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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

838-840

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Marshall, Jonathan

Titel/Untertitel:

Jesus, Patrons, and Benefactors. Roman Palestine and the Gospel of Luke.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XIII, 383 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 259. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-149901-2.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Die Studie, eine Dissertation an der Trinity Evangelical Divinity School (Illinois), wirft einen eher ungewohnten Blick auf das Lukasevangelium. Obwohl sozialgeschichtliche und kulturanthropologische Fragestellungen längst schon zum Standardinstrumentarium exegetischer Arbeit gehören, ist die Rolle von Wohltätern und Patronen in der sozialen Wirklichkeit des 1. Jh.s bislang nur sporadisch für ein Verständnis von Jesusbewegung und früher Christenheit in Anspruch genommen worden. Gerade der dritte Evangelist bietet sich dafür jedoch in besonderer Weise an. M. stößt mit seiner Arbeit somit in eine Lücke, die bislang überraschend offen geblieben ist.
Zunächst bedarf es dafür jedoch einer Definition zentraler Begriffe (1. Introduction). »Jüngerschaft/Discipleship« versteht M. in dem weiten Sinne jeder loyalen Beziehung zu Jesus; damit wird der Begriff vom Phänomen der Nachfolge und der damit verbundenen Lehrer-Schüler-Konstellation abgelöst und für ein sehr viel breiteres Spektrum sozialer Interaktionen geöffnet. Als »Wohltäter/Benefactors« gelten jene Persönlichkeiten, deren Tugend sich durch private Freigiebigkeit gegenüber ihrer gesellschaftlichen Umgebung auszeichnet und von dieser auch entsprechend honoriert wird. »Schirmherren/Patrons« sind solche, die sich einer Gruppe von »Schutzbefohlenen/Clients« im Rahmen einer im Einzelnen noch weiter zu differenzierenden reziproken Beziehung annehmen. Hier sind die Patron-Klient-Modelle aus dem Bereich der Sozialwissenschaften jedoch noch einmal zu unterscheiden von der konkreten Gestalt des Patroziniums in hellenistisch-römischer Zeit; allein Letzteres bietet den Bezugspunkt für die vorliegende Studie, weshalb sich auch die klassischen Altertumswissenschaften als deren fruchtbarster Referenzrahmen erweisen. Was hier in den letzten 30 Jahren geforscht wurde, verdient von der neutestamentlichen Exegese mehr als bisher wahrgenommen zu werden. Zu­gleich fügt sich die Arbeit in die jüngere Rückfrage nach dem historischen Jesus ein, indem sie das kulturelle und religiöse Klima Galiläas bzw. Palästinas im Ganzen zur Zeit Jesu näher zu bestimmen versucht. In methodischer Hinsicht versteht es sich inzwischen von selbst, dass literarische und archäologische Quellen da­bei gleichermaßen zum Zuge kommen.
Das kulturelle Umfeld beschreibt M. ausführlich in zwei Schritten. Der erste (2. Benefaction and Patrocinium in First Century Palestine) leuchtet den geographischen Raum aus. Nach einer Ge­samtsicht auf die antiken Quellen zum Thema und einer erneuten Diskussion der Kriterienfrage wird das römische Palästina in den Blick genommen. Nacheinander kommen die galiläischen Ortschaften Kana, Nazaret, Kafarnaum, Tiberias und Sepphoris, so­dann Jerusalem, schließlich Caesarea maritima, Samaria, einige kleinere Ortschaften der Philippustetrarchie, Gamla, Betsaida und Tyrus zur Sprache. Leitend ist die Frage nach dem Grad der Hellenisierung oder Romanisierung der jeweiligen Ortslage, da sich die unterschiedliche Dominanz von Wohltätermentalität oder Patroziniumsstrukturen primär als ein Ost-West-Problem zu erkennen gibt bzw. Letztere auch von konkreten politischen Konstellationen abhängig sind. Insgesamt plädiert M. dafür, die Patron-Klient-Beziehung besser durch die Kategorie der Reziprozität zu ersetzen. Die regionale Perspektive belegt auch noch einmal deutlich den jüdischen Charakter gerade Galiläas, wo sich entsprechende Indizien nur spärlich finden lassen.
Der zweite Schritt (3. Benefaction and Patrocinium and the Herodian Rulers) richtet den Blick auf vier exponierte Persönlichkeiten der herodianischen Dynastie: Herodes d. Gr., Herodes Antipas, Philippus und Agrippa I. Sie werden nach einem festen Schema untersucht, das der Reihe nach ihre Bildung, ihre Beziehung zum Kaiserhaus in Rom, ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, ihre Bauprojekte und schließlich ihre Münzprägungen sowie Akte öf­fentlicher Wohltätigkeit beschreibt. Dabei zeigt sich, dass die politische Sozialisation in Rom die entscheidende Rolle spielt. Vom Volk werden die Herodianer durchgängig als Wohltäter nach dem Vorbild hellenistischer Herrscher wahrgenommen.
