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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

854-856

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lächele, Rainer

Titel/Untertitel:

Die »Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reiches Gottes« zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus.

Verlag:

Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen im Max Niemeyer Verlag 2006. VI, 418 S. m. 1 Abb. u. Tab. gr.8° = Hallesche Forschungen, 18. Kart. EUR 64,95. ISBN 978-3-484-84018-8.

Rezensent:

Andres Straßberger

Anzuzeigen ist eine kirchenhistorische Habilitationsschrift (Gutachter: Hans-Jürgen Schrader, Jochen-Christoph Kaiser, Martin Brecht, Hans Schneider), die sich mit einer pietistischen Erbauungszeitschrift des 18. Jh.s befasst. Zunächst ist mit Nachdruck hervorzuheben, dass der Vf. sich damit auf ein Terrain begeben hat, das von der kirchenhistorischen Forschung noch immer stark vernachlässigt wird. Denn die Erforschung der theologisch-religiösen Zeitschriften des 17. bis 19. Jh.s wird in der Regel stillschweigend den Kommunikations- und Medienhistorikern überlassen, die für theologie- und kirchengeschichtliche Zugriffe auf die Materie al­lerdings naturgemäß nur selten ausgeprägtes Interesse haben. Dies verleiht kirchenhistorischen Studien zur Thematik ihren besonderen Wert, der sich freilich dahingehend genauer bestimmen lassen muss, inwieweit es im Ergebnis jeweils gelungen ist, genuin zeitschriftengeschichtliche Fragestellungen für spezifisch kirchenhistorische Problemzusammenhänge fruchtbar zu machen.
Der Vf. formuliert in der Einleitung als Vorhaben, die »Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reiches Gottes« (im Folgenden abgekürzt: SAM) als »Kommunikationsmedium des Pietismus« (Titelzitat) bzw. als publizistisches Medium der Herstellung einer pietistischen Öffentlichkeit zu erschließen (1–7). Damit werden die medien- und die kirchengeschichtliche Perspektive in einen forschungsrelevanten Zusammenhang gebracht. Das – soweit ich sehe – einzige theoretische Instrumentarium, das den Zugriff auf diese Fragestellung methodisch sichern soll, ist die für die pietis­tische Kommunikationskultur als signifikant behauptete Unterscheidung von »In-Group und Out-Group« (4), wobei der für den Pietismus zentrale Begriff der »Erbauung« mit der »In-Group«-Perspektive, der Begriff der »pietistischen Öffentlichkeit« mit der »Out-Group«-Perspektive in Verbindung gebracht wird (5). Diese im Prinzip nachvollziehbare Ausgangsthese wird nach meinem Dafürhalten jedoch sowohl problemgeschichtlich als auch methodisch nur unzureichend reflektiert, weswegen sich daraus auch keine an der eingangs entwickelten Fragestellung orientierte Struktur der Arbeit ableitet. Vielmehr wird der Leser nach einem kurzen Überblick zur äußerst spärlichen Forschungssituation (7–10) überraschend mit sechs Leitthesen konfrontiert, anhand derer die Arbeit nunmehr »ihren Gegenstand … untersuchen« (10) will. Diese lauten vollständig zitiert wie folgt:
»[1.] Die [SAM] ist die bedeutendste pietistische Erbauungszeitschrift bis 1760. [2.] Die [SAM] stellt eine tragende Säule pietistischer Kommunikationskultur in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dar. [3.] Die [SAM] ist ein konstitutiver Beleg für einen lebendigen Pietismus nach August Hermann Francke im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts. [4.] Die [SAM] löste einen vielgestaltigen und breiten Wirkungsprozess bis in das 19. Jahrhundert hinein aus. [5.] Die [SAM] stellt ein Verbindungsglied zwischen der Literatur des älteren Pietismus und der Erweckungsbewegung dar. [6.] Die SAM ist mindestens ebenso so sehr ein Ergebnis religiöser Motivation (Ziel: Erbauung), wie sie um des materiellen Erfolges gegründet und fortgeführt wurde.« (10 f.)
Abgesehen davon, dass diese Leitthesen für sich betrachtet jeweils Interesse beanspruchen können, stehen sie doch ganz un­vermittelt im Raum. Von besonderer Problematik erscheint dabei, dass These 1 kein methodisch operationalisiertes Vorgehen impliziert, sondern vielmehr ein historisches Urteil formuliert, das eigentlich erst am Ende der Untersuchung stehen kann. Methodische »Bauchschmerzen« empfindet der Rezensent auch bei These 3, die mit apologetischem Unterton den Nachweis eines »lebendigen« Pietismus nach Franckes Tod erbringen will. Wem gegenüber ist diese kirchenhistoriographisch nicht unproblematische Leitthese eigentlich zu vertreten? Der Aufriss der Studie zeigt sodann, dass sich zeitschriften- und pietismusgeschichtliche Einzelfragen weithin verselbständigt haben.
