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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

901-904

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Jens

Titel/Untertitel:

Theologische Hermeneutik. Ein trinitarisch-christologischer Entwurf.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 551 S. 8°. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-451-29193-7.

Rezensent:

Philipp Stoellger

Jens Zimmermann, Professor an der Trinity Western University, Kanada, legt mit dieser Studie seine eigene Übersetzung seines Bandes »Recovering Theological Hermeneutics: An Incarnational-Trinitarian Theory of Interpretation« (Grand Rapids, Mich.: Baker Academic, 2004) vor (geändert mit Rücksicht auf Kritiken der englischen Publikation).
Der erste Teil »Gemeinschaft mit Gott« stellt die Hermeneutik der Reformatoren, von Calvin bis Luther und die Entwicklung über Flacius bis zu Francke dar (23–200). Der zweite Teil »Das Verstummen des Wortes« zeichnet die Geschichte der Säkularisierung der Hermeneutik von Schleiermacher über Gadamer bis Levinas und Derrida (203–449) nach. Der dritte Teil schließlich bietet die »Skizze einer theologischen Hermeneutik. Ein inkarnatorisch-trinitarischer Ansatz« (451–540) im Anschluss an Bonhoeffer und Balthasar.
Zentrales Anliegen Z.s ist die »Wiederentdeckung« (17) der theologischen Hermeneutik in doppelter Frontstellung: als Hermeneutik gegenüber deren postmodernen Kritikern und als theologische gegenüber der Reduktion als philosophische Hermeneutik (Heideggers und Gadamers und der entsprechenden Geschichtsschreibung z. B. Grondins). Die Theologizität bestimmt er als »Grundlegung« (9) durch den »personhaften Gott« (10) im Gegenzug zur ethischen Transzendenz Levinas’. Präzisiert wird diese Grundlegung mit Bonhoeffers Christologie, womit Z. die »Hoffnung« Taylors auf den »jüdisch-christliche Theismus« zu beantworten sucht (13).
Teil I ist Z.s Geschichte der vormodernen Hermeneutik, mit der er die vorherrschende »in vielerlei Hinsicht falsche und irreführende« Sicht derselben zu korrigieren beabsichtigt (24). Entscheidend dafür ist, dass bereits die reformatorischen Hermeneutiken Calvins und Luthers universell (24) und ontologisch begründet sind, also nicht erst die modernen im Gefolge Heideggers. Dass dies spätestens seit Ebeling bekannt ist und in den Diskussionen um Gadamer spezifiziert wurde, wird nicht erörtert. Calvin gilt Z. als »bestimmend für die Reformationstheologie«, weil ihm zufolge »echte Selbsterkenntnis« aus dem Zusammenhang von Selbstverständnis und Gotteserkenntnis entstehe (51). – Ob diese These als hermeneutisches Extracalvinisticum gelten kann?
Als Alternative zu diesem calvinistischen Zugang entwirft Z. »Das schweigende Universum« (52) des »postmoderne[n] Nihilismus« (53), dem der »transzendente Rahmen« fehle (54), und der mit seinem »Rationalismus« von der Aufklärung beherrscht bleibe (55). Ob die Wiederentdeckung Z.s – die teils auffällig wiederholend ist (trotz 17) – vielleicht von diesen ›postmodernen‹ Bedingungen zehrt, bleibt fraglos.
Um die Vergangenheitsvergessenheit und deren Verzeichnung zu korrigieren (vor allem als Kritik am Konkurrenten Grondin, 59–68), komme alles darauf an, dass man »den Kern der theologischen Hermeneutik als Gemeinschaft mit Gott ganz klar« erfasse (59). Hier scheinen allerdings Glaube, Verstehen und Theorie dessen unverständlich indifferent zu werden. Selbst wenn man meint, Glauben als Verstehen bestimmen zu können, wäre Hermeneutik als Theorie und Reflexion dessen doch davon zu unterscheiden und kann nicht ›Gottesgemeinschaft‹ als ›Kern‹ haben – wenn man nicht eine gläubige Theorie anvisiert (statt einer Theorie als Reflexion des Glaubens und Verstehens im gen. obj.).
