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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

841-843

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schmeller, Thomas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. VII, 208 S. gr.8° = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 69. Geb. EUR 54,90. ISBN 978-3-525-53968-2.

Rezensent:

Manfred Lang

Die gegenwärtige Diskussion um die (antike) Biographie, wie sie beispielsweise in den Bänden von Thomas Schirren, Philosophos Bios (2005), Konrad Vössing (Hrsg.), Biographie und Prosopographie (2005), Michael Erler und Stefan Schorn (Hrsg.), Die griechische Biographie in hellenistischer Zeit (2007), sowie Christian Klein (Hrsg.), Handbuch Biographie (2009), dokumentierbar ist, zeigt die fortgesetzte Debatte um den Diskurs hinsichtlich der Geschichte. Der vorliegende Band, der die Ergebnisse der deutschsprachigen Tagung der »Arbeitsgemeinschaft katholischer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler« vom Februar 2007 wiedergibt, ist somit Teil jener aktuellen Diskussion und umfasst folgende Beiträge:
Detlev Dormeyer, Pragmatische und pathetische Geschichtsschreibung in der griechischen Historiographie, im Frühjudentum und im Neuen Testament, 1–33; Martin Ebner, Von gefährlichen Viten und biographischen orientierten Geschichtswerken. Vitenliteratur im Verhältnis zur Historiographie in hellenistisch-römischer und urchristlicher Literatur, 34–61; Christoph Heil, Evangelium als Gattung. Erzähl- und Spruchevangelium, 62–94; Christoph Gregor Müller, Διήγησις« nach Lukas. Zwischen historiographischem Anspruch und biographischem Erzählen, 95–126; Stefan Schreiber, Die Vita des Königs Jesus. Über die Gattung des Johannesevangeliums, 127–154; Ingo Broer, Autobiographie und Historiographie bei Paulus, 155–178; Gerd Häfner, Biographische Elemente der Paulusrezeption, 179–207.
Dormeyer verweist hinsichtlich der pragmatischen wie pathetischen Geschichtsschreibung auf die Differenzierung von ἔργον und πρᾶγμα (Thuc 1,23; Polyb 1,1; Poseidonios und Josephus). Dieser Traditionsstrang sei jedoch durch Herodot dahingehend verändert worden, dass Herodot etwa das Phä­-nomen der Wunder zulässt und auf die Wahrheit als Kriterium verweist. Dadurch werde er zum Vater der kritisch-pragmatischen sowie der tragisch-pathetischen Geschichtsschreibung. In dieser Polarisierung sei die weitere Geschichtsschreibung zu verorten, die entweder mehr oder weniger Tragödien-Elemente einführe oder aber dies nicht zulasse. Auch wenn der Zweig der pathetischen Geschichtsschreibung nicht mehr erhalten geblieben sei, so sei er doch bei Josephus, Philo von Alexandrien, 1–4Makk sowie den Evangelien und der Apostelgeschichte bruchstückhaft erkennbar. Solche »Spezialgattungen« hätten Einfluss auf die neutestamentlichen Schriften und die neuzeitlich im Anschluss an Sallust formulierte »Monographie«: Diese »setzen Schwerpunkte, haben aber keine festen Gattungsgrenzen, zeigen aber zugleich unterschiedliche Stilhöhen an« (16 f.). Das MkEv sei in den Rahmenbedingungen des antiken Bios verfasst, wobei die Frontstellung die Herrscherbiographie des Plutarch darstelle (24–27). Auch das MtEv wie das JohEv lassen sich in diese Rahmenbedingungen der pathetischen Geschichtsschreibung einordnen, auch wenn sie jeweils einem anderen Stil zuzuweisen sind. Ein zwölf Punkte umfassender Schluss bündelt die grundlegenden Beobachtungen.
Martin Ebner geht den Grenzlinien der Vitenliteratur und der Historiographie nach und beginnt mit dem Aufweis der Typik. Dabei ist für Ebner wichtig, dass eine realisierte Gattung nie in Reinkultur möglich sei, sondern vielmehr eine Verlinkung zum Architext geschaffen werde (in Anlehnung an G. Genette) (37 f.). Seine von ihm vorgelegte Typik umfasst folgende Punkte: das Bewusstsein von virtuellen Gattungsunterschieden und Variationen (Aufbau und Pragmatik [individualethisch und politisch]). Im weiteren Verlauf analysiert Ebner weitere Viten in chronologischer Reihenfolge (Cornelius Nepos, Plutarch bis hin zum Geschichtswerk des Tacitus [Agr wie Ann bzw. Hist]). Das Fazit bündelt auf formaler Ebene hinsichtlich sachlicher Kennzeichen sowie inhaltlicher Tendenzen das Material und wendet es auf das MkEv sowie das lk Doppelwerk an: Ist für das MkEv die Front zur Kaiserideologie recht konkret zu greifen, dann ist hinsichtlich des LkEv bzw. der Apg eine eindeutige Entscheidung nicht möglich.
Christoph Heil fragt nach der Gattung von Q und somit gleichzeitig nach den Merkmalen der Gattung »Evangelium«. Nach der Auflistung der Argumente pro et contra »Q als Evangelium« erfolgt die Differenzierung von Erzähl- und Spruchevangelium, was zur Charakterisierung eines Spruchevangeliums in der Großgattung Evangelium führt. Deren Vorbilder liegen nach Heils Einschätzung u. a. bei Diogenes Laertios, Lukians Demonax, Pirke Avot, äth. Henoch oder der Didache. Folgende Definition kann nach abschließender Beurteilung vorgenommen werden: »Texte der Gattung ›Evangelium‹ haben Worte und Taten Jesu von Nazaret zum Inhalt und zeichnen sich formal durch lose verbundenen Episoden- und Anekdotenstil mit einem hohen Anteil direkter Rede aus. Ferner werden Texte der Gattung ›Evangelium‹ durch eine theologische und eine konkrete kirchliche Absicht charakterisiert.« (93)
Christoph Gregor Müller erläutert die διήγησις« des Lukas im Rahmen einer »historischen Erzählung«, die mit Erinnerung, Kontinuität und Identität als Selbstvergewisserung näherhin charakterisiert werden kann. Nach der Klärung der Rahmenbedingungen (historische Ansprüche nahelegendes Proömium in Lk 1,1–4; historische Mitgift; die διήγησις) folgen dann perspektivische Entfaltungen des Erzählens: Das biographische Erzählen wird anhand der plutarchischen Parallelbiographien dargelegt und im entsprechenden Gehalt für die Evangelien-Exegese erhoben: Charaktere werden anhand von Taten erkennbar, wie dies auch anhand von Reden der Fall ist. Gerade für die Apostelgeschichte ist dies zuletzt hervorgehoben worden. Das lk Doppelwerk wird somit in seinem historischen Erzählen zu einer religiösen sozialen Selbstaffirmation (124). Neben dieser identitätsstiftenden Funktion tritt in der Apostelgeschichte auch eine apologetische in den Vordergrund, die die Außenperspektive zur Sprache bringt.
Stefan Schreiber erläutert das JohEv als eine »Vita des Königs Jesu«, indem er – nach den Vorbemerkungen – die Gattungsunschärfen u. a. am taciteischen Agricola entwickelt und auf das JohEv überträgt. Die sich herauskristallisierenden Eigentümlichkeiten werden hinsichtlich Joh 1–21 (!) erhoben. Sie be­stehen in der Exklusivität des Königs Jesus als einer Alternativ-Konstruktion sowie grundsätzlich als Leitfigur »für die eigene, gruppenspezifische Lebenswirklichkeit« (154) im konkreten geschichtlichen Rahmen.
Die letzten beiden Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich mit autobiographischen Zügen, die sich bei Paulus sowie bei den Deuteropaulinen finden. Dabei geht Ingo Broer vom modernen Begriff der Autobiographie aus, ehe er sich explizit auf Gal 1 f. bezieht. Dass hier jene Kennzeichnen für autobiographische Züge erkennbar seien, zeige sich am Interesse an einer moralisch-didaktischen Ausrichtung und in der Absicht des Paulus, chronologische Ereignisse auf seine Person zu beziehen. Dabei mahne die aktuelle For­schungsdiskussion auf beiden Feldern zu noch größerer Zurückhaltung in der Exegese der autobiographischen Passagen hinsichtlich eines sog. mirror-readings.
Gerd Häfner beschreibt die biographischen Elemente der Paulusrezeption nicht nur für Kol bzw. Eph sowie für die Pastoralbriefe, sondern auch für die Thekla-Akten: Als Gründungsfigur bleibe Paulus besonders in seiner ὑπομονή präsent; die Situation der Gefangenschaft hebe für die Pastoralbriefe die Funktion des Wortes besonders hervor und stelle die räumliche Trennung nach dem Tod des Paulus literarisch dar; die »literarische Inszenierung des Abschieds« (206) verstärke sich von Kol/Eph hin zu Past und führe letztlich zur Debatte um die »gesunde Lehre« als »eines Kampfes um das Paulus-Erbe« (206). Schließlich werde in den Thekla-Akten das Bild vom enthaltsamen Prediger dadurch rezipiert, dass er hinsichtlich seines Aussehens beschrieben werde.

