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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

886-888

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Kunstmann, Joachim, u. Ingo Reuter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sinnspiegel. Theo­logische Hermeneutik Populärer Kultur.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2009. 280 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-506-76674-8.

Rezensent:

Andreas Kubik

Der Sammelband ist einem Verständnis von Kulturhermeneutik verpflichtet, das sich besonders auf die Erhebung der religiösen Signatur heutiger Medienerzeugnisse konzentriert. Zugleich möchte er ein Defizit, das dieser Perspektive innewohne, ausgleichen. Die ambitionierte Einleitung der Herausgeber (9–18) gibt darüber Auskunft: Infrage stehe nicht mehr die »Religionshaltigkeit« (12) der modernen Kultur selbst, sondern zu klären sei vor allem die »Frage theologischer Deutung solcher Religionshaltigkeit« (12). Angestrebt wird eine eigene inhaltliche Stimme der Theo­logie im Konzert der Wissenschaft von der Popkultur. Dementsprechend sollen in ihrem Band keine weiteren »Einzelanalysen, sondern zusam­menfassende hermeneutische Perspektiven und Querschnitte vorgelegt werden« (16). Die Bedeutung, die sie dieser Entscheidung zumessen, könne gar nicht unterschätzt werden: Theologie habe nur dann eine »Existenzberechtigung ..., wenn sie einen spezifischen Beitrag zur Interpretation und Gestaltung der Le­benswelt einbringt, der so nicht von anderen Wissenschaften geleistet wird« (9).
Das Buch gliedert sich in vier Hauptteile. Der erste versammelt vier grundlegende Beiträge zur »Hermeneutik« von Ulrich Körtner, Dietrich Korsch, Hans-Martin Gutmann und Michael Meyer-Blanck, die ihre bekannten Positionen noch einmal wiederholen. Dabei wird an eine Reihe grundlegender Fragen erinnert: Widerspricht die Aktivität des Deutens nicht der Passivität des Glaubens? (Körtner, 22) Steht die aus der Populärkultur rekonstruierte »faktische Dogmatik« in Konkurrenz zum Christentum? (Korsch, 45) Sind die Erfahrungsaufbereitungen der Popkultur propädeutisch für die christliche Mitteilung nutzbar? (Gutmann, 61) Ist ein weiter Religionsbegriff theologisch überhaupt aussagekräftig? (Meyer-Blanck, 68) Statt dass allerdings die Diskussion dieser Fragen energisch vorangetrieben würde, bleibt es weitgehend beim Austausch altbekannter Argumente. Dass die vier Positionen überdies von miteinander nicht zu vereinbarenden theologischen Ansätzen herkommen, erscheint insofern ungünstig, als der Band ja eigentlich nicht den Diskussionsstand markieren, sondern bündeln und fortführen wollte.
Der zweite Hauptteil unter dem Titel »Wahrnehmung und Ausdruck« liefert überwiegend sensible Beobachtungen zu alltäglichen popkulturellen Phänomenen. Thomas Erne (79–94) gewinnt dem halb totinterpretierten Thema Hollywood-Kino noch einige neue Aspekte ab. Harald Schroeter-Wittke (95–110) deutet das Re­zeptionsverhalten von Popmusik, Uta Pohl-Patalong (111–126) Werbeslogans und Ratgeberliteratur, Markus Buntfuß (127–138) den Sport. Gemeinsam ist diesen Beiträgen, dass sie mit ebenso großer Kenntnis wie einem spürbaren Interesse an den Phänomenen geschrieben wurden. Im dritten Hauptteil, überschrieben mit »Strukturen«, wird versucht, Anschluss an neuere kulturwissenschaftliche Debatten zu finden. Andrea Bieler (141–158) erschließt mit dem Ritual- und dem Kultbegriff die Fußballfans, Christoph Quarch (159–171) im Anschluss an den Mythosbegriff des Altphilologen Walter Otto den Starkult. Manfred Pirner (173–186) plädiert für eine Rechtfertigung der Unterhaltung, welche gleichwohl theologische Kriterien »für ›wirkliche‹ bzw. ›gute‹ Unterhaltung« (183) bereitstellen möchte. Diesen Aufsätzen ist gemein, dass die Wahrnehmungssensibilität immer wieder von der Sorge um die Erkennbarkeit des theologischen Profils gekontert wird. – Aus dem Rahmen fällt der Beitrag von Rolf Schieder, der unter dem Titel »Civil Religion« (187–198) eine sehr bedenkenswerte, aber gar nicht hermeneutisch orientierte Polemik gegen die zivilreligiöse Funktion des neuen