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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

879-881

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Müller, Jörn

Titel/Untertitel:

Willensschwäche in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus.

Verlag:

Leuven: Leuven University Press 2009. 809 S. gr.8° = Ancient and Medieval Philosophy. Series 1, 40. Lw. EUR 135,00. ISBN 978-90-5867-752-5.

Rezensent:

Risto Saarinen

Die aristotelische Willensschwäche (akrasia, incontinentia) be­zeichnet eine Situation, in der ein Mensch wider besseres Wissen handelt (Nikomachische Ethik 7, NE). Im Rahmen der sokratischen intellektualistischen Handlungstheorie wird das Problem diskutiert, ob genuine Willensschwäche überhaupt möglich ist. Auf der anderen Seite hat man besonders in der älteren Literatur gedacht, dass Willensschwäche ein selbstverständliches Phänomen ist, wenn man die voluntaristische Freiheit des Willens voraussetzt. In seiner philosophischen Habilitationsschrift beschreibt Jörn Müller ausführlich die Problemgeschichte der Willensschwäche in der abendländischen Philosophie bis Johannes Duns Scotus.
Obwohl die Geschichte der Willensschwäche schon in vielen Spezialstudien behandelt worden ist, kann M.s Arbeit viele Forschungslücken füllen und ältere Annahmen korrigieren. Neben Sokrates, Platon und Aristoteles kommen Euripides und die Stoa zur Sprache. Ein Kapitel ist der paulinischen Theologie gewidmet. Von den Kirchenvätern werden Origenes und Augustinus detailliert untersucht. Weil M. die exegetischen und patristischen Spezialstudien stets berücksichtigt, kann er theologische Fragen im Kontext seiner Darstellung oft einleuchtend kommentieren.
Von den mittelalterlichen Autoren werden Anselm von Canterbury, Peter Abaelard, Bernhard von Clairvaux, Thomas von Aquin, Heinrich von Gent und Johannes Duns Scotus berücksichtigt. Andere Scholastiker, z. B. Siger von Brabant, Walter von Brügge, Petrus Johannis Olivi und Johannes von Pouilly, werden kurz erwähnt. Einige spätmittelalterliche Autoren (Geraldus Odonis, Johannes Buridan, William Ockham) werden nicht eigens untersucht. Während frühere Darstellungen der mittelalterlichen Willensschwäche auf die Kommentare der NE bezogen bleiben, zeigt M. die gesamte philosophisch-theologische Breite der scholastischen Diskussion. Seine wertvollen Textanalysen wachsen zur ersten wirklich umfassenden Darstellung der mittelalterlichen Willensschwäche heran. Einige Ergänzungen bietet der von M. zusammen mit Tobias Hoffmann und Matthias Perkams herausgegebene Sammelband Das Problem der Willensschwäche in der mittelalterlichen Philosophie (Leuven 2006).
Weil M. nicht einfach Begriffsgeschichte treibt, sondern philosophische Problemgeschichte schreibt, berücksichtigt er eine Reihe von Diskussionen, in denen die Begriffe akrasia bzw. incontinentia nur selten oder gar nicht vorkommen. Auf diese Weise kann er drei schwierige Themenbereiche einbeziehen, die zwischen dem antiken Aristotelismus und der Scholastik die Problemgeschichte weitertreiben. Diese sind 1. die stoische Handlungstheorie, deren akratische Züge oft am Beispiel des Verhaltens von Medea erörtert werden, 2. der paulinische Konflikt zwischen Geist und Fleisch und 3. Augustinus’ Darstellung des zerrissenen Willens. Obwohl diese Themen in der Forschung ausführlich behandelt worden sind, kann M. ihre komplexen Beziehungen mit seiner gesamten Problemgeschichte auf innovative Weise schildern.