Es wird deutlich, dass die Zuschreibungen zu neutestamentlichen Texten mit dieser Gattung der Biographie einzelne Züge sehr wohl trifft, beispielsweise beim lk Doppelwerk jedoch nicht unerhebliche Differenzierungen verlangt.
Es ist natürlich nicht möglich, alle Beiträge detailliert zu analysieren. Folgende Anfragen en gros sollen jedoch gestellt werden: Gerade die Kaiserviten zeigen, dass die Nähe zur Panegyrik gewollt und sinnvoll ist. Das belegt nicht zuletzt beispielsweise Velleius Paterculus (vgl. Tac Agr). Die Berührungspunkte mit den Viten wäre eigens zu thematisieren gewesen, was leider nicht geschieht. Die vorgelegten Perspektiven fragen zumeist formgeschichtlich und diachron. Gerade in der Applikation auf die neutestamentliche Evangelien-Literatur ist jedoch zu fragen, ob hier die Perspektive ausreichend ist: Markus schrieb ja kein Evangelium, indem er solche Verlinkung mit einzelnen Vitae schuf, sondern er komponierte ein literarisches Werk. Mithin wäre also in der Historiographie erneut nach solchen Themen – nicht den einzelnen Rhemata – zu suchen, die strukturbildend sind und die sich im MkEv selbst wiederfinden lassen. In formaler Hinsicht ist das Fehlen eines Re­gis­ters genauso zu bedauern wie die uneinheitliche Zitierweise für die griechischen/römischen Autoren sowie die Sekundärliteratur.
Ein ausgesprochen anregender Sammelband ist hier vorgelegt worden, der in seiner Breite der berücksichtigten Literatur (hoffentlich) rasch einen Stammplatz in der neutestamentlichen Exegese finden möge.