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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

861-863

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Kappel, Kai

Titel/Untertitel:

Memento 1945? Kirchenbau aus Kriegsruinen und Trümmersteinen in den Westzonen und in der Bundesrepublik Deutschland.

Verlag:

München-Berlin: Deutscher Kunstverlag 2008. 552 S. m. zahlr. Abb. 4° = Kunstwissenschaftliche Studien, 145. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-422-06739-4.

Rezensent:

Tim Lorentzen

Dieses Buch hat Gewicht – nicht erst seiner verlegerischen Größe und Ausstattung wegen, sondern schon durch den Umstand, dass es als kunsthistorische Habilitationsschrift weit über die Grenzen seines Faches hinausgreift und dadurch insbesondere der Kirchlichen Zeitgeschichte bedeutende Impulse zu geben vermag. Der Mainzer Architekturhistoriker Kai Kappel, seit Längerem durch Arbeiten zum mittelalterlichen Kirchenbau in Italien ausgewiesen, untersucht darin den absichtsvollen Umgang mit Kriegsruinen und Trümmermaterial zerstörter Kirchen im westdeutschen Sakralbau nach 1945: »War mit der sichtbaren Präsentation dieser Relikte nicht doch (oder auch) die Absicht einer Vergegenwärtigung des Vergangenen oder eines Memento verbunden? Eines Memento an die Vorgängerkirche und damit an die historisch-kulturelle Identität der Gemeinde oder, allgemeiner, an Krieg, Zerstörung, Entbehrung und Leid? Konnten im Einzelfall gar Verantwortung und Schuldempfinden mit solchen architektonischen Mitteln ausgedrückt werden?« (10)
Mit solcherlei Fragen nach einer Semantik so entstandener Kirchenbauten stellt K. seine Untersuchung in den Kontext jüngerer Bemühungen der Allgemein- und Kirchengeschichte, den Umgang der Deutschen mit Nationalsozialismus und Holocaust zwischen »Beschweigen« und »Bekennen« im Rahmen einer Geschichte des Erinnerns zu analysieren und zu periodisieren. Dass Autoren wie etwa Aleida Assmann, Edgar Wolfrum oder Norbert Frei, mit deren Arbeiten sich das gegenwärtige Interesse am Forschungsparadigma »Erinnerungskultur« im Besonderen verbindet, auch von K. in einleuchtender Weise zur Kontextualisierung seiner Befunde im Gedächtnishaushalt der westdeutschen Gesellschaft herangezogen werden, verleiht dieser architekturhistorischen Untersuchung eine ungewöhnliche interdisziplinäre Anschlussfähigkeit. Insbesondere die genuin kirchlichen Erinnerungskulturen im Blick auf die NS-Vergangenheit sind nach heutigem Stand noch zu wenig er­forscht. Das gilt etwa für die Geschichte der Thematisierung von Schuld und Buße nach 1945 ebenso wie für die Entwicklung kirchlicher Einstellungen zum politischen Widerstand. Insofern dürfte ein solches Quellenpotential von Kunst und Architektur, wie es K. mit seinen Fragen ins Spiel bringt, der sonst eher textorientierten Kirchengeschichtsschreibung höchst willkommen sein.
Für die Untersuchung wurde aus weit über 300 Objekten im Bundesgebiet ein Kernbestand von 60 Kirchen ausgewählt, der zusätzlich zum Baubefund durch intensive Literatur- und Archivstudien erschlossen wurde. Das Spektrum möglicher Verwendung von Kriegsrelikten wird im Hauptteil der Arbeit, einer mehr als 250-seitigen Dokumentation (Kapitel 4), bautypologisch klassifiziert: Unter den Kirchen, die Ruinenpartien, zerstörte Mauerteile oder auch nur Kriegsschadensstellen beim Aufbau nach 1945 in situ bewahrt haben, so dass der Ruinencharakter als notwendiger Bestandteil des neugeschaffenen Architekturkonzepts deutlich vor Augen stand, zum Teil sogar stadtbildprägend (Kapitel 4.1), dürfte die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nur das bekann­-teste Beispiel sein. Eine andere Klassifikationsgruppe bildet die Zweitverwendung von Trümmerresten, also der exponierte Einbau kriegsbeschädigter Spolien in neuen architektonischen bzw. liturgischen Kontexten, vor allem aber der Aufbau mit abgeputzten Trümmersteinen, zum Teil auch mit Trümmersplitbeton (Kapitel 4.2). Bekannt waren hier bislang vor allem die Notkirchen Otto Bartnings, deren Fertigbauteile mit örtlichem Trümmermaterial aufgemauert wurden; K.s differenziert angelegte Dokumentation erweitert den Blick hier beträchtlich. Nach der Darstellung von