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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

889-891

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Palaver, Wolfgang, u. Petra Steinmair-Pösel [Eds.]

Titel/Untertitel:

Passions in Economy, Politics, and the Media. In Discussion with Chris­tian Theology.

Verlag:

Wien-Münster: LIT 2005. 524 S. m. Abb. 8° = Beiträge zur mimetischen Theorie, 17. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-8258-7822-1.

Rezensent:

Philipp Stoellger

In der Reihe Beiträge zur mimetischen Theorie legen die Herausgeber mit diesem Band die Beiträge einer Konferenz von 2003 »on Violence & Religion« vor (8). In drei Teilen wird die Relevanz von passions erstens in der Ökonomie, zweitens in der Politik und drittens in den Medien behandelt. Statt diese drei kulturellen Formen als Bereiche von Rationalität allein zu rekonstruieren, soll gezeigt werden, wie und welche passions am Werk sind. Den Horizont bildet die Frage nach der religious dimension der passions (8). Leitend ist durchgängig René Girards Theorie der Mimesis (bzw. des mime­-tischen Begehrens) als »framework for the whole debate« (9). Ihm zufolge richten sich human desires immer auf Gott oder solche zeitlichen Güter, die zu Idolen geworden seien (ebd.). Damit wird die Augustinische Unterscheidung von uti (der zeitlichen Güter) und frui (der ewigen) aufgenommen und kulturhermeneutisch bzw. -kritisch verwendbar.
Der Leitfunktion der Theorie Girards entsprechend wird der Band mit einem Beitrag zu »The Passionate Oxymoron in Romeo and Juliet« eröffnet (17–34). Wenig überraschend sieht der Autor in Shakespeares Stücken überall die mimetic passions am Werk, d. h. die kulturgenetische These wird wiederentdeckt und (zirkulär?) bestätigt. Über das Bekannte hinaus führt die Interpretationsfigur des Oxymoron: »Juliet is a living oxymoron: as a lover she blesses Ro­meo; as Tybalt’s cousin she curses him« (23). Dieser Wi­derstreit der Gefühle führt in die (literaturwissenschaftliche) Hermeneutik von paradoxen, ambivalenten und gemischten Gefühlen, was für die Emotionsforschung relevant werden könnte, wenn es weiter ausgeführt würde.
Der erste Teil »Passions in Economy« konzentriert sich (indes) auf envy in ökonomischen Zusammenhängen (im Anschluss an E. Fehr, 7): Simon Gächter und Christian Thöni, »Envy, Status, and Econ­omy: An Empirical Approach« (37–65), zeigen empirisch, dass der homo oeconomicus kein rein rational agierendes Wesen ist, sondern bestimmt wird von passions wie envy und status seeking. So sei weniger die absolute Höhe des Einkommens wichtig als vielmehr, dass es höher sei als das des Nachbarn. Diese empirischen Einsichten seien allerdings nicht einfach zu affirmieren: »Humans are not always the slaves of their passions but can and in fact often do use reasoning and rules to control the passions«, wofür Religion und Moral relevant seien (62). – Petra Steinmair-Pösel, »Economy and Mimetic Theory« (67–84), interpretiert diesen Erweiterung und Kritik des homo oeconomicus mit Girards Theorem des mimetischen Begehrens, das sich hier als passend erweist. – Eric Gans, »The Market and Resentment« (85–102), interpretiert die Ökonomie auf dem Hintergrund von Mauss als Tauschprozess, der vergemeinschaftet und sich um ein sacred center organisiert. Das eigentliche Problem heute sei »the integration into the market system of those who reject it«, also die Überwindung des anti-market resentment, dessen archetype angeblich der Antisemitismus sei (101). – Wolfgang Palaver, »Envy or Emulation: A Christian Understanding of Economic Passions« (139–162) versteht den Neid als »driving wheel« der modernen Welt, insbesondere der Ökonomie, wie die Werbung illustriere (E. Fehrs Altruismusstudien spielen hier keine Rolle). Es sei in der Tat Neid, nicht nur das Streben (emulation), denn deren Differenz sei im Kapitalismus verloren gegangen (141), wie er in Auseinandersetzung mit Hobbes zeigt (141 ff.). Biblisch hingegen sei envy ein Resultat der »deviation of our religious longings«, die uns von Natur aus zu eigen seien (150). Dem ersten Gebot zu folgen sei daher die Möglichkeit, den dangerous temptations zu widerstehen (151, hier wäre ein Blick auf Luther weiterführend). Entsprechend riet Thomas von Aquin zur imitatio Jesu, um Neid zu vermeiden (153 f.). Nur scheint das im Blick auf die moderne Ökonomie wenig hilfreich. Aber im Sinne der katholischen Soziallehre warnt Palaver vor der »exclusive occupation with worldly goods« (155). – Michael Beaudin und Jean-Marc Gauthier, »The Uncontrolled Return of the Passions in the Economical and Political Sacri­ficial ›Soteriology‹ of Our Times: Theological Perspectives« (175–195), verstehen den ökonomischen Liberalismus und die begleitende militärische Gewalt als soteriologisch aufgeladen und durch passions befördert, um salvation zu versprechen. Dagegen sei die sakramental konzipierte Soteriologie des Christentums die passende remedy, weil »only love can save from violence« (194).
Der zweite Teil »Passion in Politics« wird eröffnet von Jean Bethke Elshtain, »Passion and Politics: An Augustinian Perspective« (199–213). Er argumentiert für die irreduzible Verflechtung von passions and reason im Feld der Politik, indes mit der Andeutung, dass letztlich die caritas leitend werden solle (212, vgl. 209). Die folgenden Beiträge (Jean-Pierre Dupuy, Panic and the Paradoxes of the Social Order, 215–233; Stefano Tomelleri, Are we Living in a Society of Re­sentment?, 235–252; Bruce Ward, Transforming Passion into Compassion: Rousseau and the Problem of Envy in Modern Democracy, 253–272; Stephen L. Gardner, Democracy and Desire in The Great Gatsby, 273–293; Raymund Schwager, The Innsbruck Research Projekt and the Israeli-Palestinian Conflict, 295–305) behandeln in sehr verschiedenen Beispielen durchgängig die Frage nach Präsenz, Performanz und Relevanz von passions in politischen Kontexten, stets mit Affiniät zur Theorie Girards und dem Band entsprechend mit Ansätzen zur moralischen Unterscheidung und Ordnung der passions. Für die kritische Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus und Alternativen in Fragen der Demokratietheorie ergeben sich wichtige Anregungen, die allerdings nicht politiktheoretisch weitergeführt werden. Stattdessen wird dieser Teil beschlossen von Graham Ward, The Body of the Church and Its Erotic Politics (307–327). Da die Seele stets embodied und enmattered sei (308 ff.), sei die profundeste Form der Kommunikation die Berührung (touch, 314.317 f.). Auf diesem Hintergrund deutet er (mit Joh 6,51 ff.) ekklesiologische Konsequenzen an: »I embody Christ’s body and this body embodies mine« (321), als Partizipation an ihm (323). Der body of the church sei bestimmt von der erotic relation to Christ: »In the erotic politics that constitutes the embodied ekklesia, a thin line separates truth claim from wish, revelation from projection, the eternity of conviction from the contingency of orgasm. To live in Christ and for Christ to live in us leaves each and all walking on water.« (326) Die Konsequenzen für Emotionstheorie, Ökonomie, Politik und Theologie im Besonderen sind allerdings in dieser Andeutung kaum absehbar.
Der dritte und letzte Teil, »Passions in the Media« (331–508). Rafael Capurro (Passions in the Internet, 331–343), setzt sich mit Pekka Himanen, »The Hacker Ethik«, auseinander, dessen passionierte Ethik im Unterschied zu Webers Konzept der protestantischen Arbeitsethik steht: die »passion of communication« als »angeletic passion« (338) im Horizont des gegenwärtigen »mediatic nihilism« (339). Die passions des Internets seien »passions of speaking« (341). Die Faktizität dieser Beobachtungen wird andeutungsweise ethisch unterschieden, wenn der Vf. u. a. für »silence in the face of verbosity« (ebd.) plädiert. – Michael Jindra, The Passions of Electronic and Media Alternate Universes (423–446), beschreibt die zunehmende Tendenz, in der Freizeit in Alternativuniversen zu fliehen (z. B. in Online- und Videospiele). Dem kontrastiert er das christliche Alternativuniversum der Liturgie, das nicht zur Flucht vor der Realität führe, sondern zur Vergemeinschaftung und zum Zugang zur Welt (439 f.).
Thomas Böhm, The Media as Myth? The Modern Media Communication Culture and Its Structures: An Inquiry from a Theological Perspective (463–487), analysiert die postmoderne Medienreligion als »Sacred is what serves me« (465 ff.) und »Aestheticization and the shift of transcendency« (467 ff.), um sie von der Inkarnation als »central theological hermeneutics« her zu kritisieren (475 ff.). Das »responsible testifying to God« sei »The task of constructive and active criticism« (482 ff.). – Józef Niewiadomski, Extra Media Nulla Salus? Attempt at a Theological Synthesis (489–508), beschließt den Band mit einem Beitrag zu den modernen AV-Medien, die die human desires befriedigten im Versprechen universalere Vergemeinschaftung. Aber diese Medien liefen Gefahr »the nightmare of cyber-Constantinism« zu kreieren und die Opfer der Medien zu exkludieren (489). Das liege an der »unredeemed structure of human desire« (ebd.) – der gegenüber die »Salvation in the Church« als Lösung entworfen wird (491 ff.). Nur in einer konkreten Gemeinschaft wie der Kirche finde sich der wahre Vorgeschmack des Himmels, nicht im Cyberspace (507).

