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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

892-894

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Claret, Bernd J. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theodizee. Das Böse in der Welt.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007. 184 S. 8°. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-534-19049-2.

Rezensent:

Tom Kleffmann

Der Untertitel dieses Sammelbandes trifft den Inhalt genauer als der Obertitel: Es geht vor allem um die Sündenlehre bzw. um einen theologischen Begriff des Bösen. Das Vorwort des Herausgebers erläutert den Zusammenhang mit der These, die neuere Theodizeediskussion habe die (katholische) Debatte zur Erbsündenlehre der 50er und 60er Jahre beerbt; da deutlich wurde, dass weder »persönliche Sünden« noch die Gedanken von Ursünde und Teufel das Böse hinreichend erklären können, stelle sich verschärft die Frage, inwiefern Gott dafür verantwortlich sei (vgl. 8 f.). Die Theodizeefrage ist also nur der weitere Horizont der Fragestellung, und zwar beschränkt auf das malum morale.
Dem Vorwort folgen fünf Beiträge katholischer Theologen, darunter von zwei Altmeistern. Den Anfang macht G. Greshake, Die Freiheit und das Böse, Gott und der Teufel. Ein Plakat (15–35). In elementarer, bisweilen den Predigtton streifender Sprache entwirft Greshake sein am Freiheitsbegriff orientiertes Gesamtkonzept der Sündenlehre. Freiheit ist formal Selbstbestimmung. Während sie nur Gott unbegrenzt zukommt, muss sich der Mensch angesichts der geschöpflichen Grenzen entscheiden, ob er die Freiheit so realisiert, dass er in dem Versuch, die Grenzen zu überwinden, sich selbst zum Gott macht, oder ob er sie sich »als Teilhabe an der grenzenlosen Fülle« (16) von Gott schenken lässt. Das Erste führt zu einer monologischen Freiheit, deren Subjekt sie gegen den jeweils Anderen durchsetzen muss. Das Zweite ist eine Freiheit, die sich in Liebe verwirklicht: dialogische Freiheit. Auf sie hin ist der Mensch im Sinn der Bibel angelegt; insofern stellt die monologische Freiheit eine Verkehrung dar (leider wird diese Verkehrung nicht begrifflich ausgeführt). Es ist also eine Freiheit vorauszusetzen, zwischen wahrer und verkehrter Freiheit zu entscheiden – eine Verdopplung, die problematisch ist. Interessant ist dabei zu sehen, wie der von Schelling und Kierkegaard entwickelte Ansatz, die Angst als Motiv der Versuchung verkehrter Freiheit zu verstehen, seit K. Rahner fast zum Allgemeingut katholischer Sündenlehre geworden ist. Wenn nun sowohl die Entscheidung zur wahren wie auch die zur verkehrten Freiheit im zwischenmenschlichen Verhältnis vermittelt ist, so ist der Sinn der Erbsündenlehre, die Situiertheit der individuellen Entscheidung auszudrücken. Für die Theodizee bedeutet das zum einen, dass geschöpfliche Freiheit notwendig ist als Möglichkeit dafür, dass der Mensch »Teilhabe am göttlichen Leben« gewinnt (30 – welche Freiheit ist hier gemeint?). Zum anderen ist kreuzestheologisch zu betonen, dass Gott in Chris­tus das Leid, das aus der zum Bösen pervertierten Freiheit kommt, auf sich selber nimmt.
Der Beitrag von K.-H. Menke, Die Diagnose und Bekämpfung des Bösen. Epiphänomen der Natur oder Ausweis formal unbedingter Autonomie? (37–66), führt eine wichtige Auseinandersetzung, ist aber in der Durchführung etwas unübersichtlich. Es geht um verschiedene zeitgenössische Ansätze, Phänomene des Bösen naturalistisch zu erklären, also etwa im Sinne unvermeidlicher, biologisch, soziologisch, psychologisch oder freiheitstheoretisch zu beschreibender Funktionen. Es gilt dann, nicht nur herauszu­stellen, dass hier schon auf der Ebene der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ein Gegensatz zum theologischen Verständnis be­steht, sondern zugleich die Sündenlehre den differenzierten Be­schreibungen der Phänomenebene anzupassen und etwa die Ge­danken von Urstand und Ursünde, soweit sie auf mythischen Voraussetzungen beruhen, konkretisierend zu übersetzen. Die Un­übersichtlichkeit des Beitrages liegt daran, dass Menke sich hier nicht nur im zitatreichen Gespräch mit dem Bochumer Theologen Gerd Neuhaus befindet, sondern darüber hinaus Ansätze von G. Marcel, Kierkegaard, Adorno, R. Girard, J.-L. Marion, M. Striet und anderen zu integrieren versucht. Dagegen hätten Menkes eigene Überlegungen und ihre Voraussetzungen eine weitere Erörterung vertragen: etwa wenn im Anschluss an Krings (und gegen Neuhaus) unbedingte Freiheit als Bedingung der Möglichkeit vorausgesetzt wird, sich als Ich zum Andern zu verhalten. Da dies hier eben nur vorausgesetzt wird, greift auch die Alternative »Nietzsche oder Fichte« (61 ff.) zu kurz. Die »transzendentallogische« Voraussetzung von Freiheit kann einen genuin theologischen Freiheitsbegriff nicht ersetzen.
