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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

852-853

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brecht, Martin

Titel/Untertitel:

Johann Valentin Andreae 1586–1654. Eine Biographie. M. e. Essay v. Ch. Brecht: Johann Valentin Andreae. Zum literarischen Profil eines deutschen Schriftstellers im 17. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 389 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-525-55334-3.

Rezensent:

Hermann Ehmer

Martin Brecht legt hier die Summe seiner Arbeiten zu Johann Valentin Andreae vor, doch auch hier gilt, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Einzelteile. Die Biographie geht dem Lebensgang und den Schriften Andreaes entlang, des Enkels des um die Konkordie verdienten Jakob Andreae (1528–1590). Der Rückbezug auf den Großvater als den Inbegriff lutherischer Orthodoxie ist für den Enkel stets wichtig gewesen. Die Genealogie seiner Familie hat daher Andreae lebenslang beschäftigt. In Gedenkschriften hat er einzelne Familienangehörige – aber auch Freunde – gewürdigt, so seine Mutter in einer Schrift, die hagiographisch zu nennen ist. Auch in der Darstellung seines eigenen Lebensgangs hat J. V. An­dreae dem Großvater nachgeeifert.
Die Darstellung B.s setzt also ein mit Familie und Herkommen, Bildung und Ausbildung. Hier fließt ein gutes Stück Tübinger Universitätsgeschichte mit ein, wie überhaupt die ganze Darstellung in umfassender Weise die geistes- und theologiegeschichtliche Lage der Zeit zu berücksichtigen hatte. Andreae hat kein reguläres Theologiestudium absolviert, vielmehr galt sein Interesse zahlreichen Wissenschaften und den Bibliotheken Tübinger Gelehrter, wie der des Juristen Christoph Besold, und nicht zuletzt auch den praktischen Künsten. Zu Andreaes Bildungszeit gehören sechs Wanderjahre als Hofmeister junger Adliger, mit Reisen – u. a. nach Frankreich und Italien –, die aber in seiner Autobiographie leider nur summarisch erwähnt werden. Nach einem weiteren Studienjahr hielt man ihn für befähigt, ein kirchliches Amt zu übernehmen, zunächst in Vaihingen an der Enz.
In der Vaihinger Zeit war Andreae, sicher auch bedingt durch die äußeren Umstände, literarisch am produktivsten. Breiten Raum nehmen in der Biographie die Rosenkreuzer-Schriften ein, deren Wirkungsgeschichte B. mit Akribie nachgeht. Zu den Wirkungen gehört freilich auch, dass Andreae deswegen ein Leben lang seine Rechtgläubigkeit zu verteidigen hatte. Von den übrigen, zahlreichen Schriften Andreaes können hier nur zwei genannt werden, zunächst die 1619 gedruckte Utopie »Christianopolis«, die den Utopien von Morus und Campanella zur Seite zu stellen ist. Im Übrigen ist die »Christianopolis« Johann Arndt gewidmet, wie sich Andreae überhaupt die Propagierung der Arndtschen Schriften angelegen sein ließ. Bei Arndt hatte Andreae offenbar schon früh das gefunden, was mit seinen eigenen Reformbestrebungen übereinkam, nämlich eine Erneuerung der Frömmigkeit. Dem Lebensthema Andreaes, nämlich der Reform der Kirche, die die Reform der Sitten und der Wissenschaften in sich schließt, ist der 1622 entstandene, aber erst 1649 gedruckte »Theophilus« gewidmet. Nachzutragen ist hier, dass Andreaes einziger (überlebender) Sohn Gottlieb, 1622 geboren, denselben Namen trägt wie die genannte Schrift. Ihm ist also das Programm des Vaters gewissermaßen in die Wiege gelegt worden.
