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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

857-859

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Niemann, Arnold

Titel/Untertitel:

Paul Gerhardt ohne Legende. Untersuchungen zum gesellschaftlichen Umfeld Paul Gerhardts. Göttingen: V & R unipress 2009. 360 S. gr.8°. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-89971-541-5.

Rezensent:

Johannes M. Ruschke

Arnold Niemann, der von 1952 bis 1980 Pfarrer der evangelischen Gemeinde Mittenwalde gewesen ist, legt mit diesem Buch den Ertrag seiner 50-jährigen Forschertätigkeit vor. Die Publikation ist zunächst ausdrücklich zu begrüßen, da zum einen der Vf. bereits 1980 und 1984 wichtige Forschungsbeiträge über seinen berühmtes­­ten Amtsvorgänger veröffentlicht hat und zum anderen die wissenschaftlichen Arbeiten zu Gerhardts Werk und Wirkung im Jubiläumsjahr 2007 bisher quantitativ überschaubar ausgefallen sind.
Motivation für diese »soziologische« Untersuchung war der »Vorwurf« in Petrichs Biographie (1914), bei Gerhardt wäre von »kleinbürgerlicher Begrenztheit« bzw. »Zufriedenheit« zu sprechen, was der Vf. »als ärgerlich und diffamierend empfand« (15). Durch eine sorgfältige biographische Untersuchung des Berliner Bekanntenkreises Gerhardts versucht er die soziale Stellung Gerhardts aufzuzeigen. Der Vf. erhebt den Anspruch, dass erst durch seine Arbeit »eine sachgemäße Einordnung [Gerhardts] in das Berliner und Mittenwalder Bürgertum möglich« sei. Das zweite Ziel des Vf.s ist »eine detaillierte Darstellung der Religionsgespräche 1662/63 in Berlin, die viele Legenden als falsch entlarvt« (Umschlag).
Das Hauptaugenmerk legt der Vf. auf Gerhardts Mittenwalder und zweite Berliner Zeit. Seine Untersuchung beginnt mit den Eltern Gerhardts und endet unmittelbar nach dem Amtsverzicht in Berlin. Die konsequente chronologische Vorgehensweise er­schwert dabei an einigen Stellen die thematische Erfassung. Daher liest sich das Buch in vielen Teilen eher als eine Biographie denn als eine soziologische Untersuchung.
In den ersten drei Kapiteln zeigt der Vf. auf, dass nicht nur Gerhardts Elternhaus zu den »wohlhabenden und tragenden Familien« (20) Gräfenhainichens gehörte, sondern auch Gerhardt selber bis zu seiner Berufung als Propst nach Mittenwalde Kontakt zu Vertretern der hohen Gesellschaftsschicht besaß. Besonders gelungen sind Kapitel 3.3, 4 und 5.3, die sich durch eine akribische und detaillierte Darstellung der schwierigen (personellen) Zusammenhänge unter Einbeziehung der örtlichen Rechnungen und Kämmerei-Akten auszeichnen. Die zum Teil sehr ausführlichen Biogramme erhellen eindrucksvoll das Umfeld von Gerhardts erster Berliner sowie seiner Mittenwalder Zeit.
Der zweite große Abschnitt des Buches (Kapitel 5–11) ist neben den weiterhin detaillierten biographischen Einschüben der Nacherzählung des Berliner Kirchenstreites gewidmet. Der Vf. nennt den Konflikt – wohl in Anlehnung an Dreß (1980), mit dessen Wertungen der Vf. auch größtenteils übereinstimmt – »Kirchenkampf«, wobei unklar bleibt, ob dieser 1613 (138) oder 1658 (Kapitel 6 ff.) beginnt. Der Exkurs (135–158), welcher die Spannungen zwischen den Konfessionen historisch erläutern soll, bezeichnet die Lehrunterschiede als »Theologie der Diastase« und ist aufgrund seiner Kürze sowie seines Verzichts einer Darstellung der Entstehung und der praktisch-pfarramtlichen Folgen der konfessionsspezifischen Lehren nur bedingt geeignet, den entscheidenden theologischen Hintergrund der Streitigkeiten verständlich zu machen.
