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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

859-861

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Tietz, Claudia

Titel/Untertitel:

Johann Winckler (1642–1705). Anfänge eines lutherischen Pietisten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 407 S. m. Abb. gr.8° = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 50. Geb. EUR 72,00. ISBN 978-3-525-55836-2.

Rezensent:

Dietrich Blaufuß

Die Teilbiographie über den Hamburger Geistlichen Johann Winck­ler (1642–1705) thematisiert einen wichtigen Bereich der »Anfänge des Pietismus«. Sie gehört in einen Kranz von Arbeiten über Theologen und Juristen um Philipp Jacob Spener und diesen selbst. Eine Erlanger Dissertation Paul Schattenmanns von 1920/21 über den Rothenburger Superintendenten Johann Ludwig Hartmann (1640–1680) hatte den Reigen eröffnet. Es folgten Studien etwa über Chris­tian Kortholt, Johann Philipp Seip(p), Gottlieb Spizel, Johanna Eleonora von und zu Merlau, Johann Jakob Schütz, Christian Scriver, Veit Ludwig von Seckendorf, Ahasver Fritsch, Spener, Johann Wilhelm Petersen, Johann Heinrich Horb – letztere drei ebenfalls Teilbiographien. Die genannten Gestalten sind zum Teil kaum als Pietisten zu bezeichnen (ganz abgesehen von Arbeiten über Spener sehr »verbundene« Gegner wie Johann Benedict II Carpzov oder Johann Friedrich Mayer). J. Winckler kommt epochenmäßig »zwischen der lutherischen Orthodoxie und dem Pietismus« zu stehen (13).
Der größere von zwei Teilen widmet sich dem Leben Wincklers bis 1678/79 (28–279). Die Darstellung des Weges von Döben in Sachsen über Schul- und Studienzeiten in Leipzig und – als Prinzeninformator – in Tübingen rückt immer die örtlichen Gegebenheiten (Region, Herrschaft, Kultur, Kirche etc.) ins Blickfeld. Allem Interesse an der Person Wincklers soll der Blick auf Strukturen, regionale Netzwerke, theologische Hauptthemen und unauffällige Vertreter »in der zweiten Reihe« entsprechen. Dies setzt sich fort bei der Darstellung von Wincklers Berufsstationen als Diakon in Homburg, Pfarrer in Braubach und Zweiter Hofprediger in Darmstadt. Die Vfn. scheut nicht – bei spärlich fließenden Quellen – den Weg der exemplarischen Quellen-Analyse (Leichenpredigt; geplante Doktor-Dissertation zu »Erbsünde«; 136–148 bzw. 93–107) oder die entschlossene Auswertung von indirekten Nachrichten über die erste Ehe Wincklers mit Elisabeth Magdalena von Lindau. Mit der Darstellung des Darmstädter Collegium pietatis, seiner Gründung, Zusammensetzung, der verschiedenen Auseinandersetzungen um diese Einrichtungen und Wincklers Verteidigung markiert die Arbeit ihren Beitrag zum frühen Pietismus, dessen Beginn eben nur im Plural – »Anfänge« – zu beschreiben ist. Klar herausgearbeitet wird das lutherisch-orthodoxe theologische Fundament, bei aller Zugehörigkeit zum frühen Pietismus (272 f.). Entschiedene Verteidigung der Collegia pietatis (nicht jedoch eines Chiliasmus) und tiefe Prägung durch die konfessionelle Theologie in Kursachsen sind festzustellen. Wincklers intensiver exegetischer Umgang mit der Heiligen Schrift verbindet sich mit der Frage nach dem prak­tischen Nutzen der Bibel für den einzelnen Christen (275). Das Ge­samtkonzept einer Reform der Kirche setzte bei der Gesamtchris­tenheit an. Das unterscheidet ihn in einem wichtigen Punkt von Spener (»ecclesiola«!).
Die Arbeit ist bei zukünftiger Beschäftigung mit »Anfängen« des Pietismus konstitutiv einzubeziehen. Orientierung an dem reformierten Gisbert Voetius in Fragen von Erbauungsversammlungen wollen nicht marginalisiert sein. Und die in der Tat zahlreichen persönlichen Beziehungen Wincklers zu Personen und Kreisen im beginnenden Pietismus auf verschiedenen Ebenen (Geistliche, Juristen, Universität, Adel) lassen den Raum immer konkreter und präziser deutlich werden, in dem Speners tragende Rolle bei der Konsolidierung des Pietismus möglich war.
