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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

847-849

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Lubac, Henri de

Titel/Untertitel:

Medieval Exegesis. Vol. 3: The Four Senses of Scripture. Transl. by E. M. Macierowski.

Verlag:

Grand Rapids-Cam­bridge: Erdmanns 2009. XVII, 777 S. gr.8° = Ressourcement: Retrieval and Renewal in Catholic Thought. Kart. US$ 55,00. ISBN 978-0-8028-4147-6.

Rezensent:

Christoph Markschies

Übersetzungen in moderne Fremdsprachen sollten eigentlich in der ThLZ nicht ausführlich besprochen werden. Wenn aber ein maßstabsetzendes Hauptwerk eines großen Kirchenhistorikers und Systematischen Theologen, des französischen Jesuiten Henri de Lubac (1896–1991), hier noch nie angezeigt wurde und diese Lücke weniger auf politische Unbillen des vergangenen 20. Jh.s zu­rück­zuführen ist als auf die merkwürdig geringe Relevanz fran­­-zösischer (und allzumal: französischer katholischer) Beiträge im deutschen Raum und das Werk dazu die Wieder- bzw. Erstentde­ckung lohnt, dann darf einmal eine Ausnahme gemacht werden. In deutscher Übersetzung lagen vom Hauptwerk des 1983 zum Kardinal erhobenen Vf.s, dem vierbändigen Opus magnum »Exégèse médiévale. Les quatre sens de l’Écriture« (Paris 1959–1964) bislang nur einige Kapitel im Rahmen einer Sammelpublikation vor, die in dieser Zeitschrift durch Hans-Josef Klauck angezeigt wurde (ThLZ 125 [2000], 1125–1127).
Schon der Vf. lohnte Bemerkungen, ist er doch eine der zentralen Figuren der neueren, nicht nur französischen Kirchengeschichte; ausgehend von dem Netzwerk seiner Bekannten und Freunde lässt sich Geschichte der katholischen Kirche im 20. Jh. schreiben. Historisch interessierten Lesern sei eine gleichfalls ins Englische übersetzte Autobiographie zur begleitenden Lektüre angeraten: H. de Lubac, Christian Resistance to Anti-Semitism. Memoires from 1940–1944, San Francisco 1990 (= Résistance chrétienne à l’antisemitisme, 1988, translated by E. Englund). Die bislang drei Bände der englischen Übersetzung (Bd. 1, translated by M. Sebanc, 1998; Bd. 2 translated by E. M. Macierowski, 2000; und den hier angezeigten dritten Band) leitet ein lesenswertes Vorwort des amerikanischen Patristikers Robert Louis Wilken ein (Bd. 1, IX–XII).
Vordergründig handelt es sich bei dem monumentalen Werk um eine Geschichte des vierfachen Schriftsinns von den Anfängen bis ins 17. Jh., die auf Vorarbeiten beruht, die der Vf. als Professor in Lyon in den 40er Jahren durchführte (während der deutschen Besatzungszeit trug er die Karteikarten des Werks in einem Sack mit sich), damals konzipierte er auch die bis heute blühende Editionsreihe der »Sources Chrétiennes«. Und vordergründig argumentiert das ganze Werk auch nur für die eine These, dass der Lehre vom vierfachen Schriftsinn nicht eine pagane griechische Technik, sondern die theologische Unterscheidung (nicht: die Tren­nung) von Geist und Buchstabe zugrunde liegt, die Paulus bezeugt (Gal 4,24 u. ö.: Bd. 2, 15 f.) und Origenes, als Bibelausleger stark vom Apostel geprägt, der abendländischen Kirche vermittelt hat; gebrochen hat mit dieser langen Auslegungstradition erst die Moderne und natürlich in besonderem Maß die Reformation. Der Name Harnack fällt im ersten Band nicht, aber das ganze Werk des Vf.s kann als Protest gegen die von dem Berliner Kirchenhistoriker so monumental explizierte Hypothese einer »Hellenisierung des Christentums« gelesen werden: Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn ist dem Vf. nach aber nicht als ein klassisches Element der Hellenisierung des Christentums und der Verwissenschaftlichung des christlichen Denkens von außen eingekommen, sondern eine sachgemäße Konsequenz aus der Neuheit, die Christus brachte (Vorwort, Bd. 1, XV). Selbstverständlich ist das aus heutiger Perspektive eine radikal einseitige These, schärfer: Sie ist in dieser Radikalität schlicht falsch.
Neuere Arbeiten zum Thema haben uns natürlich viel deutlicher auch die paganen Vorläufer dieser Methode sehen gelehrt, aber Forschung vollzieht sich nun einmal häufig in Pendelbewegungen, und die Korrektur an der alten Position, es handle sich um eine rein pagane Auslegungsmethode, war doch notwendig. Vor allem bleibt das Material, das der Vf. gesammelt hat, auch dann wertvoll, wenn man die Absicht, in der er es präsentiert, nicht mehr teilt. In seinem Werk »Meine Schriften im Überblick« (Theologia Romanica 21, Einsiedeln-Freiburg 1996, 312) hat der Vf. zudem selbst auf weitere Defizite seines Opus magnum hingewiesen: Die Beziehungen zwischen jüdischer und christlicher Exegese fehlen ebenso wie die Verbindungslinien zwischen Exegese und Liturgie. Anregend bleiben aber auch die gegenwartsbezogenen Interessen des Vf.s: Natürlich war er viel zu klug, eine schlichte Repristination einer von ihm offenkundig geschätzten und bewunderten Auslegungsmethode zu fordern, aber ihm missfiel offenkundig auch die naseweise Ablehnung der vormodernen Bibelexegese als einer »vorwissenschaftlichen« Aneignung eines heiligen Textes, wie sie zur Entstehungszeit der vier Bände bei gelehrten Katholiken wie Protestanten durchaus verbreitet war: Vier Bände Gelehrsamkeit sollten das Klischee vom naiven Mittelalter widerlegen (ebd., XVII). Der Vf. weiß sich in dieser Absicht eins auch mit deutschen Kollegen wie dem Mediävisten und Romanisten Ernst Robert Curtius (1886–1956).
