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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

872-875

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hauser, Linus

Titel/Untertitel:

Kritik der neomythischen Vernunft. Bd. 2: Neomythen der beruhigten Endlichkeit. Die Zeit ab 1945.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2009. 783 S. gr.8°. Geb. EUR 128,00. ISBN 978-3-506-75670-1.

Rezensent:

Jürgen Manemann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Hauser, Linus: Kritik der neomythischen Vernunft. Bd. 1: Menschen als Götter der Erde. 1800–1945. Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2004 (2., korr. u. bearb. Aufl. 2005). 513 S. gr.8°. Geb. EUR 104,00. ISBN 978-3-506-77602-0.


Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Menschen scheint angebrochen zu sein. Posthumanisten und Transhumanis­ten verkünden eine neue Menschwerdung. Lebensverlängerungs- und Unsterblichkeitstechniken, Nanotechnologie, maschinelle Intelligenz etc. sollen den Eintritt in ein neues Weltzeitalter ermöglichen. In einer solchen Situation tut kritische Reflexion Not. H. hat eine »Kritik der neomythischen Vernunft« entwickelt, die nach den Grundstrukturen von Wissenschaft, Wissenschaftsgläubigkeit und religionsförmigen Neomythen Ausschau hält. Das Projekt ist auf drei Bände angelegt: Der erste Band »Menschen als Götter der Erde. 1800–1945« stellt eine Grundlegung dar. Der zweite Band »Neomythen der beruhigten Endlichkeit. Die Zeit ab 1945« bietet in erster Linie eine große Sammlung der Sciencefiction-Literatur. Der dritte Band wird sich kritisch mit den Fiktionen heutiger Leitwissenschaften beschäftigen. Mit Gilbert Keith Chesterton lässt sich das gesamte Projekt wie folgt auf den Punkt bringen: »Wenn die Leute aufhören, an etwas zu glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern an alles.« H. gelingt es aufzuzeigen, dass die sog. objektiven Wissenschaften den Boden für neue Mythen bereiten.
In der Moderne beginnt der Mensch damit, die Zwecke neu und selbst zu setzen, und er »erarbeitet sich selbst die Mittel, die er braucht, um diese Zwecke zu erreichen« (I, 16). Im Zuge dieses Transformationsprozesses werden die herkömmlichen Religionen zunehmend marginalisiert. Stattdessen werden alternativ religionsförmige Neomythen entwickelt. Die »Kritik der neomythischen Vernunft« zeigt nun auf, dass diese Neomythen sowohl zu den »Alltagsfantasien des ›Durchschnittsmenschen‹ als auch zu den wissenschaftsheuristischen Leitideen vieler Vertreter der technologischen Elite« (I, 23) gehören. Dabei zielt die Analyse auf den kulturellen Kontext, der eine solche Religionsförmigkeit hervorbringt.
H. setzt mit dem Ende des 18. Jh.s an. Es ist die Zeit, in der eine »Wissenschaftsfundierte Technik« entsteht. Sie erst vollzieht den Prozess der Hominisierung der Welt als einen Prozess der Um­wandlung derselben. In den diversen religionsförmigen Neomythen drückt sich nun dieses neue Selbst- und Weltverständnis aus. Zu ihren Charakteristika gehört die Negation sowohl der Endlichkeit als auch des Verwiesenseins auf eine transzendente Instanz. »Autotheosis«, Selbstvergöttlichung, ist das Stichwort, er­g­änzt durch »Theopoiesis«, das ist die aktive Entfaltung eines unbewussten kosmischen Absoluten.
Im ersten Band (I) wird eine Theorie religionsförmiger Neomythen entwickelt, mit der H. ein Instrumentarium liefert, das es erlaubt, die Geschichte der Neomythen zu sezieren: Was ist eine Weltanschauung, was Religion, Mythos etc.? Weltanschauung ist s.E. eine »(b)ewusst ergriffene Lebensorientierung«, die aus einem »Längeren Gedankenspiel« hervorgeht und eine »Kulturelle Inkubationszeit« besitzt.
Durch den religionsförmigen Neomythos wird die Endlichkeit des Menschen durch menschliche Mittel real aufgehoben. H. stellt dar, wie Wissenschaft eine eigene Wissenschaftsgläubigkeit hervorbringt. Er bietet umfassende Ausführungen über den Mesmerismus und Spiritismus. »Der Spiritismus sucht nicht, wie etwa die Theosophie oder das spätere New-Age-Denken, nach einer andersartigen Überwissenschaft, sondern nur nach einer empirisch gesicherten Ausweitung der zeitgenössischen erfahrungswissenschaftlich Prämissen auf den jenseitigen bzw. übersinnlichen Bereichen.« (I, 277) »Der Glaube an die moderne Wissenschaft bringt also nicht nur eine religionsförmige Wissenschaftsauffassung, sondern auch eine wissenschaftsförmige Religiosität hervor.« (I, 278)
