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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

877-879

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hödl, Hans Gerald

Titel/Untertitel:

Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2009. XVI, 634 S. gr.8° = Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, 54. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-018443-3.

Rezensent:

Andreas Urs Sommer

Wie hängen Leben und Werk miteinander zusammen? Die intellektuelle Produktivität eines Menschen lädt dazu ein, hinter seinen Produkten einen biographischen Glutkern, ein Leben und dazu passende Lebensumstände auszuwittern, die diese Produkte erklären sollen. Aber was heißt »erklären«? Inwiefern »erklärt« Friedrich Nietzsches gewiss nicht alltägliche Biographie sein Werk? Gerade im Fall Nietzsches ist derart viel Schindluder bei der Reduktion des Werkes auf biographische Umstände getrieben worden, dass sich viele Interpreten mittlerweile eine rigide Biographieaskese auferlegt haben und Nietzsches Denken so deuten, als wüssten sie gar nichts von seinem Leben. Allerdings ist auch diese biographieasketische Interpretationspraxis nicht vor Kurzschlüssen gefeit. Anders verfährt deshalb Hans Gerald Hödl, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Wien, in seiner Berliner Habilitationsschrift. Wie kaum ein anderer ist er dazu prädestiniert, Werk und Leben Nietzsches in nicht-reduktiver Weise aufeinander zu beziehen. Als jüngerer Vertreter der Wiener Schule in der Nietzsche-Forschung, für deren ältere Generation Jörg Salaquarda (dessen Andenken H.s Buch auch gewidmet ist) und Johann Figl (vgl. ThLZ 133 [2008], 188–190) stehen, hat H. jahrelang die Edition von Nietzsches Aufzeichnungen aus der Kinder- und Jugendzeit im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe mitbestimmt.
Ein Interessenschwerpunkt der Wiener Schule liegt bei Nietzsches Auseinandersetzung mit Religion in mannigfachsten Ausprägungen. Entsprechend ist die Themenstellung von H.s monumentalem Buch programmatisch: Es untersucht systematisch die Zusammenhänge von Nietzsches Selbstthematisierungen und seiner Religionskritik. Dabei erscheint ihm das Leben immer auch als Quelle des Werkes, wobei das nicht bedeutet, dass Quellenforschung als Erforschung von Einflüssen und Lektüren die eigent­-liche Interpretation ersetzen könnte. Selbstthematisierung wiederum erscheint – obwohl man mit Nietzsche ja durchaus auch postmoderne Subjektauflösungstheorien zu verbinden pflegt – als ein bestimmender Zug von Nietzsches Denkweg. Er wollte von seinem schreibenden Ich nicht wie das Œuvre mancher anderer Philosophen ( de nobis ipsis silemus) absehen, sondern benutzte von Ju­gendtagen an das Schreiben auch zur Modellierung des eigenen Selbst. Dabei arbeitete er sich – und das ist der Einsatzpunkt von H.s Analysen – schon früh an religiösen Rollenvorbildern ab, modifizierte sie und stellte sie in neue Kontexte.
Eine breite Auseinandersetzung mit jenen Interpretationen, die Nietzsches Sozialisation zum Ausgangspunkt gewählt haben, steht am Beginn von H.s Buch. Es zeigt bei großer Aufmerksamkeit für die Textgestalt von Nietzsches frühesten Aufzeichnungen, wo die Ansätze von Alice Miller, Jørgen Kjaer und Hermann Josef Schmidt tragfähig sind und wo sie zu kurz greifen. H. verweigert sich dabei einfachen Kausalitätsannahmen zwischen Leben und Werk, plädiert stattdessen für genaue Textlektüren und Kontexterhellungen, die insbesondere auch die Adressatenbezogenheit vieler früher Texte einschließen. Dabei verblüfft immer wieder seine stupende Kenntnis noch der entlegensten Notizen des Kindes und des Jugendlichen Nietzsche. Folgerichtig werden Nietzsches Selbstthematisierungen während seiner Gymnasialzeit als Ausdruck eines Bildungsprogramms verstanden, das sich schon weitgehend von den familiären protestantischen Vorgaben emanzipiert hat. Das kann H. aus Nietzsches erster Autobiographie von 1858 ebenso erheben wie aus seinem »frühe[n] skeptische[n] Manifest« (207) Fatum und Geschichte.