Das sechste Kapitel beschreibt die kirchenpolitischen Maßnahmen des Kurfürsten Friedrich Wilhelm, die der Vf. verkürzt als »Macht vor Recht« (177) beschreibt. Der zweiten entscheidenden Persönlichkeit, dem reformierten Hofprediger Bartholomäus Stosch, der »die Lutheraner aufs Tiefste verwundete und reizte« (180 f.) und dem »eine gewisse Hinterhältigkeit« nicht abgesprochen werden kann, ging es nicht um Eintracht, sondern um »Einheitlichkeit«. Gerhardt hatte sich als lutherischer Streittheologe par excellence gemeinsam mit seinen Pfarrkollegen gegen die Kirchenpolitik seines reformierten Landesherren, Kurfürst Friedrich Wilhelm, gewandt. Nach der Analyse einiger Leichenpredigten untersucht der Vf. die kurfürstlichen ›Toleranzedikte‹, die er als »eine klare Kampfansage« (215) an die Lutheraner bezeichnet, da einige Vorwürfe »an den Haaren herbeigezogen« und »wirklich schlimm« seien. An vielen Stellen weiß er, was Gerhardt gedacht, »nicht vergessen« (177) oder wie er sich gefühlt habe, jedoch ohne Belege aus den Quellen nennen zu können.
Anschließend erzählt der Vf. die Religionsgespräche von 1662/ 63, die der Kurfürst zur Befriedung der konfessionellen Situation einberufen hatte, anhand von Herings (1787) und Langbeckers (1841) Darstellungen nach. Er betont die hohe kirchenpolitische Bedeutung der Gespräche, deren Ziel »nicht eine geistliche Übereinkunft …, sondern die kirchliche Machtprobe, die Durchsetzung der kirchenpolitischen Linie des Kurfürsten als theologisches Schauspiel vor der Zurschaustellung hochrangiger Juristen und Diplomaten« (221) gewesen sei.
Auch im siebten Kapitel ist der Vf. um eine gründliche und chronologische Zusammenfassung der Geschehnisse nach den Gesprächen bemüht, die jedoch nicht frei von Fehlinformationen und fragwürdigen Thesen ist. So behauptet der Vf., der Vorwurf, dass die lutherischen Prediger unter anderem von der Kanzel die reformierte Lehre angriffen und verdammten, der »durch die Jahrhunderte auch von den Historikern als bare Münze und Realität genommen und geglaubt« wurde, stimme nicht; eine Behauptung, die durch zeitgenössische Quellen – auch Schriften Gerhardts (!) – problemlos widerlegt werden kann. Des Weiteren habe der Kurfürst bei seinen folgenden kirchenpolitischen Maßnahmen allein »Unterwerfung« verfolgt, denn »eine sachliche Auseinandersetzung wäre wahrscheinlich sehr peinlich für sie [den Kurfürst und die Geheimräte] ausgegangen« (272).
In den letzten vier Kapiteln, die den »Ausgang des Kirchenkampfes« und Gerhardts restliche Zeit in Berlin thematisieren, wird ebenfalls deutlich, dass der Vf. eine eindeutig prolutherische Stellung bezieht. So habe Gerhardt einen Feind am kurfürstlichen Hof gehabt. Der Kurfürst, dem »als Fernziel eine evangelisch-reformierte Einheitskonfession vorschwebte«, habe den Lutheranern mehrfach »Fallen« gestellt und erwartet, dass sich die Lutheraner »den reformierten Lehrsätzen anschließen« (236). Schließlich gehöre zur »böswilligen Art« der Reformierten, dass sie »mit unsauberen Mitteln arbeiteten« (235).
Anhand der Ratsbücher werden akribisch die Geschehnisse rund um Gerhardts Abschied aus Berlin dargestellt. Er nahm sein Amt nicht mehr auf, da er die Autorität von Schrift und Bekenntnis nicht antasten lassen wollte. Die brandenburgischen Kurfürsten hätten durchgehend versucht, »den Bekenntnisstand der lutherischen Kirche in ihrem Land durch diktatorische Maßnahmen tatsächlich zu verändern« (303).
Insgesamt ist es dem Vf. gelungen, anhand akribischer biographischer Darstellung des Umfelds Gerhardts aufzuzeigen, dass er sich in Berlin und Mittenwalde hauptsächlich in »großbürgerlichen Kreisen« (327) bewegte und darin – wie die Pfarrer im Allgemeinen – zur Führungsschicht gehörte. Es wäre jedoch zu wünschen gewesen, dass der Vf. die Begrifflichkeiten der sozialen Einordnung Gerhardts zu Beginn seines Buches soziologisch definiert hätte.