Berliner Ehrenmals der Bundeswehr abliefert. Der letzte Hauptteil behandelt »die großen Fragen«. Hier werden Songs, Ro­mane, Werbeanzeigen und vieles andere mehr darauf hin untersucht, was sie zu den Themen »Gott und das Leid« (Johannes Schwanke, 201–219), »Liebe, Leidenschaft und Tod« (Klaas Huizing 221–231), »Körper, Stil und Identifikation« (Ingo Reuter, 233–246), »Glück und Sehnsucht« (Joachim Kunstmann, 247–262) sowie »Erlösung und Sinn« (Wilhelm Gräb, 263–277) zu sagen haben. Zum Teil wird dabei deutlich, dass theologische Kulturhermeneutik ihre Leistungsfähigkeit weit unterschreitet, wenn sie auf ein bloßes Erheben von Sinnbeständen und anschließende »theologische« Stellungnahme reduziert wird. Sie kann vielmehr auch ein Motor zur Weiterentwicklung religiöser Sprache, ja selbst der Dogmatik sein. Schwanke etwa zeigt überzeugend, dass in der Popmusik die Theodizee-Frage sensibler behandelt wird als im neueren litur­-gischen Gebrauch der Psalmen (218 f.). Kunstmann entwirft ein kleines Umformungsprogramm (261 f.), welches die Dogmatik an­schlussfähiger an die moderne Kultur machen könnte.
Alles in allem hinterlässt der Band gemischte Gefühle. Er stellt einerseits recht verlässlich derzeit gängige Positionen, Ansätze und thematische Bezüge zusammen und gibt insofern einen guten Überblick über den Stand der Dinge. Andererseits kann er – gerade im Lichte der Ansprüche, welche die Einleitung erhob – nicht verhehlen, dass er eine gewisse Stagnation der Debatte dokumentiert und diese nicht wirklich voranbringt.
Woran liegt das? Neben der fehlenden Auseinandersetzung mit der inzwischen florierenden philosophischen Kulturhermeneutik, welche eine Reihe neuer Impulse setzen könnte, möchte ich vor allem zwei Gründe vermuten: Zum einen ist der methodische Zu­gang noch nicht wirklich geklärt. Viele Beiträge verfahren faktisch nach diesem Viererschritt: 1. Wahrnehmen von popkulturellem Sinn; 2. Versichern, dass man nicht vorschnell sündentheologische Einwände machen wolle; 3. gleichwohl Aufweisen von reli giösen Ambivalenzen im Phänomen; 4. Überbieten von der christlichen Tradition her. Die Beschreibung oder Auslegung – die etwa nötigen phänomenologischen Anteile einer »Hermeneutik« der Popkultur wären auch einmal entschlossen zu erwägen – des Phänomens bricht in meinen Augen oft zu früh ab und wird auf ihre Passförmigkeit zu einer christlichen Stellungnahme hin zurechtgemodelt: »Antiaging-Cremes, plastische Chirurgie, Viagra kämpfen für die Unsterblichkeit des Menschen als Körper« (Reuter, 245) ist z. B. eine Auslegung, die gewiss nicht den – obendrein sehr heterogene n– Phänomenen als solchen abgelesen ist. Man kann das unter »Offenlegen von Erkenntnisinteressen« verbuchen, aber oftmals verbirgt sich dahinter schlicht eine Polemik gegen lebensweltliche Deutungspraxis sowie eine Apologetik bestimmter christlicher Grundaussagen.
Zum anderen bleibt der vorausgesetzte Theologiebegriff un­klar. Das Insistieren auf einem originären inhaltlichen Beitrag der Theologie führt zu mitunter doch recht eigenartigen Einschätzungen dessen, was Theologie erkennt, leistet und begreift. So liege etwa in der relativierenden Kraft der Eschatologie »ein wesentlicher Beitrag der Theologie zum hermeneutischen Diskurs« (Körtner, 33) – nur dass dieser davon vermutlich gar nichts weiß. Solche Stellen, in denen der Theologie ein angeblich unverzichtbarer Beitrag für ein interdisziplinäres Gespräch beigemessen wird, gibt es eine ganze Reihe (vgl. 12.124.171.204.259 u. ö.). Gravierender ist aber, dass damit Schleiermachers Grundeinsicht, dass theologisches Wissen funktional und nicht inhaltlich bestimmt ist, stillschweigend umgangen ist: Kenntnisse sind theologische nur durch die Beziehung auf die regelgeleitete Fortentwicklung des Christentums; ohne diesen Bezug fallen sie »der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte nach angehören« ( Kurze Darstellung, § 6). Die Suche nach einem »originären« theologischen Beitrag führt in meinen Augen nicht weiter. Stattdessen müsste die Frage lauten: Was fängt man theologisch eigentlich mit dem kulturhermeneutischen Wissen an?