M.s Analyse von Röm 7 ist ein Musterbeispiel dieses Verfahrens (vgl. auch seinen Aufsatz in ZNW 100 [2009], 233–246). Während Rudolf Bultmann und viele andere Theologen den Apostel »antipsychologisch« lesen und keine Fortsetzung der philosophischen Diskussion bei Paulus annehmen wollen, weist M. nach, dass gerade eine solche Argumentation oft die kognitivistische Handlungstheorie von Sokrates voraussetzt, bei der »die sittliche Defizienz des faktischen Wollens sich mangelnder Erkenntnis verdankt« (219). Ebenfalls verwenden solche exegetischen Positionen, die Röm 7 einfach als Retrospektive der menschlichen Situation deuten, eine implizit kognitivistische Handlungstheorie, die die sündige Exis­tenz als Unwissenheit auffasst. So enthält die antiphilosophische Exegese unbeabsichtigte intellektualistische Abhängigkeiten im Bereich der Handlungstheorie.
M.s eigene Exegese von Röm 7 setzt voraus, dass erstens der Mangel des »Ichs« an Erkenntnis nicht den Handlungsgegenstand betrifft, sondern das Selbstverständnis des Akteurs im bewusst vollzogenen Tun des Schlechten (221). Obwohl M. die Perspektive ex post in Röm 7 teilweise annimmt, will er zweitens auch festhalten, dass die paulinischen Formulierungen nicht nur als nachträgliche Bewertung zu verstehen sind, sondern dass sie auch das präsentische Nichttun des richtig Bewerteten betreffen (219). Obwohl der Konflikt deswegen nicht rein »kognitivistisch« ausgelegt werden kann, ist es aber drittens auch keineswegs eine Beschreibung von irrationalen Affekten und Trieben (238). Es geht Paulus letzten Endes um eine klarsichtige Willensschwäche, die nur theologisch, d. h. mithilfe der Sündenlehre, erklärt werden kann (239–240). So ist diese Willensschwäche gegen einen sokratischen Optimismus in der Handlungstheorie gerichtet. Dabei geht es Paulus aber nicht um eine bewusst philosophische Stellungnahme, sondern er be­nutzt geläufige Themen der hellenistischen Philosophie, um seine eigene Theologie verständlich zu machen (241). Philosophisch gesehen ist Röm 7 deswegen letzten Endes nicht sehr ergiebig, weil die Sünde zu einem zweiten Handlungssubjekt wird und das Problem des machtlosen Ichs nicht philosophisch beleuchtet. Obwohl dieses Ergebnis kaum alle Neutestamentler überzeugt, sind M.s konstruktive Vergleiche zwischen exegetischen und philosophiegeschichtlichen Diskussionen oft sehr einleuchtend.
Ebenfalls nuanciert behandelt M. die Willenslehre von Augustinus. Wie viele andere Forscher nimmt er einen Wandel im augustinischen Freiheitsverständnis wahr, den er so deutet, dass wenigs­tens bis Confessiones eine Art von Kompatibilismus (358) möglich ist, und zwar so, dass der zerrissene Wille trotz der determinierenden Macht der Sünde eine gewisse Autonomie und Zuschreibbarkeit besitzt. Die späte Gnadenlehre von Augustinus zerstört aber diesen Kompatibilismus und entartet zu einer philosophisch uninteressanten Position, in der der Mensch nicht mehr selber der Wollende ist (361). Philosophisch wertvoll sei aber die augustinische Neufassung des Problems der Willensschwäche anhand der Pluralität der verschiedenen Willensinklinationen (362). Auch hier be­rücksichtigt M. sorgfältig sowohl die philosophischen als auch die theologischen Forschungsbeiträge zu Augustinus.
Nach diesen sehr wertvollen Ergebnissen bleibt m. E. eine ebenfalls eingehende Analyse der frühchristlichen Willensstärke noch als Desideratum. Paulus und Augustinus verstehen die christliche Existenz nicht nur im Rahmen der sündigen Willensschwäche, sondern auch als eine gnadenhafte Existenz, bei der der Wille stärker wird und wenigstens äußerlich und partiell gute Handlungen hervorbringen kann. Auch Röm 7 kann so ausgelegt werden, dass Paulus dort als relativ willensstarker Christ redet. Eine entsprechende Analyse der paulinischen und augustinischen Willensstärke könnte M.s Bild der christlichen Handlungstheorie ergänzen. Die Einbeziehung der Sünde macht christliche Handlungstheorie gewissermaßen unphilosophisch, wie M. überzeugend zeigt. Ob die Einbeziehung der Gnade dieses Problem ausgleichen kann, bleibt noch zu fragen.