Viele der Beiträge folgen einer Logik der Gegenbesetzung: Während in der Ökonomie Neid herrsche, sei die Kirche (welche? inwiefern?) die passende Alternative; während in der Politik Macht und Gewalt regierten, sei die Kirche (immer?) anders und von Mitleid etc. be­stimmt. Während die Medien eskapistische Emotionstechniken offerierten, sei die Kirche (stets?) gegenläufig an Vergemeinschaftung und Verantwortung orientiert. Letztlich erscheinen die passions – deren Differenzierung und Systematik man vermisst – zwar als anthropologisch irreduzibel, aber de facto in den drei Kulturbereichen von Ökonomie, Politik und Medien stets als verfehlt (im Sinne der perversio mit augustinischem Klang). Erst im Kontext der (katholischen?) Religion ergibt sich die (Er-)Lösung von dieser prekären Lage. Girard erscheint als Diagnostiker der destruktiven Dynamik des mimetischen Begehrens und damit als kulturhermeneutischer Hamartiologe. Damit erscheint der Band so aktuell wie anregend. Über die Konzentration auf Neid, Girard und die Mimesis hinaus ist er materialreich und bezieht theologische Traditionen recht unmittelbar auf Gegenwartsdiskurse, allerdings distinkter als die radical orthodoxy mit der reflektierten Methodik Girards.