Als Erstes gibt der Vf. einen Überblick zur Entwicklung der protestantischen Publizistik im Allgemeinen und der Erbauungszeitschriften des Pietismus im Besonderen (15–39). Danach wird speziell die »Entwicklung der SAM« (40–99) thematisiert, und zwar unter jeweils separater biographischer Rekonstruktion ihrer Hauptherausgeber I. T. Jerichovius bzw. J. A. Steinmetz und des langjährigen Leipziger Verlegers Samuel Benjamin Walther. Das nächste Kapitel widmet sich dem »Konzept der pietistischen Erbauungszeitschrift« (100–148), was recht knappe Ausführungen zum Verhältnis von »Erbauung und Reich Gottes« (100–109), dafür aber sehr ausführliche zur deskriptiven Beschreibung der inhaltlichen Struktur der SAM enthält. Ein weiteres Kapitel untersucht sodann diverse Aspekte der »Redaktion der SAM« (149–217). Das letzte Kapitel geht der »Wirkungsgeschichte der SAM«, vor allem im 19. Jh., nach (218–270). An eine Zusammenfassung (271–276) schließen eine »Bibliographie der Periodika des Pietismus« (277–310), ein Quellen- und Literaturverzeichnis (311–362), diverse Quellen- und bibliographische Anhänge (363–410) sowie ein abschließendes Personenregister an.
Die einzelnen Kapitel, deren Inhalt vom anerkennenswerten Fleiß des Vf.s zeugen, fördern für sich betrachtet durchgehend interessantes Material zutage. Von besonderem Eigenwert scheinen dabei die Ausführungen zum dem Radikalpietismus nahestehenden Verleger S. B. Walther (49–68) sowie der Versuch einer Rekonstruktion seiner Verlagsproduktion (365–387) zu sein. Auch erschließt die Be­schreibung der Zeitschriftenredaktion kirchengeschichtlich interessante Sachzusammenhänge.
Gleichwohl bleibt bei der Lektüre ein insgesamt zwiespältiger Eindruck zurück. Neben dem Mangel eines konsequent problemgeschichtlichen Zugriffs auf die Materie, widmen sich die Beschreibungen und Analysen des Vf.s – um ein Bild pietistischer Bibelhermeneutik aufzugreifen – zu sehr der Schale und zu wenig dem Kern. Beispielsweise wird die in der Tat für das Zeitschriftenprofil der SAM signifikante Rolle von Exempelbiographien zwar wiederholt festgestellt, in ihrer Bedeutung und Funktion für pietistische Frömmigkeit, d. h. mit Blick auf das spezifische Profil pietistischer »Erbauung«, aber doch viel zu oberflächlich thematisiert (vgl. 127–133). Hier wie andernorts überwiegt ein Interesse am historisch Positiven und Archivarischen. Wohl aus diesem Grund zeigt die Arbeit daher auch keinerlei Ambitionen, das gängige Bild des halleschen Pietismus nach Franckes Tod anhand des Zeitschriftenmaterials kritisch zu befragen oder weiterzuführen. »Pietismus« (oft mit dem affirmativen Artikel »der« versehen) ist für den Vf. stets deckungsgleich mit dem, was Spener, Francke oder Zinzendorf zu einer bestimmten Sache zu sagen haben. Die Chance, das inhaltliche Profil »des Pietismus« nach Franckes Tod anhand von Wortmeldungen aus der zweiten und dritten Reihe zu differenzieren bzw. das Bild eines sich im Welt- und Zeitenlauf des 18. Jh.s auch wandelnden Pietismus zu rekonstruieren, bleibt ungenutzt.
In hohem Maße defizitär erscheint in diesem Zusammenhang, dass die theologische und religiöse Aufklärungsbewegung, die ja das wohl wichtigste Gegenüber zur »pietistischen Öffentlichkeit« der Zeitschrift bildete, in der gesamten Untersuchung mit erstaunlicher Konsequenz ausgeklammert bleibt. Hier schlägt die Selbstbeschneidung des Themas durch den Vf. negativ zu Buche, der gleich eingangs postulierte: »Die pietistische Erbauungszeitschrift bedurfte nur noch selten des Streits als Medium der Abgrenzung« (5). Selbst wenn dies mit Blick auf die Auseinandersetzung mit der Spätorthodoxie zutreffend sein sollte (was im Übrigen auch erst noch genauerer Überprüfung bedürfte), ist die Einschätzung aufs Ganze gesehen dennoch unzutreffend. Denn natürlich konfigurierte der offene oder latente Streit vor allem mit der Aufklärung nicht nur einzelne Beiträge und Wortmeldungen, sondern das Gesamtprofil der Zeitschrift im untersuchten Zeitraum auf ganz maßgebliche Weise. Im Verbund mit anderen pietistischen Zeitschriften und Publikationen etablierten die SAM diesbezüglich eine veritable »Gegenöffentlichkeit«, die bei einer Untersuchung pietistischer Kommunikationskultur im zweiten Drittel des 18. Jh.s keinesfalls ausgeblendet werden darf.
