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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

833-835

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fritzen, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Von Gott verlassen? Das Markusevangelium als Kommunikationsangebot für bedrängte Christen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 431 S. gr.8°. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-17-020160-6.

Rezensent:

David du Toit

Bei dem hier zu besprechenden Buch handelt es sich um eine unter der Betreuung von Ludger Schenke angefertigte Dissertation. Der Vf. war z. Zt. der Abfassung wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mainzer Lehrstuhl für Pastoraltheologie. Beides hat Spuren in der Arbeit hinterlassen: Der Einfluss des Lehrers Schenke ist häufig zu spüren, das pastoraltheologische Interesse zeigt sich im vorbildlichen Versuch, den Text auf sein Kommunikationsangebot für heutige Leser hin zu befragen (Kapitel 7, 361–391).
Die Studie fragt (14 f.) anlässlich von Beobachtungen zu mk Texten, die von Erfahrungen der Ferne Gottes bzw. Jesu handeln (bes. 15,34; 16,8, ferner 4,35–41; 6,45–52; 8,14–21), nach dem Grund der Betonung solcher Erfahrungen im MkEv. Der Vf. will den Hinweis erbringen, dass das Evangelium in Antwort auf Erfahrungen der Gottverlassenheit den Lesern ein Kommunikationsangebot zur Bewältigung dieser Erfahrungen anbieten will: Jesu Klage »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« sei die Ausgangsfrage, auf die die Mk-Erzählung antwortet, die Frage, die die Erzählung und ihre charakteristischen Merkmale hervorrief (191–193.363–366). Der Vf. bestimmt diese Ausgangsfrage bzw. -situation mittels einer anhand von Mk 16,1–8 und Mk 13 (ferner 2,18–20; 12,1–12; 4,3–9.13–20 u. a.) vorgenommenen Rekonstruktion der »authorial audience« (Kapitel 3, 108–193, bes. 186 ff.). Es handele sich um eine bedrängte Gemeinde, die ihre Gegenwart wahrnimmt als eine Zeit, in der Jesus als der Auferstandene sowie Gott (12,1!) fern scheinen: Mk »erweist sich als Text über die Möglichkeit von Glaube in einer Zeit, die als Nacht der Ferne Gottes wahrgenommen wird« (192).
In drei Schritten entfaltet der Vf., inwiefern die Mk-Erzählung als Antwort auf diese Ausgangsfrage zu verstehen ist. In Kapitel 4 (195–262) wird die grundlegende Antwort des Evangelisten auf die Frage nach der Ferne Gottes als Rede von der Verborgenheit Gottes (195–201), des Gottessohnes bzw. dessen Göttlichkeit (!) (201–33) und Gottes Herrschaft (233–257) bestimmt. Dabei geht es um eine Darstellung der Geheimnismotive des Evangeliums. Der Vf. deutet Mk 9,9 in Auseinandersetzung mit der Messiasgeheimnisforschung (227–233) nicht als endgültige Offenbarung des Geheimnisses zu Ostern, sondern »[v]ielmehr bleiben die Verborgenheit Jesu und das Ringen um Glauben und Nachfolge in der Zeit der nachösterlichen Verkündigung … aktuell« (229). Die kommunikative Bedeutung der Rede von der jeweiligen Verborgenheit Gottes, der göttlichen Würde des Sohnes sowie der Herrschaft Gottes bestehe darin, den Lesern die Abwesenheit Gottes als scheinbare Abwesenheit zu entlarven und ihr die verborgene Gegenwart bzw. Nähe Gottes entgegenzusetzen (257–262). »Verborgene Anwesenheit ist … das Gegenteil der Abwesenheit« (357).
Das 5. Kapitel (263–321) »Die Entfaltung der Antwort« bildet das Herzstück des Buches: Der Vf. schlägt vor, das mk Erzählkonzept als Wegführung hin zu echter Wahrnehmung der verborgenen Gegenwart der Herrschaft Gottes, der Göttlichkeit des Gottessohnes sowie der Nähe Gottes zu verstehen (279–281). Dafür muss der Leser vor allem den symbolischen Gehalt der mk Wahrnehmungsterminologie, der beiden Blindenheilungen sowie der Bootserzählungen erkennen sowie eine Identifikation mit den vorösterlichen Jüngern vornehmen. Dieser Weg führe über die Etappen 1. »von Blindheit zum undeutlichen Sehen« (= Christuserkenntnis, bis 8,27) über 2. »deutliches Sehen« (= Erkenntnis Jesu als des Leidenden und Dienenden, bis 10,45) hin zu 3. »erweitertem, tieferem Sehen« (= wachsame Nachfolge, ab 10,46 bis Ende). Besonders die Bootserzählungen sind für die Auslegung des Vf.s bedeutsam: Sie werden als symbolische Erzählungen, die das Problem des Unglaubens angesichts Jesu nachösterlicher Ferne thematisieren, ausgelegt (293–298). Kapitel 6 (323–327) bietet zum Abschluss eine Analyse von der Kreuzigungsperikope »als Höhenpunkt der Erzählkommunikation« und gipfelt in der Feststellung, dass der Aufkündigung der Gegenwart Gottes im Tempel (15,38) ein neues Angebot der Gottesnähe im Auferstandenen folge (358).