Der zweite Teil der Arbeit (281–359) ist kein »Beiwerk«! Er ist die Aufforderung zur Fortsetzung nun über den Mannheimer, Wert­-heimer, vor allem aber den »Hamburger« Winckler. Von insgesamt rund 80 Veröffentlichungen Wincklers und 290 handschriftlich vorliegenden Stücken aus seiner Korrespondenz waren in der zu be­sprechenden Arbeit nur drei akademische Schriften, eine »Monographie«, zwei Epicedien und zehn Briefe die auf den ersten Blick einschlägigen Quellen. Diesen Rahmen hat die Vfn. natürlich in der Darstellung erheblich überschritten (362–371 »Quellen«). Aber Wincklers gedrucktes Werk und die ungedruckte Korrespondenz – für 1751 bis 1980 weist das Verzeichnis der gedruckten Briefe deutscher Autoren des 17. Jh.s ganze fünf Schreiben nach! – sind nun vorbildlich präsentiert: exakt wiedergegebene Titel (mehr und mehr durch VD 17 nachprüfbar und in Einzelfällen ergänzbar; zu 314 Nr. 5 s. 39: 15876R), gründlich biographierte Korrespondenten, klare Standortnachweise (ebenfalls zu vergleichen mit VD 17). Welch reichen Erkenntnisgewinn böten – etwa auch mit dem Calov betreffenden Projekt, PuN 22, 1997 – vergleichbare Korrespondenz-Übersichten z. B. zu V. L. v. Seckendorf, J. F. Mayer (Vorarbeiten vorhanden), G. Spizel (Vorarbeiten weit gediehen) und A. Fritsch!
Das Buch ist im Ganzen solide gearbeitet. Es fügt sich in den Forschungskontext einer immer wieder gemachten Unterscheidung von weitem und engem Pietismus ein und relativiert an Winckler zwischen Orthodoxie und Pietismus zugleich glatte Schematisierungen.
Stark ist der Rückgriff auf Spener-Briefe (diejenigen freilich an Winckler sind weitgehend verschollen und werden – bei 60 Winckler-Briefen – die Spener-Brief-Ausgabe für 1681 bis Mitte 1686 und 1689 bis 1701 wegen der großen Mehrheit der Briefe an Spener noch herausfordern). Gelegentlich wird ein »bislang unbekanntes Konvolut von den 12 Briefen Wincklers an ... Kortholt« zu Unrecht als »neuer Fund« bezeichnet: Die Quelle ist 1865 bekannt gemacht, mehrfach herangezogen (s. – bei der Vfn. wie auch Studien zu J. H. Seip, J. L. Hartmann [s. o.], J. Hülsemann, A. Calov nicht genannt – W. Halfmann: Chris­tian Kortholt. 1930, z. B. 12; die hier behandelte Frage Wincklers wegen Seelsorge an übergroßer Gemeinde ist in der Literatur vielfach thematisiert: D. B.: Korrespondierender Pietismus. 2003, 400). Nicht genannt ist der Empfänger des auf S. 94, Anm. 116, herangezogenen Briefes Speners: P. Berenberg/Hamburg (Spener: Schriften XV/1, 58*). Umstandslos wird das von Geffcken und Hans Leube J. F. Mayer zugeschriebene Hamburger Gesangbuch von 1700 nun Winckler zugeordnet (285 und 315,7). Die Kontroverse zwischen den Tübingern T. Wagner und J. A. Osiander zur Sabbatfrage ist wohl komplexer (s. 86, Anm. 77, wörtlich nach der angegebenen Quelle, 356, Anm. 10). Die Bemühungen um einen Nachfolger J. B. II Mentzers setzten bald nach dessen Tod am 28.7.1678 ein und richteten sich auch auf G. Spizel, J. U. Wild, J. L. Hartmann, nicht nur auf J. Winckler (220 mit Anm. 196, zu dem hier und 223, Anm. 215, genannten Brief [Kopie] vgl. D. B.: Reichsstadt und Pietismus. 1977 [150–166 zu Darmstadt 1678 ff.!], 159 f. u. ö.). Solche Einzelanmerkungen – wie auch ganz marginale Setzfehler (Namen sollten aber korrekt bleiben: J. Dieterich Winckler) – berühren nicht die Substanz des Buches.
Die Dissertation der Vfn. (2004 in Hamburg; Betreut durch Inge Mager) wird ihrer klar umrissenen Aufgabe gerecht: frühe Biographie Winck­lers und möglichst vollständige Sammlung der Quellen. Zukünftige Aufgabe bleibt es, anhand der Quellen (allermeist nach 1678) die Darstellung 1679–1705 zu wagen, also auch das bisher gültige Standardwerk J. Geffkens zu Wincklers Hamburger Zeit zu ersetzen. Dafür hat die vorliegende Arbeit in der angesprochenen doppelten Weise entscheidende Vorarbeiten geleistet. In der Erforschung des frühen Pietismus wird die Studie ihren Platz einnehmen.