Nur ein Beispiel für die Streitsituation, in der die SAM agierten: Anlässlich der Rezension eines pietistischen Predigtratgebers aus der Feder des halleschen Pietisten J. C. Schinmeier griffen die SAM, 38. Beitrag (1736), 698–702, gezielt in den Streit um die »philosophische« Predigt ein und versuchten, den Autor zu einer publizistischen Stellungnahme gegen die homiletischen Wolffianer zu motivieren, was auch gelang. Dass dieser publizistische Eingriff ausgerechnet zu dieser Zeit erfolgte, war kein Zufall, sondern er ordnete sich in den Zusammenhang des »Entscheidungskampfes« des halleschen Pietismus gegen den philosophischen und theologischen Wolffianismus ein, der im »Schick­-salsjahr 1736« in Brandenburg-Preußen auf seinen Höhepunkt zusteuerte (vgl. C. Hinrichs: Preußentum und Pietismus, Göttingen 1971, 388–441). Obwohl Hinrichs Studie im Literaturverzeichnis notiert wird, zeugen die Ausführungen des Vf.s zur »Situation des Pietismus zu Beginn des Erscheinens der SAM« (18–25) von völliger Ignoranz gegenüber diesen Zeitbezügen. Ebenso kann der Versuch einer Beschreibung der Situation in Kursachsen nur als klischeehafte, den Forschungsstand nicht ansatzweise widerspiegelnde Skizze (15 f.) eingeschätzt werden, die in der vorliegenden Form keinerlei Erkenntniswert für die (kirchen-)historischen Kontexte hat, innerhalb derer die SAM publiziert und rezipiert wurden.
Neben diesen inhaltlichen Unzulänglichkeiten begegnen zahlreiche weitere sachliche Fehler und Ungenauig- bzw. Unvollständigkeiten.
Es ist unklar, warum die 34 Briefe S. B. Walthers an Callenberg (1728–1736) sowie die vier Briefe Callenbergs an Walther (1728–1732) aus dem Archiv der Franckeschen Stiftungen/Halle nicht herangezogen wurden. Nach zehn Stichproben muss das Personenregister als unvollständig bezeichnet werden, da offenbar sämtliche ausschließlich in den Anmerkungen vorkommenden Personennamen nicht verzeichnet wurden. Bei der Gegenüberstellung einer handschriftlich überlieferten Fassung eines Lebenslaufes mit der redaktionell bearbeiteten Druckfassung sind fernerhin die Textblöcke entweder verrutscht oder unglücklich zugeordnet (207 f.), weswegen ein schneller Vergleich der textlichen Unterschiede unmöglich ist. Auch sind diverse Querverweise innerhalb der Arbeit fehlerhaft (A. 51: S. 268 muss heißen 277; A. 52: S. 350 ff. muss heißen 364 ff.; A. 267 und A. 273: dito; A. 281: S. 92 muss heißen 89). Die rekonstruierten Verlagsbibliographien im Anhang repräsentieren laut einer Mitteilung (A. 1430) den Stand vom Mai 2002 und waren aufgrund der seitdem fortlaufenden Ergänzung der Datensätze des KVK bereits bei der Drucklegung der Arbeit nicht mehr aktuell. Ebenso hätte ein Blick ins 2004 veröffentlichte Thüringer Pfarrerbuch, Bd. 4: Die reußischen Herrschaften (191, Nr. 699) entgegen der Fehlanzeige in A. 738 weitere Erkenntnisse zur Biographie und zum radikalpietistischen Profil des Zeulenrodaer Diakons Georg Lucas Küntzel ge­bracht. Fragwürdig ist ferner, die in Kloster Berge bei Magdeburg unter Steinmetz veranstalteten Pastoralkonferenzen zum »norddeutschen Pietis­mus« (95) zu zählen. Schließlich können die zwischen 1756 bis 1775 erschienenen »Erbaulichen Denckzettel« Christian Samuel Ulbers nur schwerlich zum Typ des evangelischen »Sonntagsblattes« gerechnet werden (98 f.); vielmehr gehören sie zu den von den Hamburger Hauptpastoren im 18. Jh. periodisch publizierten Auszügen ihrer sonn- und festtäglichen Predigten.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die materialreiche Arbeit ebenso zahlreiche wie unterschiedliche Impulse für die kirchenhistorische Forschung freizusetzen vermag. Kirchengeschichtlich tiefenscharfe Auslotungen zu dem, was pietistische Kommunikationskultur im zweiten Drittel des 18. Jh.s inhaltlich konstituierte und kennzeichnete, bleiben weiteren Forschungen vorbehalten. Ein großes Verdienst der Arbeit ist aber, den Weg dafür freigeräumt zu haben.