B. J. Clarets Aufsatz »Die der Struktur unserer Lebenswelt von Haus aus inhärenten Irritationen und das Böse« (67–116) ist überwiegend im feuilletonistischen Stil gehalten und theologisch wenig konzentriert. Zwar finden sich gute Denkanstöße für ein allgemeines Bildungsgespräch über die Verantwortung Gottes für das Böse. Zum Beispiel wird diskutiert, inwiefern Schöpfung als Eingrenzung von Chaos zu verstehen ist. Doch mangelt es mitunter an der begrifflichen Präzision einer wissenschaftlich theolo­gischen Durchdringung. Das gilt z. B. für einen Satz wie: Die Schöpfung »scheint zeitweilig die Entstehung des Bösen zu unterstützen« (104). Die Erbsünde wird als »Schuldbedrohtsein« (103) verharmlost.
W. Breuning, Christus macht dem Menschen den Menschen kund. Zur Verwurzelung des »Erbsünden«-Themas in der Soteriologie (117–151), stellt, wie anders Greshake, in unprätentiöser Sprache ein Gesamtkonzept zum Verhältnis von menschlicher Erlösungsbedürftigkeit und Christusheil vor. Er geht nicht unbedingt auf aktuelle Diskussionen und Literatur ein, sondern nimmt sich die souveräne Freiheit, die bleibenden Sachprobleme zu bedenken. Eine These (wie sie evangelisch auch z. B. von Jüngel oder Gestrich vertreten wird) ist, dass die radikale Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, wie sie die Erbsündenlehre thematisiert, letztlich nur vom Christusheil, von der Erfahrung der Liebe (125 ff.) her zu verstehen und zu bekennen ist. Aber setzt die Vergebungszusage nicht schon hermeneutisch die Selbsterkenntnis des Sünders voraus? Bisweilen streift Breuning fast den Ton lutherischer Theologie – in der kreuzestheologischen Pointierung des Christusheils oder auch in der Bestimmung der Erbsünde als Unfähigkeit, zu glauben (148.151). Andererseits versteht er mit Trient Konkupiszenz als Begierde, die als solche Versuchung ist – gegen das reformatorische Verständnis, welches ein verkehrtes, nämlich das andere Geschöpf für sich gebrauchendes Begehren als unausweichliche andere Seite des Nichtglaubenkönnens, also der wirklichen (Erb-)Sünde versteht. Auch mit der reformatorischen Erfahrung, dass selbst der Getaufte immer wieder in diese Struktur zurückfällt, kann Breuning wenig anfangen.
L. Wenzler, Nicht Erbsünde, sondern Erbverwundung – doch ebenso Erbgnade (153–171), vertritt die These, dass von Erbsünde nicht die Rede sein kann – zu Recht werden die »unglücklichen Konsequenzen« des biologistisch missverstandenen Begriffs im Volksglauben diagnostiziert (164 ff.). Die Kritik am Begriff ist allerdings wirklich nicht neu und begegnet seit der Aufklärung. Aufschlussreich ist jedoch die Weise, in der Wenzler sie aus einer tri dentinischen Sündenlehre ableiten kann. Wenn die bleibende Bedeutung der Ursünde in den »Unheilsfolgen« gesehen wird (157), etwa in der Konkupiszenz als Neigung zur Sünde oder in einem »Zustand« (»Befindlichkeit«, »Disposition«), der noch nicht »Tat« ist (159–161), dann ist das gut semipelagianisch – und es wundert nicht, wenn in diesem Verständnis auch die Gnade durch »Annahme« zum »Zustand« oder Besitz wird (168 f.). Anders als z. B. bei Breuning fehlt ganz das Bewusstsein, dass der Gedanke einer allgemeinen Ursünde (wie auch immer ihre Allgemeinheit zu denken ist) im Unterschied zur Tatsünde die als Selbstvollzug zu denkende Konstitution des Subjekts aller Taten betreffen könnte.
Fazit: Stoff für die zeitgenössische Diskussion gibt am ehesten der Beitrag von Menke. Darüber hinaus sind insbesondere die Beiträge von Greshake und Breuning, auch wenn sie keine neuen Spitzenthesen vortragen, theologisch gehaltvoll, orientierend und rundum lesenswert.