Leider wurden seine Thesen und sein Opus magnum vor al­lem in der deutschen Reformationsgeschichtsforschung kaum wahrgenommen: Gerhard Ebeling hat beispielsweise in seiner Züricher Dissertation von 1938 (Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, FGLP 10 R. 1, München 1942) den Vf. natürlich noch nicht zur Kenntnis nehmen können, hat allerdings auch in den Nachdrucken der Jahre 1962 und 1991 keinen Bezug auf den französischen Kollegen genommen. Dabei wäre es höchst spannend, beide in etwa zur selben Zeit konzipierten Werke wenigstens im Nachhinein miteinander ins Gespräch zu bringen.
Die Bände sind durch eine stupende Gelehrsamkeit geprägt; auch äußerst abgelegene Quellentexte werden ausführlich zitiert und in der englischen Übersetzung zudem auch sehr zuverlässig in diese Sprache übersetzt (die lateinischen Originale finden sich in den Anmerkungen am Ende der Bände). Allerdings ist das alles in einer mindestens für ältere französische Gelehrsamkeit charakte­ris­tischen hochrhetorischen Sprache präsentiert, die auch in einer etwas nüchterneren englischer Übersetzung auf gegenwärtige Le­ser etwas verwirrend wirken könnte. Das beginnt gleich im ersten Band, wo der oft zitierte Merkvers littera gesta docet … auf einen meist nicht mitzitierten und kaum bekannten Autor, Augus­­­-tinus de Dacia, zurückgeführt wird (Bd. 1, 1–14).
Zu den wichtigsten Kapiteln des ersten, eher systematischen Hauptteils des Bandes gehört der Nachweis, dass die systematisierte Fassung eines vierfachen Schriftsinnes (die Antike kennt eher drei Sinne und auch diese kaum als Standardalternativen für jeden Bibeltext) im 12. Jh. breiter bezeugt ist, aber mittelalterliche wie antike Vorgänger zu konstatieren sind (Bd. 1, 90–96). Es folgen dann historische Ab­schnitte zu den (angeblichen) patristischen Ur­sprüngen bei Clemens von Alexandrien und Augustinus, Gregor, Cassian und Eucherius sowie natürlich zu den realen Ursprüngen bei Origenes und seinen unmittelbaren lateinischen Fortsetzern (Bd. 1, 117–159). Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit der lateinischen Origenes-Rezeption des Mittelalters (Bd. 1, 161–224).
Der zweite Band führt in die unterschiedlichen Typen und Begriffe für biblische Schriftsinne ein, beginnt zu diesem Zweck bei Paulus und durchmisst die Antike (Bd. 2, 1–39). Es folgen Abschnitte zum Literalsinn (Bd. 2, 41–82), zur Allegorie (Bd. 2, 83–125), zur Tropologie (Bd. 2, 127–177) und zur Anagogie (Bd. 2, 179–226), die jeweils den Ausgang bei Origenes nehmen. Der dritte Band fragt dann aufgrund von einzelnen Abschnitten zu be­stimmten Autoren, ob es im 12. Jh. eine erste programmatische Abwendung von der Lehre des vierfachen Schriftsinnes gab, diese letztlich auf Hieronymus zurück­geht und bereits im 11. Jh. Vorläufer hatte: Berno, 1008–1048 Abt der Reichenau, wird als einer der wichtigen Vorläufer der Viktoriner (Bd. 3, 1–71) porträtiert, Paschasius Radbertus (Bd. 3, 147–155) ebenso untersucht wie natürlich Hugo von St. Viktor (Bd. 3, 211–267) und die Viktoriner (Bd. 3, 269–326); der Vf. zeigt, dass auch die Viktoriner bei der Auslegung der Schrift einen buchstäblichen und geistlichen Sinn unterscheiden. Der Sonderfall Joachim von Fiore beschließt den dritten Band der englischen Übersetzung (Bd. 3, 327–419), der dem ersten Teil des zweiten französischen Bandes entspricht. Es ist also noch ein Band der englischen Übersetzung zu erwarten (Bd. 4 = 2/2).
Rückentitel amerikanischer Bücher enthalten oft jene Sätze aus Gutachten renommierter Kollegen, die den Verlag zum Druck motivierten und sich nun als Werbung für den erfolgten Druck eignen. Ein patristischer Kollege aus dem Jesuitenorden nennt in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung des ersten Bandes der eng­-lischen Übersetzung »an epochal event«. Dieses Urteil kann auch der evangelische Patristiker unterschreiben, denn es handelt sich bei ihm um keine bloße Werbung, sondern um eine angemessene Charakterisierung des Bandes, der auch für die seither erschienenen zwei weiteren ohne Einschränkung gilt. Das monumentale Werk erfährt gerade (vor allem in Kreisen, zu denen auch der gegenwär­tige Papst zählt) neue Aufmerksamkeit. Man sollte es schon deswegen kennen.