Kapelleneinbauten in fortbestehende Kirchenruinen (Kapitel 4.3) ist die umfangreiche Würdigung der Epigraphik (Kapitel 4.4) in diesem Zusammenhang besonders ergiebig und eröffnet quellenpragmatisch ebenfalls neue Horizonte. Zwei Exkurse (Kapitel 4.5–6) beschließen die Dokumentation: Wurden im Sakralbau historisch belastete Materialien und Objekte verwendet, etwa Baustoffe oder Reste nationalsozialistischer Architektur, aber auch zu liturgischen Zwecken umgestaltetes Kriegsgerät, so weist dieser Umgang ins Zentrum des Schuld- und Erinnerungsdiskurses. Vor allem das Gedenken an Orten des Verbrechens gestaltete sich bisweilen (Manching, Flossenbürg) unter demonstrativem Bezug auf die vorgefundenen Strukturen und Baumaterialien, denen durch die nachdrückliche Sakralisierung nunmehr ein dauerhafter Me­morialcharakter verliehen wurde. Der zweite Exkurs widmet sich Arrangements älterer Funde, etwa römischer Spolien, die nach dem Krieg neu verbaut wurden.
Der umfangreichen Dokumentation ist eine vergleichsweise knappe Gesamtwürdigung des Phänomens vorangestellt (Kapitel 1–3), in der Fragestellung und Vorgehen skizziert, der Bestand untersuchter Objekte vorgestellt, besonders aber die zeitgenössischen Deutungen sakralen Bauens mit Ruinen und Trümmermaterial aus den Äußerungen beteiligter Architekten erhoben und in einer Art Vorgriff auf die dokumentierten Einzelobjekte plausibel systematisiert werden. Leitfragen zielen zum einen auf Begründungs- und Interpretationsvarianten, zum anderen auf eine Perio­disierung solcher Bautätigkeit. Dabei vermeidet es K., die Trümmerverwendung voreilig als »Trauerarbeit« oder »tätige Buße« (23) zu generalisieren, und stützt sich konsequent auf überlieferte Äußerungen von Architekten, Auftraggebern und kirchlichen Interpreten; auch eine große Zahl von Zeitzeugengesprächen fand reflektierte Anwendung. Auf diese Weise kann der eingangs zitierte Fragenkomplex nach der Semantik solchen Bauens im Verlauf dieser Gesamtwürdigung und in der abschließenden Zusammenfassung (Kapitel 6) in einleuchtender Weise differenziert werden: Für die Verwendung von Trümmermaterial dürften zunächst einerseits ökonomische, anderseits ästhetische Gründe maßgeblich gewesen sein. Nur tertiär haben sich die zeitgenössischen Interpreten die verbauten Kriegsspuren und -relikte als Memento zu eigen ge­macht. In solchen Fällen wurde meist offen gelassen, woran genau eigentlich »erinnert« bzw. »gemahnt« werden sollte. Lediglich vereinzelt in den Besatzungsjahren und dann erst wieder vom Ende der 1950er Jahre an wurden Schuld und Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, nicht nur Leid und Aufbauleistung der jeweils eigenen Gemeinde, verstärkt in sakralarchitektonischen Kontexten thematisiert. Dieser Befund vermag aktuelle Periodisierungsmodelle der Allgemein- und der Kirchlichen Zeitgeschichte trefflich zu bestätigen, denen zufolge die Jahre nach den Staatsgründungen 1949 zunächst von einem rapiden Nachlassen anfänglicher Verantwortungsbereitschaft, von massiver Verdrängung und Verharmlosung der NS-Vergangenheit geprägt gewesen seien, bevor mit einer neuen Generation auch eine Phase aktiver »Vergangenheitsbewältigung« (Frei) eingesetzt habe. K.s ausdrück­liche Beschränkung auf Westdeutschland ist vor diesem Hintergrund völlig sachgemäß. Dennoch hätte man sich zumindest einen knappen Vergleich mit Bauprojekten in der SBZ/DDR vorstellen können; auch wäre ein Blick auf die Kathedrale zu Coventry, das Referenzobjekt in England, gewiss erhellend gewesen. Das sind aber keine Mängel.
Die opulente Ausstattung ist ebenso überzeugend wie der Inhalt. Die 250 exzellenten Abbildungen, meist von K. selbst, hätten freilich gern durch weitere Pläne ergänzt werden dürfen, da der Gesamteindruck einzelner Ensembles nicht immer evident aus den Fotos hervorgeht. Auch eine Karte wäre nützlich gewesen. Der umfangreiche und hochinformative Anhang vereint rund 50 Biogramme beteiligter Architekten, über 3000 Anmerkungen, eine Bibliographie mit rund 300 Archiv- und Gesprächsreferenzen und über 2000 Einträgen gedruckter Literatur sowie Orts- und Personenregister. Wirklich ein Schwergewicht, das sich jeder kirchengeschichtlichen Bibliothek empfiehlt.