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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

875-876

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hedley, Douglas

Titel/Untertitel:

Living Forms of the Imagination.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2008. X, 308 S. gr.8°. Kart. £ 24,99. ISBN 978-0-567-03295-9.

Rezensent:

Malte Dominik Krüger

Der renommierte Platonist aus Cambridge legt mit dieser Studie eine Monographie vor, die ein sowohl systematisches als auch historisches Interesse verrät. Der Fluchtpunkt der Überlegungen ist die Einsicht: Die menschliche Imagination (»Bildlichkeit«) im Sinn von Vorstellungsgabe, Einbildungskraft und Kreativität unterscheidet den Menschen vom Tier. Und genau diese Imagination kann zum Zentrum einer philosophischen Theologie werden, welche die Einseitigkeiten der analytischen und phänomenologischen Tradition auch in ihren theologischen Spielarten von reduktivem Naturalismus und religiösem Offenbarungspositivismus vermeidet. An­gesichts dieses Programms verwundert es kaum, dass für H. die cusanische Methode der rechenschaftsfähigen Mutmaßung leitend ist, teilt doch schon der cusanische Leitbegriff der »Konjektur« in seiner bildaffinen Bedeutung mit dem griechischen Begriff des »Symbols« die etymologische Bedeutung des »Zusam­menwerfens« beziehungsweise »Übereinkommens«. Damit ist auch schon auf H.s gedankliche Grundfigur angespielt, deren Nähe nicht nur zu der Romantik, sondern auch zu Cusanus, Hegel und Schelling unverkennbar ist: Gerade die bildliche, symbolische Vergegenständlichung Gottes durch den Menschen, so H., kann als Selbsterscheinung Gottes ansichtig werden. In der Kreativität des Menschen scheint seine schöpferische Bildlichkeit auf, die ihn als Bild Gottes erkennen lässt. Diese Grundfigur wird in acht Kapiteln plausibilisiert.
Das erste Kapitel (9–37) stellt eine Deutung des geistesgeschichtlichen Gebrauchs der Imagination dar. Entscheidend dürfte im Sinn von H. sein, dass nach Platon der Gebrauch von Mythen dafür spricht, dass die Imagination die Grenzen des diskursiven Denkens überschreitet, ohne deswegen abwegig zu werden. Die Imagination wird vielmehr zu dem Erscheinungsort des Ideellen, dessen Bildhaftigkeit in der platonischen Tradition mitunter gegen artifizielle Bilder ausgespielt werden konnte. Das zweite Kapitel (39–78) kommt aus psychologischen, metaphysischen, erkenntnistheoretischen und ästhetischen Erwägungen zu der These: Imagination von Kreativität ist das entscheidende Menschheitskriterium, das seinerseits mit der theologischen Einsicht der Gottesebenbildlichkeit des Menschen verknüpft werden kann. Der Mensch ist das »imaginative animal« (39). Im dritten Kapitel (79–113) und im vierten Kapitel (115–142) treten die geistesgeschichtlichen Bezüge insbesondere auf die englischen Romantiker William Woodsworth und Samuel Taylor Coleridge, aber auch auf den deutschen Idealisten Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in den Vordergrund. Inhaltlich wird so die symbolische Verfasstheit des Religiösen fokussiert. Das fünfte Kapitel (143–172) geht der ethischen Dimension des Konzepts der Imagination nach: Das übernatürliche »Sollen« der Ethik zehrt gewissermaßen von dem motivierenden Entwurfscharakter des Bildlichen. Das sechste Kapitel (173–209) und das siebte Kapitel (211–244) thematisieren die narrative Kraft der Imagination – und erkennen letztlich darin das Potential eines buchstäblich inspirierten Verständnisses von Of­fenbarung. Das achte und letzte Kapitel (245–276) geht der Imagination in den soziokulturellen und geschichtlichen Dimensionen nach: Das Leben von Gemeinschaften ist nachhaltig von Symbolen, Erinnerungszeichen und Bildern geprägt, die mitunter tief verborgen eine unbewusste Prägekraft entfalten. Nach H. sollte dabei der strukturelle Einfluss des Christlichen in unserer Welt nicht übersehen werden.
Ingesamt legt H. eine elegant komponierte Studie vor, die sich gut lesen lässt und nachvollziehbar in der These von der Imagination als dem Begegnungsort von Gottheit und Menschheit kulminiert. Die zahlreichen und kenntnisreichen Bezüge mit glänzenden Einzelbeobachtungen werden in Registern gut erschlossen. Doch die eigentliche Bedeutung von H.s Publikation liegt m. E. noch an anderer Stelle. Dies ergibt ein Blick auf die gegenwärtige Dis­kussion in der Bildtheorie, in der eine analytische, phänome­nolo­gische und anthropologische Richtung unterschieden werden können.
Die analytische Bildtheorie, wie sie maßgeblich von Charles S. Peirce, Nelson Goodman und Oliver R. Scholz inspiriert ist, be­trachtet das Bild grundsätzlich wie die Sprache als ein primär kommunikatives Zeichensystem. Für die phänomenologische Bild­theo­rie aber, wie sie maßgeblich von Maurice Merleau-Ponty, Jean-Luc Marion und Bernhard Waldenfels inspiriert ist, stellt das Bild einen Gegenstand der Wahrnehmung dar, dessen sichtbare Eigenschaften strukturell nicht in einen lesbaren Text oder eine besondere Bedeutung übersetzbar sein müssen. Und die anthropologische Bildtheorie, wie sie maßgeblich von Hans Jonas, Vilém Flusser und Hans Belting inspiriert ist, sieht das Spezifische des Bildes in seiner existentiellen Menschlichkeit und das Spezifische des Menschen in seiner Bildlichkeit: Nicht das Sprechen, sondern die schon bei Kant prominente Einbildungskraft zeichnet den Menschen aus und in der Bildproduktion wird die weltdistanzierende Freiheit des Menschen sich selbst anschaulich. Die Rede vom geistigen und materiellen Bild ist daher keine bloße Namensgleichheit. Vielmehr geht es in beiden Fällen um das Bewusstsein von etwas, das – wie im Film oder in der Vorstellungskraft – in seiner Abwesenheit ge­genwärtig ist. In dieser Form realisiert das menschliche Bewusstsein seine Freiheit in der Welt und gegenüber der Welt. M. E. wird diese dritte, anthropologische Bildtheorie mit der von H. vorge­legten Theorie der Imagination nochmals er­weitert, nämlich um eine absolutheitstheoretische Dimension: Das Besondere des Bildes wird dann angemessen verstanden, wenn es als göttliche Erscheinung im Menschen beziehungsweise des Menschen gedeutet wird. Damit wird die Gottheit vornehmlich als Kreativität und Freiheit an­schaulich.
Sollte diese Beobachtung stimmen, dann dürfte die Bedeutung von H.s Entwurf kaum zu unterschätzen sein, insofern er im freien Anschluss an Cusanus und Schelling sowie die Romantik zeigt: Es ist eine absolutheitstheoretische Bildtheorie diskutabel und denkbar.