Ein zweiter Schwerpunkt von H.s Buch ist die Rekonstruktion der »biographischen und theoretischen Fundierung von Nietzsches Religionskritik« (251 ff.). Hier kommen die Studienerfahrungen zur Sprache, die Relevanz der Philologie und die Beschäftigung mit David Friedrich Strauß sowie insbesondere mit Schopenhauer, zu dem Nietzsche sich bald schon in eine pointierte Gegenposition begab. Ins Herzstück von Nietzsches Religionskritik dringt dann der dritte Hauptteil vor, der die »Möglichkeiten des Menschseins« (361) nach der Diagnose vom »Tod Gottes« ausloten will. Natürlich steht da die berühmte Parabel in der Fröhlichen Wissenschaft (Aphorismus 125) im Zentrum, aber auch hier setzt H. auf Kontextualisierung: Er weist nicht nur die Verbindung der Narrengestalt in dieser Parabel zu Nietzsches Selbstthematisierungen auf, sondern zeigt, welche Spuren der Tod Gottes bereits lange vor seiner Proklamation in Nietzsches Schriften und Aufzeichnungen hinterlassen hatte. Hier wirft H.s Untersuchung ihren reichsten Ertrag ab.
Etwas weniger umfassend sind H.s abschließende Ausführungen zu Nietzsches Spätwerk von 1888. Er verzichtet auf eine umfassende Interpretation von Ecce homo, Nietzsches Selbstthematisierungswerk schlechthin, sagt stattdessen einiges zur Textkonstitution und zu den diversen geplanten Titeln dieses Werkes und resümiert dann noch Nietzsches Selbstmodellierung als Jünger des Dionysos und rätselhaftem Liebhaber der Ariadne sowie seine fa­miliäre Selbstgenealogisierung im Blick auf das décadence-Problem, das ihn 1888 umgetrieben hat. Den typologischen Charakter dieser Selbstthematisierungen arbeitet H. scharf heraus und be­tont zugleich, dass Ecce homo in Nietzsches Sicht der Vorbereitung für die »Umwerthung aller Werthe« hätte dienen sollen – ein Projekt, das Nietzsche schließlich mit Der Antichrist vollzogen zu haben meinte. Entsprechend hätte es nahegelegen, dieser typologischen Selbstthematisierung schlechthin, nämlich als Antichrist, große Aufmerksamkeit zu schenken. Zwar führt H. das eine oder andere zum Wort und Titel »Der Antichrist« aus (528 f.), aber doch kaum etwas zum Werk dieses Namens selbst, zu dem Ecce homo eben nur die Vorbereitung sein sollte. Ist Der Antichrist womöglich in der Logik von Nietzsches Gesamtwerk seine finale Selbstthematisierung? Man hätte sich, anders gesagt, in der Darstellung von Nietzsches späten Selbstthematisierungen womöglich weniger die kleinteilige Rekonstruktion von Figuren oder Masken der Selbstthematisierung (Dionysos, Zarathustra, décadent) gewünscht als vielmehr Aufschlüsse über die Bedeutung dieser Selbstthematisierungen für das Verständnis der späten Werke als Ganze. Es irritiert, dass H. im letzten Teil seines Buches jene Kontextualisierungsanstrengung unterlässt, die sich als so bedeutsam für das Verständnis früherer Werkpartien herausgestellt hat. Als »grundlegenden Ge­danken« hatte H. zu Beginn seines Buches im Blick auf »die genetische Interpretation von Nietzsches Werk« hervorgehoben, »dass in Nietzsches Entwicklung eine Transformation d[…]er Motive stattfindet und Nietzsche im ständigen Bezug auf seine früheren Ansichten zu neuen Gesichtspunkten vorstößt« (22). Den (übrigens gut erschlossenen) Kontext von Nietzsches Religionskritik im Spätwerk, namentlich Nietzsches exzessive Lektüre von Dostojewskij, Tolstoij und Renan, blendet H. aus, so dass der Horizont, in dem Nietzsche sich 1888 zu Religion und religionskritischer Überlieferung positioniert, als zentrale Interpretationshilfe entfällt. Die Schwierigkeit, dass H. dazu neigt, Nietzsches spätere Entwicklung noch immer von frühen Lektüreerfahrungen (Schopenhauer, Strauß) bestimmt zu se­hen, hatte sich schon vorher in seinem Buch bemerkbar gemacht, etwa da, wo H. auf Nietzsches Kritik am »prophetisch-priesterliche[n] Judentum« zu sprechen kommt (327–330) und dabei außer Acht lässt, dass diese Kritik mitunter wortwörtlich auf Julius Wellhausen gründet – für den übrigens ein »prophetisch-priesterliches Judentum« ein Unding gewesen wäre, da die Propheten ja gerade als radikale Kritiker des Priestertums aufgetreten sein sollen. Unter Ausklammerung solcher Diskussionszusammenhänge wird man auch die leidige Frage, mit der sich H. an der fraglichen Stelle beschäftigt, nämlich ob Nietzsche ein Antisemit oder vielmehr ein Anti-Antisemit gewesen sei (für H. war er Letzteres), schwerlich einer historisch ausgewogenen Antwort zuführen können.
Diese Detailkritik soll aber nur deutlich machen, dass H. mit seinem Buch eine sehr hohe Latte für die Erörterung der Zusam­menhänge zwischen Leben (zu dem auch Lektüren gehören!) und Werk gelegt hat – eine Latte, die er weit überwiegend bravourös meistert. Wer Nietzsches Leben und Werk exemplarisch unter einem bestimmten Gesichtspunkt zusammengedacht finden will, wird künftig zu H.s Buch greifen.