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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

891-892

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Treier, Daniel J.

Titel/Untertitel:

Virtue and the Voice of God. Toward Theology as Wisdom.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2006. XVI, 278 S. gr.8°. Kart. US$ 30,00. ISBN 978-0-8028-3074-6.

Rezensent:

Christoph Ammann

Was Theologie ist, was sie mit Kirche und Glaube zu tun hat, welcher Ort in ihr der Schriftauslegung zukommt, worauf theologische Ausbildung abzielt, das sind gewiss keine Fragen, die im deutschsprachigen Kontext undiskutiert geblieben wären. Dass aber in der nordamerikanischen theologischen Landschaft darüber seit Jahrzehnten eine höchst lebendige Debatte im Gange ist, in der eine Polyphonie von Stimmen zu hören ist, wie sie wohl im deutschsprachigen Raum doch eher ungewohnt ist, dessen wird gewahr, wer dieses Buch von Daniel Treier liest. Der presbyterianische Theologe, Professor am Wheaton College in Illinois, unternimmt darin den Versuch, ein weisheitliches Theologieverständnis zu entwickeln.
Das Stichwort Weisheit oder phronesis bildet dabei die Klammer um zwei thematische Blöcke, die laut T. in der englischsprachigen Theologie ausgiebig, jedoch zumeist unabhängig voneinander diskutiert wurden: einerseits die Frage nach der Eigenart christlicher Theologie und theologischer Ausbildung, andererseits die hermeneutische Diskussionen um eine genuin theologische Schriftauslegung. T.s Absicht ist es, diese zwei Diskussionszusammenhänge aufeinander zu beziehen. Dies spiegelt sich auch im Aufbau des Buches wider: In Teil 1 – überschrieben mit »Education and the Nature of Theology« – entwickelt T. im Dialog mit einer Fülle theologischer Gesprächspartner (E. Farley, D. Kelsey, G. Lind beck, R. Hütter sowie neben vielen anderen sein Doktorvater K. Vanhoozer) ein tugendorientiertes Verständnis von Theologie. Eine der wichtigsten Akzentsetzungen von T. ist dabei, dass er Theo­logie als eine (auf Heiligung zielende) Bildungspraxis versteht, die nicht nur einigen wenigen »Auserwählten« oder be­sonders Gebildeten vorbehalten ist, sondern als Antwort auf Gottes Ruf eine Berufung jedes Christenmenschen darstellt: »Theology is … communicative praxis, of response to God that enriches self and others by learning to live wisely« (183), wobei die »Weisheit« dieses Ethos dezidiert christozentrisch gefasst wird. Stets ist dabei T.s Anliegen spürbar, die Gegensatzpaare scientia versus sapientia, Akademie versus Kirche, Theorie versus Praxis als problematische Al­ternativen zu diagnostizieren und zu unterlaufen. Freilich schließt dies nicht aus, dass T.s Akzent durchwegs auf dem jeweils zweitgenannten der erwähnten Begriffe liegt.
In Teil 2 – unter dem Titel »Interpretation and the Nature of Wisdom« – wendet sich T. (bibel)hermeneutischen Fragen zu. Auch Schriftauslegung versteht er konsequent als eine Praxis, in der der Tugend der phronesis eine zentrale Bedeutung zukommt. Strukturell durchaus analog zum ersten Teil geht es T. auch hier darum, Alternativen wie Wissenschaft versus Weisheit, Objektivität versus Erbauung, kritisch-bibelwissenschaftliche versus an der regula fidei orientierte Schriftauslegung zu unterlaufen. Sein wichtigster Gesprächspartner ist hier S. Fowl mit seinem Werk Engaging Scripture. Im Anschluss an ihn plädiert T. dezidiert für eine theologische, im kirchlichen (community-)Kontext situierte Schriftauslegung der Bibel als Wort Gottes.
Diese skizzenhaften Bemerkungen werden dem Reichtum von T.s Buch nur ansatzweise gerecht. Die Vielfalt der behandelten Themen auf vergleichsweise engem Raum, die ausgewogenen und differenzierten Urteile sowie der breite theologische und philosophische Horizont beeindrucken. Freilich wird auch dem Leser einiges abverlangt. Die unzähligen Zitate und Verweise – die Endnoten nehmen nicht weniger als 46 Seiten in Anspruch! – machen die Lektüre zeitweise mühsam. Die Fülle der verarbeiteten Literatur mag imposant sein, der Transparenz der Argumentation ist sie nicht immer dienlich. Angesichts der vielen, höchst differenziert geführten Debatten über theologische Ausbildung, biblische Theologie, theologische Schriftauslegung, Kanon etc., in die T. sich einmischt und in denen er sehr nuanciert Position bezieht, verliert man als Leser manchmal die Orientierung. Mancherorts wünschte man T. mehr Mut zur eigenen theologischen Urteilskraft, über die er ohne Zweifel verfügt. Dieses Manko der Arbeit, das wohl auch dem Faktum geschuldet ist, dass es sich bei diesem Buch um die überarbeitete Fassung seiner Dissertation handelt, kann aber den positiven Gesamteindruck nicht trüben.
T.s Buch hält eine Fülle von Anregungen bereit. Nicht zuletzt kann es den Sinn dafür schärfen, wie anders theologisches Nachdenken sich in anderen soziokulturellen Kontexten vollzieht. Für viele Theologietreibende an hiesigen Fakultäten wird ein Verständnis von Theologie als weisheitlicher Praxis, die im Kern darin besteht, die Tugend zu entwickeln, auf Gott zu hören und seinem Ruf zu folgen, ungewohnt klingen. So liegt vielleicht nicht der geringste Wert der Lektüre dieses Buches darin, dass sie die Sensibilität für das Unselbstverständliche am eigenen theologischen Selbstverständnis schärft.