Dem Ganzen vorangestellt ist eine hervorragende Einführung zur Methode der Arbeit (19–105, Kapitel 2), die jedem Exegeten und jedem, der exegetische Proseminare zu leiten hat, zum Studieren zu empfehlen ist. Hier werden ferner eine Reihe exegetischer Einsichten begründet, die für das weitere Vorgehen grundlegende Bedeutung haben: Mk ist als Geschichtsdarstellung zu charakterisieren (20–26), deren fiktionale Dimension (26–38) sowie mythische, d. h. begründende Funktion (38–42) für die Deutung des Textes von grundlegender Bedeutung sind. Abgerundet wird das Buch mit einem Literaturverzeichnis sowie Stellen- und Stichwortregister (395–431).
Einige kritische Anmerkungen seien erlaubt. 1. Von S. 201 an spricht der Vf. ohne jegliche Reflexion und völlig unvermittelt von der Verborgenheit der Göttlichkeit des Gottessohnes. Davon kann im MkEv kaum die Rede sein. Verborgen ist die funktionale Identität Jesu, d. h. dass er der Geistbegabte, der Gesalbte, der Gottessohn, der letzte Bote Gottes und der künftige leidende, auferstehende und kommende Menschensohn ist. 2. Die Rede von der »verborgenen Göttlichkeit Jesu« hängt wohl damit zusammen, dass der Vf. so die fortgesetzte Kontinuität der Frage nach der Verborgenheit Jesu in nachösterlicher Zeit behaupten kann (227 ff.), die für sein »Weg zur rechten Wahrnehmung«-Lektüremodell unerlässlich ist. Aber im MkEv ist die Frage nach der funk­-tionalen Identität Jesu am Ende des Evangeliums gelöst. Die Frage nach der Kontinuität zwischen vor- und nachösterlicher Zeit ist m. E. wesentlich nuan­­cierter zu lösen, und zwar u. a. über die Strukturgleichheit vor- und nachösterlichen Glaubens ( aufgrund der Verkündigung des Evangeliums und angesichts der ausstehenden Gottesherrschaft). 3. Der Vf. sieht zu Recht sehr klar, dass die Darstellung der nachösterlichen Zeit im MkEv auf die Problematik der Ferne Gottes zusteuert. Allerdings verknüpft er die Fragen nach der Ferne Gottes und Jesu so miteinander, dass wichtige Aspekte des Problems vernebelt werden. Denn der Vf. ignoriert, dass die Darstellung der dunklen Ferne Gottes/Jesu von Mk gezielt kontrastiert wird mit der mit großem Aufwand als überbordende Heilszeit gezeichneten Zeit der (verborgenen, aber wirksamen!) Nähe Gottes, die in der Gegenwart seines Gesalbten bzw. Sohnes Gestalt annimmt: Vor dieser Folie besteht die nachösterliche Krise in der Wahrnehmung der nachösterlichen Abwesenheit Jesu als Indikation für die Abwesenheit Gottes. Der Vf. übersieht nun, dass Mk 13 für die Bewältigung der Krise zentral ist: Der Evangelist sichert dort – unter Aufnahme der gemeinjüdischen Vorstellung der verborgenen, aber wirksamen Nähe Gottes und in typischer Manier jüdischer Apokalyptik – der Leserschaft in der Bedrängnis angesichts und trotz der Abwesenheit Jesu (als bisherigem Garanten göttlicher Gegenwart!) die fortwährende, wenn auch verborgene Herrschaft und Treue Gottes zu. 4. Das größte Problem der vorliegenden Studie liegt aber in dem vorgeschlagenen Lektüremodell. Um die fortgesetzte Relevanz der Vergangenheitserzählung für die Frage nach der Bewältigung einer eventuellen Abwesenheit Gottes/Jesu sichern zu können, muss der Vf. tief in die Trickkiste exegetischer Verlegenheitslösungen greifen: Abgesehen von der nicht unproblematischen Annahme der vorösterlichen Jüngerfigur als Identifikationsangebot für die nachösterliche Leserschaft (166 ff.) sowie der äußerst prekären Sicherung einer fortgesetzten nachösterlichen Gegenwart Jesu mittels einer Interpretation von Mk 14,28 und 16,7b im Sinne der Hirtenmetaphorik (153 f.) fordert der Vf. eine Allegorisierung der Blindenheilungen und Bootserzählungen, die (anders als im Falle der Gleichnisse, vgl. 4,13–20) durch nichts im Text angezeigt ist (die vom Vf. angeführten Argumente [271 ff.281 ff.] überzeugen nicht; davon, dass sie »zwingend« wären, kann überhaupt nicht die Rede sein). Solche »symbolischen« Lektüren dürfen zum legitimen Gebrauch der Texte gehören, ob sie jedoch den Anforderungen einer Interpretation im Sinne der Intentionalität des Textes genügen, ist zweifelhaft.
Ohne Zweifel hat der Vf. ein ausgezeichnetes, weiterführendes Buch zum MkEv vorgelegt. Besonders die Erkenntnis, dass die Ab­wesenheit Gottes/Jesu ein Leitproblem mk Theologie ist, ist höchst willkommen. Die Tragfähigkeit der Deutung der mk Erzählung als »Weg zu echter Wahrnehmung« wird sich in der kritischen Auseinandersetzung erweisen müssen. Das Buch sei jedem Markusinteressierten herzlich zur Lektüre empfohlen.