Z.s Geschichte der Hermeneutik folgt einem Dependenzmodell: Weil die philosophische Hermeneutik von der theologischen ab­hängig sei, die moderne von der vormodernen, sei Letztere bleibend relevant und zumal ebenbürtig (universal und ontologisch). Die Darstellung von Luthers Hermeneutik (69–117) – die von anderen schon gründlicher geboten wurde – folgt dem Modell: »Ohne Luther kein Heidegger, ohne Heidegger kein Derrida« (113). Nur, was folgte daraus, wenn es denn zuträfe (was auch immer diese Dependenzthese besagen mag)?
Im Aufbau des Bandes folgt das Kapitel »Hermeneutik der Puritaner und Pietisten« (118–200). Die Darstellung mündet in (wie es scheint von Z. selbst vertretene) Thesen: dass wir »von Natur aus … sinnsuchende und produzierende Wesen sind«, diesen Sinn in Natur und Offenbarung Gottes finden, dass »[t]heologisch gesehen … Wissen auch vom Vertrauen« abhänge (197), dass dieses Wissen »durch Interpretation erlangt wird«, was die Theologie »schon lange« vor der philosophischen Hermeneutik gewusst habe (198).
Der Teil II konstruiert die Moderne bis zur Postmoderne als Verlust des theologischen »Interpretationsrahmens eines von Gott geschaffenen Universums« (203). Kants Pflichtethik mit deren Tendenz zum »soldatenhaften Gehorsam« (206) zeige »den Verlust der Gottesgemeinschaft und damit der wahren Gotteserkenntnis« (207). Rousseau sei »nichts anderes als eine säkularisierte Revision der reformatorischen Theologie« (214). Schleiermacher gebe dann »den objektiven bzw. transzendenten Pol der Offenbarung« auf, den die vormoderne Hermeneutik noch »mit der Inkarnation bewahrt« hatte (217). Seine Universalhermeneutik zahle daher den Preis »der Verflachung zentraler christlicher Lehren« (230). Damit wird er zum Exponenten der Titelthese dieses Teils, für »Das Verstummen des Wortes« (228).
Gadamer stehe »tief … in der Schuld theologischer Quellen« (243), ohne die seine Hermeneutik nicht haltbar wäre. So basiere seine Hermeneutik auf dem »Glauben an Sprache und Sinn«, der »am plausibelsten in einer theologischen Weltanschauung« sei (284, gegen »Rationalismus« und »Fideismus«). Während Gadamer sich aber an einem »unpersonalen Logos der Vernunft« orientiere, gelte es, die Hermeneutik zu konzipieren »auf dem Wort, das ›Fleisch‹ wurde« (300), und dafür rekurriert Z. auf Levinas (statt Barth, 301 f.), maßgeblich auf dessen »ethische Transzendenz« und die »inkarnatorische Subjektivität« (314 ff.). So hilfreich dieser Rekurs für eine Hermeneutik angesichts der Herausforderungen des Poststrukturalismus ist – Z. findet ihn bestimmt von »der Angst vor einer echten Inkarnation« (354). Es fehle ihm »einfach die Vorstellungskraft für ein transzendentes Wort«, das sowohl gegenwärtig als auch transzendent sei (358). – Ob diese Analyse dem An­spruch gerecht wird, den Levinas darstellt? Jedenfalls findet Z. bei ihm eine »inkarnatorisch konzipierte theologische Hermeneutik« »bedroht« durch das »Beharren auf einer radikalen Transzendenz« (368). Aufgenommen und theologisch integriert wird von Z., dass nach Levinas »alle menschliche Auslegung … letztendlich immer auf Selbst- und Gotteserkenntnis ausgerichtet ist« (379). Damit wird er letztendlich reduziert auf Z.s These von der »Transzendenz als Fundament menschlicher Selbsterkenntnis« (381, vgl. 430 ff.435 ff.), die von Anfang recht eng gefasst wird: »In der Hermeneutik geht es hauptsächlich um Selbsterkenntnis, denn alles Verstehen ist im Grunde ein sich selbst verstehen« (9). Das jedenfalls ist schwerlich die Pointe bei Levinas.