H. entwickelt den Gedankengang weiter über die Theosophie von Helena Blavatsky und die Ariosophie hin zu den neopaganen Orden und der Weltanschauung Adolf Hitlers. Dabei ist er sich der Unterschiede wohl bewusst: »Hitler steht – wenn er seine Längeren Gedankenspiele betreibt – im Kontext des völkischen und auch im engeren Sinne ariosophischen Denkens, spiegelt aber auch die technische Aufbruchstimmung ab 1871 wieder, die wir anhand der zeitgenössischen Science-fiction kennen gelernt haben. Ein fantastischer Technikglaube an die Ankunft einer weltbewegenden Er­findung (wie ihn die Science-fiction ausmalt) verbindet sich mit der Orientierung an einer ariosophischen Mythologie, die Hitler realpolitisch transformiert. Es handelt sich hier um Einflussdimensionen, welche die religionsförmig-religiöse Mentalität in völkischen Kreisen prägen und die Hitler in realpolitische Form gießt.« (I, 457)
Der Absolutismus der Wirklichkeit lässt in der Moderne eine Angst entstehen, die man dadurch zur bewältigen versucht, dass man sie in Furcht überführt: »Benennbares, Einzelnes, Furchterregendes wird aus der Vielfalt der Wirklichkeit ausgesondert, damit der Rest der Wirklichkeit nicht mehr bedrohlich ist, sondern verfügbar wird.« (II, 31) Von hier aus analysiert H. nun die empfindungsorientierte Erlebnisform der Moderne, und zwar vor dem Hintergrund eines Konsum- und Leistungszwangs. Ergänzend verweist er auf den erkenntnistheoretischen Relativismus, der Produkt der Legitimitätskrise der Wissenschaft ist. Diese Situation ist der Nährboden für Neomythen der »Wissenschaftsfundierten Technikkultur«. Im Hauptteil des zweiten Bandes bietet H. ein umfassendes Panorama religionsförmiger Neomythen der modernen Sciencefiction und ihrer verschiedenen Vergemeinschaftungsformen.
Er zeigt, dass die zunehmende Legitimationskrise der Wissenschaften diesen Trend zur Ausbildung religionsförmiger Neomythen forciert. Die soziokulturellen Prozesse unterstützen das Aufkommen dieser Religionsformen. Es ist die Konsum- und Leis­tungskultur, die ein Selbstbild fördert, das sich weniger durch kritische Reflexion ausbildet, sondern fantastische Erzählungen mit Bezug auf »Wissenschaftsfundierte Technikvorstellungen« entwi­ckelt. Zu Recht warnt H. davor, dies als Spielerei abzutun: »Wenn wir in einer Welt leben, in der populäre Film- und Erzählstoffe nicht nur den so genannten Mann auf der Straße ansprechen, sondern auch zu Längeren Gedankenspielen von hochkarätigen Wissenschaftlern werden und darüber hinaus möglicherweise auch noch zu deren Forschungsprogrammen, dann ist es an der Zeit, derartige Entwicklungen ernst zu nehmen, und d. h. zunächst einmal, sie zur Kenntnis zu nehmen.« (II, 713)
H. ist mit seiner voluminösen »Kritik der neomythischen Vernunft« ein großes Wagnis eingegangen. Ziel ist es, die Grundmuster religionsförmiger Neomythen herauszuarbeiten, die die religiöse Tiefengrammatik der wissenschaftlich-technischen Zi­-vilisation darstellen. Ein solches Forschungsprogramm bedarf his­torischer, philosophischer, theologischer, soziologischer und wissenschaftstheoretischer Kenntnisse. Die damit einhergehende Inter- und Transdisziplinarität machen dieses Werk zu einer Pflichtlektüre religions- und kulturwissenschaftlicher Studien. Es wäre ein Leichtes, in diesem gewaltigen Unternehmen Schwachstellen und auch hier und da Fehler nachzuweisen. So sind beispielsweise die Ausführungen zur Leistungskultur und auch zu den philosophischen Positionen im zweiten Band nicht nur sehr allgemein. Sie sind auch nicht auf dem neusten Stand der Forschungen. Ärgerlich ist die Darstellung der postmodernen Denker. Hier wäre weniger mehr gewesen. Dies alles wird hoffentlich in Fachgesprächen zu erörtern sein. Aber all diese Schwächen schmälern nicht die enorme Leistung, die hier erbracht worden ist. Es gibt viele wissenschaft­liche Arbeiten, die sich mit esoterischen und neomythischen Denkformen und Gruppen auseinandersetzen. Bislang vermisste man jedoch eine Abhandlung, die in einem Großentwurf eine Schneise in das Dickicht der auseinanderdriftenden Detailforschungen zu schlagen wagt. Dies ist H. mit seinen beiden Bänden bereits gelungen.
Es ist zu wünschen, dass auf der Basis dieser beiden Bände und hoffentlich auch bald des dritten Bandes ein groß angelegtes Forschungsprojekt entsteht, das sich mit der Frage befasst, inwiefern die moderne aufgeklärte Welt mit ihrer Wissenschaft ein vernünftiges Universum ist. Leider sind beide Bände nur zu einem hohen Preis zu erwerben. Damit die Bücher nicht als Bibliotheksexemplare in den Bibliotheken verstauben, wäre der Verlag gut beraten, eine Studienausgabe zu drucken.