgreifenden Toleranzgedanken (jeweils exemplarisch mit historischen Persönlichkeiten und deren Werk belegt, z. B. John Locke, John Toland u.a.), also vornehmlich als Folgen der "geistigen und kulturellen Veränderungen in den christlichen Staaten Europas"(17) sieht. In bezug auf Aufklärung und Französiche Revolution ist das gewiß nicht falsch, doch hatten gerade jene ebenfalls handfest materielle Voraussetzungen: konkret den Wandel vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft. B. jedoch akzentuiert, vermutlich nicht zuletzt wegen seines Themas, überaus stark den Primat des Geistes und scheint geradezu von einer geistesgeschichtlichen Prävalenz auszugehen, so daß die Ereignisgeschichte phasenweise wie deren Ableitung wirkt. Der prägnanten Skizze über Die Rabbinerseminare und ihre Gründer (42-63) in Berlin und Breslau tut das zwar keinen Abbruch, das Kapitel über Leopold Zunz Begründer der "Wissenschaft des Judentums" (64-90) hingegen leidet an der im Blickwinkel begründeten Schieflage. Immerhin war der längst zur Legende gewordene Zunz ­ über den eine grundlegende Monographie immer noch fehlt ­ keineswegs nur ein bahnbrechender Gelehrter, der ansonsten in seinem Leben den für Juden zeittypischen, üblichen Diskriminierungen unterlag, sondern Zunz wandte sich gerade der Ereignisgeschichte überaus konkret und heftig zu: Im Umkreis der 48er Revolution und danach war er als radikaldemokratischer Aktivist vielfach engagiert. Dennoch blieb auch ihm selbst, ganz im Gegensatz zu seinem Freund Heinrich Heine, die Relevanz der materiellen gesellschaftlichen Grundlagen und Bedingungen verborgen. Daß nun aber dessen eigentümliches Scheitern bei allen jüdischen Gruppierungen seiner Zeit mit der Diskrepanz von bürgerlichem Stand und konsequentem wissenschaftlichem Avantgardismus etwas zu tun hat, diese Diskrepanz wiederum auf seine Bibelkritik rückwirkte und zudem die Stellung zur eigenen kulturellen Verwurzelung betraf­ das dürfte diesseits der schieren Vermutung liegen. B. jedoch konzentriert sich, darin dem gängigen Zunzbild folgend, auch hier ganz auf den Geistmenschen, sein Werk und dessen Wirkungen. Auf diese Weise wird eine Dimension des Themas von vornherein nicht zugelassen.

So jedenfalls bedingt die Entscheidung für den Primat des Geistes als Grundkategorie sowohl der historischen Betrachtung wie ihrer Beschreibung auch Modus und Habitus des Hauptteils von B.s Untersuchung (90-438): Die in unterschiedlicher Richtung (Reformjudentum bzw. Orthodoxie) wirkenden Theologen und Bibelausleger David Einhorn (90-194), Abraham Geiger (195-288), Kaufmann Kohler (289-362) und David Hoffmann (363-438) werden durchweg in ihrer Bedeutung als Repräsentanten des eigenen Werks geschildert, genauer: In der Form auf das Thema zugeschnittener ’Gelehrtenbiographien’, die deren jeweilige Relevanz für die ’jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert’ und die sich daran anschließenden Ausprägungen in den jüdischen Gemeinden bis heute herausstellen, wird die Aura des Geistigen programmatisch nicht verlassen bzw. bleibt sie ständig Skopus der Ausführungen. Besonders augenfällig werden die Folgen dieses Vorgehens in der schematischen Schilderung ihrer jeweiligen Promotionsgeschichte. Verfahren und Ergebnis werden nämlich nicht nur als Keim des jeweiligen Werkes geschildert und betont (was zumeist sogar zutreffend ist), sondern die häufig widrigen Begleitumstände geraten z. T. fast in den Ruch bloßen Kolorits. Dabei handelt es sich jedoch weder um eine Tendenz noch eine Absicht der Darstellung, sondern vielmehr um eine Folge des gewählten Zugangs. Mehr historische Dialektik wäre wünschenswert gewesen, oder aber die strikte Beschränkung auf einzelne Bibelkritiker, denn B. leistet vielfach Pionierarbeit. Gerade die Skizzen der einzelnen akademischen Karrieren bzw. Nichtkarrieren, die Rekonstruktion der jeweiligen Promotionsverfahren, wozu B. etliche Archive durchforstete und viele Akten erstmalig der Öffentlichkeit zugänglich machte, erschließen eine große Materialfülle. Die historiographische Einbindung dieser verdienstvollen Arbeit und ihrer Ergebnisse hingegen bleibt Aufgabe weiterer (theologie- und bibelkritikgeschichtlicher) Geschichtsschreibung.