Seine These führt Z. als »Hermeneutik und Selbsterkenntnis« (lege: als?) in »Auseinandersetzung mit der radikalen Hermeneutik« (381–449) aus, gemeint ist die Gadamer-Derrida-Kontroverse und die Kritik der Hermeneutik als »logozentrisch«. Derrida versteht Z. als Variante von Levinas’ Philosophie und bemüht sich um der ethischen Orientierung willen, beide in seine inkarnationstheologische Hermeneutik integrieren (vgl. 409 f., diese Aufnahme der Ethik als Grundierung der Hermeneutik lässt den Bezug auf Ricœur umso deutlicher vermissen). Gegen u. a. Caputos »radikale Hermeneutik« (419 ff.) versucht Z. zu zeigen, dass die »fleischgewordene Transzendenz« die »theologische Grundlage für ethische Transzendenz« sei (443 ff.), also nicht die Ethik der Grund der Hermeneutik, sondern die Inkarnationstheologie. Das sei notwendig so, weil Inkarnation »eine historische und geschichtliche Aussage« über Gottes Liebe zum Menschen sei; und weil ein konkretes Selbst nur existieren könne, »wenn es Gott als ein Du anspricht« durch die »Inkarnation Gottes im Messias« (44 4f.). Inkarnation als »Selbstinterpretation Gottes« (»mit der Kirche als dem Körper Christi«, 446) wird hier zur Letztbegründung (oder nur zum Modell?) der Hermeneutik.
Das entfaltet Teil III als »Skizze einer theologischen Hermeneutik« (451 ff.). Mit Bonhoeffer wird Levinas »inkarnatorische Subjektivität« weitergeführt als »trinitarische Subjektivität« (466 ff.), in eine Ethik »ohne Geiseln« eingebettet (460 ff.) und ekklesiologisch entfaltet, indem die Kirche als »Gemeinschaftsstruktur der Er­kenntnis« verstanden wird (491 ff.). Die Leitthese, »daß eine theologische Hermeneutik sowohl trinitarisch als auch inkarnatorisch aufgezogen werden muß, um ein relationales (der Trinität nachempfundenes) und kein rein individualistisches interpretierendes Subjekt entstehen zu lassen« (454), ist – bei allem inkarnations- und trinitätstheologischen Klärungsbedarf – so klar, wie es mit Bonhoeffer deutlich werden kann. Die Leistung, Bonhoeffer als hermeneutischen Theologen in die Diskussion zu bringen, ist hilfreich (wenngleich nicht neu). Das wird weitergeführt in einer inkarnatorischen Ästhetik mit von Balthasar. – Dabei irritiert, dass so gut wie kein Bezug genommen wird auf die Diskussionen der hermeneutischen Theologie des 20. Jh.s, sei es Bultmann, Fuchs, Jüngel, Bader, Weder oder Dalferth (Ausnahmen sind Ebeling und Körtner); auch die Schleiermacherforschung oder theologische Kulturhermeneutik spielen keine Rolle, ebenso wenig wie Ricœur (vgl. z. B. 243) und dessen Rezeptionen.
Abgrenzende Reduktionen (gegen Derrida u. a.) etwa auf die Frage, ob »der Messias tatsächlich gekommen ist« (502), führen im Blick auf die hermeneutischen Diskussionen wenig weiter. Wenn Z. alles daran liegt, dass die »Theologie zu ihren vormodernen Wurzeln finden« müsse (244) mit der These, »die vormoderne Hermeneutik … hatte das einzig vertretbare Fundament für die Hermeneutik und die Ethik erkannt, indem es menschliches Verstehen … in der Inkarnation verankerte« (216) – dann wird eine retour zum Programm, das in eine seltsame Gegenbesetzung führt und bei aller Kritik von einer postmodernen Lizenz zur Wiederholung des Vergangenen zehrt. Das zu erinnern und durchzuarbeiten, ist hilfreich. Die Inkarnationslehre (welche genau?) aber als alternativlose, notwendige und hinreichende Letztbegründung der Hermeneutik zu behaupten, bekommt am Ende einen beschwörenden Ton. Dem muss man nicht folgen und kann dennoch viel Anregendes in der Skizze finden, zumal die Problemstellung, was Hermeneutik in theologischer Perspektive heißen kann (und was nicht), unausweichlich ist angesichts der Herausforderungen der Hermeneutikkritik.