Nach dieser materialreichen Darstellung des kulturellen Kontextes wendet sich M. drei ausgewählten Perikopen des Lukasevange­liums zu. Da Jesus in ihnen jeweils seine nächsten Anhänger instruiert, eignen sie sich in besonderer Weise als Testfall einer entsprechenden Lektüre. Aus den vorausgegangenen Untersuchungen wird als Fazit noch einmal aufgenommen: »Benefaction supercedes patrocinium, just as Hellenism supercedes Romanism, in the majority of regions and persons he (Jesus) encountered ...« (199). Grundlegende Bedeutung hat Lk 6,17–38 (4. Reciprocity, Patrocinium and Benefaction in the Sermon on the Plain). Eine wichtige lk Motivlinie greift Lk 14,1–24 auf (5. Reciprocity, Benefaction, Patrocinium and Friend­-ship at Table). Im Sinne eines Vermächtnisses erscheint Lk 22,14–34 (6. Benefaction and Patrocinium at the Last Supper). Auch hier verfährt die Analyse streng schematisch und behandelt nacheinander den literarischen Kontext, die linguistische Evidenz sowie die kulturellen Implikationen, jeweils in Schlussfolgerungen zusammengefasst. Dabei wird die in der Literatur immer wieder anzutreffende, pauschale Bezugnahme auf die Kategorie der Reziprozität sorgfältig differenziert. Zunächst geht es dabei um die Frage, ob und wo Jesus mit einer entsprechenden Ideologie bekannt werden konnte. Für die Feldrede unterscheidet M. die Perspektive des eingangs beschriebenen Publikums von der prophetischen Tradition der Makarismen und Weherufe, während die mit der »Goldenen Regel« verquickte Mahnung zur Feindesliebe wiederum Reziprozität bewusst aufnimmt: »Similarities in vocabulary and construction of argument suggest that he (Luke) directly addresses a Hellenistic Jewish version of reciprocity ...« (243). Ähnlich differenziert wird auch Lk 14,1–24 beurteilt: »Luke has appropriately adopted reciprocity as an interpretative paradigm, left open the possibility of benefaction as an interpretative framework, and kept out patrocinium in the episode ...« (283). Eine solche Darstellung resultiert aus der Begegnung Jesu mit seiner Umwelt: »He does not completely abandon notions of reci­procity, but recasts them in relationship to God the ultimate benefactor and reciprocator ...« (285). Für das Mahlszenario in Lk 22,14–34 gilt: »Therefore Luke appropriately prioritizes Jewish matters and when venturing outside of Judaism prefers benefaction ideology ...« (322).
Der Schluss (7. Conclusions) zieht ein Fazit. Unter den zahlreichen kulturellen Einflüssen in Palästina bleiben Galiläa und Jerusalem maßgeblich von jüdischer Tradition geprägt. Für den historischen Jesus musste die hellenistische Kategorie der Wohltätigkeit dabei vertrauter sein als die des römischen Patroziniums. Im Besonderen vermochte die frühe Christenheit ihre Botschaft im Kontext von Wohltätermentalität sowie in Bezug auf Reziprozität und Freundschaftsethik zu vermitteln. Entsprechend vermeidet Lukas sprachliche Bezüge auf das Patrozinium. Denn das Patrozinium zeigt eine andere Struktur und lässt sich in der lk Jesuserzählung nicht nachweisen.
Als hilfreich erweist sich die umfangreiche Bibliographie (339–373), die – dem Anliegen der Studie entsprechend – ein weites Feld an zum Teil auch entlegener Literatur erschließt. Der dreifache Index (1. Antike Quellen, 2. Moderne Autoren, 3. Sachen und Schlüsselbegriffe) bleibt insgesamt knapp (275–383).
Der Lukasexegese wird durch dieses Buch ein neuer Blick auf die kulturelle Welt des 1. Jh.s in Palästina erschlossen. Jesus und seine Anhänger erscheinen nicht mehr nur vor dem Hintergrund der Nachfolgebeziehung prophetischer Provenienz mit ihren radikalen Zügen sozialer Entwurzelung, sondern lassen ein sehr viel differenzierteres Beziehungsgefüge erkennen. Ihr soziales Modell wird damit kompatibel für eine Zeit und Welt, die über Palästina hinausführt, ohne dabei ihren Ursprung verleugnen zu müssen. M. widersteht der Versuchung, seine Texte nun ausnahmslos über diesen einen Leisten zu schlagen. In sorgfältigen Differenzierungen gelingt es ihm, die Eigenart der lk Erzählung, die zwischen ihrer jüdischen Verwurzelung einerseits und ihrer Beheimatung in der hellenistisch-römischen Welt andererseits zu changieren vermag, noch einmal neu ins Licht zu setzen. Aber müsste nicht auch die Frage gestellt werden, was Reziprozität gerade im Blick auf die asymmetrische Beziehung zwischen Gott und Mensch bzw. Chris­tus und seiner Gemeinde bedeutet oder welche Problematik hier für die lk Christologie entsteht? Verschiedene Vorstellungsmuster der lk Erzählung lassen sich vor diesen Hintergrund einleuchtend erklären. Ihre theologischen Implikationen aber bedürfen einer weiteren Diskussion.