Bei aller Akribie hat das Buch einige Schwächen: Zunächst sind die Übersetzungen aus dem Lateinischen nicht immer sattelfest. Paraphrasierungen von Gerhardts Voten sind oft umgangssprachlich und an einigen Stellen als Zitat (!) gekennzeichnet (228). Das gebrauchte militärische Vokabular wirkt bei der Beschreibung der konfessionellen Streitigkeiten oftmals unangemessen. Zu kritisieren ist ebenso, dass der Vf. unabdingbare Forschungsliteratur ganz oder größtenteils übergangen hat (u. a. Schulz [1841], Beeskow [1984]), zudem ist der Forschungsstand fast durchgängig veraltet. So werden alle Forschungsbeiträge der letzten 20 Jahre (mit der Ausnahme von Bunners Biographie) nicht berücksichtigt! Unverständlich ist beispielsweise, warum der Vf. die Bio-Bibliographien von Noack/Splett (1997–2001) übergeht, die für viele der im Buch behandelten Personen entscheidende biographische Hinweise gegeben haben und die auch für eine sozialgeschichtliche Einordnung Gerhardts unabdingbar sind.
Das Hauptmanko dieses Buches liegt jedoch in der mangelnden Quellenbenutzung. Besonders evident wird dies in der Darstellung der Religionsgespräche von 1662/63, die gänzlich ohne Einsicht der Protokolle und Briefe auskommt. Dies ist umso erstaunlicher, als der Vf. ja gerade beansprucht, erstmalig Legenden im Zusammenhang des Kirchenstreites als falsch entlarven und fast die gesamte bisherige Forschung revidieren zu können. Zu neuen Erkenntnissen, welche die Erforschung der Religionsgespräche voranbringen könnten, gelangt der Vf. daher nicht.
Die fehlende Quellenbenutzung führt zudem zu einigen sachlichen Fehlern und Ungenauigkeiten sowie zu einer fragwürdigen »Klärung und richtigen Darstellung von Paul Gerhardts politischem Verständnis und der Berechtigung seiner politischen Situationsanalyse«. Gerhardt habe sich, »was sein politisches Verhalten betrifft, weithin üble Nachrede … gefallen lassen müssen. Denn viele Christen, auch Theologen und Historiker, haben noch immer nicht verstanden, warum Paul Gerhardt auf das scheinbar großzügige Angebot des Großen Kurfürsten nicht einging. Aber er hatte das falsche Spiel durchschaut und die Falle, die man ihm stellte« (329; ähnlich 302). Geradezu absurd klingt die Schlussfolgerung: »Die gleiche Haltung wie Paul Gerhardt ist es gewesen, die die Bekennende Kirche 1934 dem Hitlerstaat mit der theologischen Erklärung von Barmen widersprechen ließ und ihm das Recht absprach, ›die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens (zu) werden‹« (329). Jedoch lassen sich weder die Haltungen noch die Umstände miteinander vergleichen. Durch diese hochproblematische Parallelisierung entsteht der Eindruck, dass der Vf. entweder die Eigenheiten des Berliner Kirchenstreites oder diejenigen des deutschen Kirchenkampfes nur unzureichend erfasst hat.
Der Vf. muss sich zudem die Frage gefallen lassen, worin seiner Meinung nach die Mitte des Evangeliums für Gerhardt bestand. Sein Widerstand gegen die kurfürstliche Religionspolitik war zwar auch ein allgemeiner Protest gegen die Einmischung des Staates in Glaubensangelegenheiten, begründet hat er dies jedoch nicht etwa mit der »Mitte des Evangeliums«, sondern mit dem Verbot des Elenchus und des Exorzismus bei der Taufe sowie der Auslassung der Konkordienformel in den vom Kurfürsten geforderten Reversen. Wer jedoch den Elenchus in seiner schärfsten Form verteidigt – denn dies tat Gerhardt nachweislich – bzw. wer die Polemik heutzutage als »Mitte des Evangeliums« bezeichnet, der hat die alten Feindschaften zwischen Lutheranern und Re­­- formierten nicht überwunden. Dies wiederum führt zusammen mit der mangelnden Quelleneinsicht zu einer undifferenzierten und einseitig-parteiischen Darstellung des Berliner Kirchenstreits, wie sie in einer wissenschaftlichen Arbeit des 21. Jh.s eigentlich überwunden sein sollte.

Insgesamt ist diese Arbeit zwar ein gelungener Beitrag zur Erforschung des sozialen Umfelds Gerhardts, nicht jedoch hinsichtlich seiner geschichtlichen Bedeutung in den konfessionellen Streitigkeiten. Sie zeigt hingegen einmal mehr das Desiderat einer umfassenden, auf den Quellen basierenden kritischen Rekonstruktion des Berliner Kirchenstreits auf.