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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

228 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wermke, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Gegenwart des Holocaust - "Erinnerung" als religionspädagogische Herausforderung.

Verlag:

Münster: LIT 1997. VI, 221 S. Kart. DM 29,80. ISBN 3-8258-3102-7.

Rezensent:

Martin Rothgangel

Die jüngste Kontroverse um das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin zeigt, daß sich Michael Wermke, Dozent am Religionspädagogischen Institut Loccum, als Herausgeber und Autor mit einem hochaktuellen Thema auseinandersetzt. W. ist zuzustimmen, daß eine "religionspädagogisch begründete(n) Didaktik der Erinnerung nicht deutlich genug konturiert ist" (4), obwohl es in den Schulen eine Vielzahl von Projekten gibt, die sich mit der jüdischen Geschichte in Deutschland beschäftigen und an denen auch der Religionsunterricht beteiligt ist. Der vorliegende Band verfolgt deshalb das "Ziel, als Grundlage für den zu beginnenden Diskurs einen Überblick über die Arbeiten verschiedener Disziplinen wie der Theologie, der Kulturanthropologie, der Germanistik, der Geschichte, der Philosophie und der Pädagogik zum Erinnerungsbegriff zu eröffnen" (5). Dieses geschieht, indem unter den Hauptrubriken ’Theologische Grundlagen’ (7-98) und ’Pädagogische Grundlagen’ (99-184) z. T. bereits publizierte Beiträge von J. Assmann, M. Berenbaum, M. Brumlik, J. Gidion, G. Greif, D. Krause-Vilmar, H. Loewy, J. B. Metz, C. Münz, F. Steffensky, G. Theißen gesammelt sind. Von W. selbst stammt die Einführung (1-5) sowie der einzige Beitrag unter der Rubrik ’Religionspädagogische Anregungen’ (185-219).

Aus den ’Theologischen Grundlagen’ können nur einige wesentliche Problemstellungen skizziert werden: Den Verlust anamnetischer Kultur in der geistigen Landschaft Europas führt J. B. Metz letztlich darauf zurück, daß das Christentum die entsprechenden jüdischen, innerbiblischen Traditionen verdrängte und seine geistige Wurzel primär im Hellenismus suchte. G. Theißen legt in seinen beiden Beiträgen das Gedächtnis als ethische Aufgabe dar und erhellt den Beitrag des biblischen Glaubens zum kulturellen Gedächtnis. Der in der Diskussion um den Erinnerungsbegriff bekannte Ägyptologe J. Assmann hebt ein Grunddilemma hervor, von dem an späterer Stelle noch einmal zu sprechen ist: "Aber auch die Erinnerungsaufgabe, mit der sich Deutschland konfrontiert sieht, steht in der Geschichte einzigartig dar ... So etwas hat es in der Geschichte noch nicht gegeben, und es gibt keine Modelle und Rezepte, wie die furchtbarste Erfahrung kollektiver Verschuldung in lebbare Formen konnektiver Erinnerung umzusetzen ist. Kein Denkmal und kein Gedenktag kann dieser Aufgabe gerecht werden und wird je allgemeine Akzeptanz finden. Andererseits kann sich Deutschland dieser Aufgabe nicht entziehen" (45 f.).

In den ’Pädagogischen Grundlegungen’ wird wiederholt eindrücklich vor der Gefahr gewarnt, daß Auschwitz durch darauf bezogene pädagogische Bemühungen analogisiert, verharmlost oder instrumentalisiert wird:

"An Auschwitz zu erinnern heißt, unermüdlich gegen jene Deutungen und Indienstnahmen von Auschwitz anzukämpfen, die das Trauma von Auschwitz in beruhigende Sätze einzusperren versuchen, die mit ’wegen Auschwitz’ anfangen" (107). Noch kategorischer formuliert: "Der Massenmord an den europäischen Juden bleibt unbegreifbar und unaufklärbar; deshalb kann er kein Gegenstand des Lehrens und Lernens sein" (136). Dennoch beläßt es dieser Sammelband keineswegs bei solchen Aporien: Es finden sich sowohl grundsätzliche pädagogische Überlegungen zu Gedenkstätten als auch konkret die pädagogische Konzeption von Yad Vashem/Jerusalem sowie des United States Holocaust Memorial Museums/Washington.

Insgesamt gesehen werden sicherlich wertvolle Impulse für eine religionspädagogische Diskussion zur ’Erinnerung an den Holocaust’ gegeben. Jedoch hätte dieser Diskurs durchaus noch ’anregender’ eröffnet werden können:

Erstens wäre es wünschenswert gewesen, daß die in verschiedenster Hinsicht sehr unterschiedlichen Beiträge zumindest kurz eingeführt oder kommentiert worden wären. Im Idealfall hätte man sogar der Frage nachgehen können, ob sich aus religionspädagogischer Perspektive bestimmte Kriterien gewinnen lassen, die manche Beiträge für den religionspädagogischen Diskurs als ’fruchtbarer’ bzw. weniger ’fruchtbar’ erscheinen lassen.

Zweitens wäre angesichts der zahlreichen Schulprojekte zur Erinnerung an den Holocaust in Unterrichtsfächern wie Deutsch, Geschichte etc. zu untersuchen, ob in deren Fachdidaktiken ein ähnliches Desiderat wie in der Religionspädagogik besteht oder ob hier bereits Klärungsprozesse stattgefunden haben, von denen auch die religionspädagogische Diskussion profitieren könnte.

Drittens bleiben für den religionspädagogischen Kontext ganz entscheidende, von W. selbst angemahnte Desiderate, unzureichend beantwortet: Der "Wunsch vieler Jugendlicher nach einem erfüllten Leben im ’Hier und Jetzt’" (2) läßt für diese "die Notwendigkeit der Erinnerung als geschichtliche Vergewisserung als überflüssig" (3) erscheinen. Dieses und jenes oben von J. Assmann formulierte Dilemma würden aber regelrecht einen Rekurs auf entsprechende psychologische und soziologische Theorien der Antisemitismusforschung erfordern. So bleibt zu wünschen, daß weitere religionspädagogische Grundlegungen zur ’Erinnerung an den Holocaust’ folgen werden. Dessen ungeachtet bietet der durch aufschlußreiche Schülergedichte eingerahmte Band einen lesenswerten, ersten Einstieg in die religionspädagogische Diskussion.