Von seinen Reformbestrebungen ist das Wirken Andreaes als Pfarrer in Vaihingen, als Superintendent in Calw seit 1620, als Hofprediger und Konsistorialrat in Stuttgart seit 1639 bestimmt, wobei er sich auf allen Stellen mit allerhand Widerständigkeiten und Wi­derwärtigkeiten auseinanderzusetzen hatte, von denen die Autobiographie, wenngleich oftmals nur verhüllt, berichtet. Es kennzeichnet Andreae, dass seine Reformideen nicht auf dem Papier blieben, sondern in die kirchliche Praxis umgesetzt wurden. Am deutlichsten wird dies in der Calwer Zeit, wo Andreae z. B. die Gründung des Färberstifts veranlasste, eine Stiftung, deren Zweck alle die Aufgaben sein sollten, die sonst der Armenkasten, das ört­-liche Kirchengut, zu übernehmen hatte. Dazu gehörte die Armenspeisung, wobei man wohl Andreaes Zahlenangabe ( ultra centies decies mille) nicht mit über 1 Million (166), sondern mit 110.000 wird übersetzen müssen – immer noch eine staunenswerte Zahl der 1626–31 in Calw gespeisten Armen.
Ein besonderes Thema sind die persönlichen Verbindungen, die Andreae vor allem durch Briefe, aber auch – trotz des Krieges – mit Reisen u. a. nach Straßburg, Nürnberg und Augsburg unterhielt. Von Interesse ist die Be­kanntschaft mit Eberhard von Rappoltstein, dessen Frau, eine Gräfin von Solms, die Taufpatin von Spener war, der in Rappoltsweiler (Ribeauville) geboren wurde (186f.). Die Rappoltsteins waren übrigens grafengleiche Edelfreie, keine Nie­deradlige, ursprünglich reichsfrei, gerieten aber im 17. Jh. mit ihrem elsässischen Besitz in die Auseinandersetzungen zwischen Habsburg und Frankreich.
Über das alltägliche amtliche Wirken des Pfarrers und Superintendenten ist wenig bekannt. Hingegen ist das Außerordentliche gut dokumentiert. So die beiden Stadtbrände in Vaihingen, die Andreae beschrieben hat. Diese Unglücksfälle waren nur Vorspiele zu der Calwer Katastrophe von 1634, die ebenfalls durch Schriften, die Andreae verfasst oder in Druck gebracht hat, in allen Einzelheiten bekannt ist. Die Verheerung von Calw 1634, der sich Andreae rechtzeitig durch Flucht entzogen hatte, dabei aber Hab und Gut einbüßte, ist der tiefe Einschnitt in seinem Leben. Doch blieb Andreae ungebrochen, da er sich mit aller Kraft für den Wiederaufbau einsetzte. – Ungebrochen blieb auch Andreaes Reformwillen, auch nach der Berufung zum Hofprediger, die ihn zum Mitglied der Württembergischen Kirchenleitung machte. Er war in diesem Gremium der weitaus bedeutendste Mann, der im Unterschied zu den Kollegen klare Vorstellungen hatte, wie der Wiederaufbau der Württembergischen Kirche aussehen sollte. Die Einrichtung des Kirchenkonvents in Württemberg 1642 ist daher, wie der Rezensent kürzlich nachweisen konnte, eindeutig auf Andreae zurückzuführen. Mit der Schaffung dieser örtlichen Gremien zur Aufrechterhaltung der geltenden Kirchenordnung hat Andreae die württembergische Kirche weit über seinen Tod hinaus geprägt.
Unter den persönlichen Kontakten Andreaes ragt die Verbindung mit Herzog August von Braunschweig-Lüneburg heraus, die man bei aller Beachtung des Standesunterschieds als eine auf gemeinsamen Interessen gründende Freundschaft bezeichnen kann. Der Herzog war für Andreae nicht nur eine moralische Stütze, sondern stand ihm auch mit konkreten Hilfen zur Seite. Die Bibliothek des Herzogs hat nicht nur die umfangreiche Korrespondenz der beiden, sondern auch vieles aus dem Nachlass von An­- dreae zugänglich gemacht.
Andreae hatte in seinen letzten Jahren vielfach um Entbindung von seinen Amtspflichten gebeten, wurde aber 1650 als Abt von Bebenhausen mit dem Wiederaufbau der dortigen Klosterschule betraut. 1653 ging er mit dem Titel eines Prälaten von Adelberg in den Ruhestand, den er in seinem eigenen Haus in Stuttgart zuzubringen gedachte, starb aber wenige Monate darauf.
B. hat mit seiner Biographie ein altes Desiderat eingelöst und Andreae neu ins Blickfeld gerückt. Dieses Werk wird die Grundlage für weitere Forschungen sein, die das Bild vielleicht noch in Einzelheiten ergänzen können. Der abschließende, kluge und kenntnisreiche Essay von Chr. Brecht, der das verdienstvolle Werk auf glückliche Weise abrundet, weist Andreae seinen Platz als bedeutenden deutschen Schriftsteller des 17. Jh.s an. Andreaes literarisches Werk wird freilich, da es vorwiegend lateinisch verfasst ist, immer weniger unmittelbar zugänglich sein.