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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

96 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schulz, Günther

Titel/Untertitel:

Das Landeskonzil der Orthodoxen Kirche in Rußland 1917/18 – ein unbekanntes Reformpotential.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 212 S. gr.8° = Kirche im Osten, 23. Kart. DM 58,­. ISBN 3-525-56441-4.

Rezensent:

Erich Bryner

Der in Münster/Westfalen lehrende Kirchenhistoriker Günther Schulz legt in dieser Studie eine gründliche und erkenntnisreiche Arbeit über das Konzil der Russischen Orthodoxen Kirche 1917/18 vor, das zu den wichtigsten konziliaren Ereignissen unseres Jh.s zählt und in seiner Bedeutung nur mit dem 2. Vaticanum verglichen werden kann. Die scharfe antikirchliche Re-pressions- und Vernichtungspolitik des Sowjetstaates hatte je-doch die Umsetzung der meisten Konzilsbeschlüsse in die Praxis verhindert und das große Reformpotential der Konzilsarbeit weitgehend vergessen lassen. Um so wichtiger ist eine gründliche Erforschung dieses Konziles. Sch. hat sich über Jahre in ausgedehnten Archiv- und Bibliotheksstudien mit den Grundfragen um das Konzil auseinandergesetzt.

Im ersten der acht Hauptabschnitte seiner Untersuchung beschäftigt sich Sch. mit den Grunddaten des Konzils (Tagungsorte, zeitlicher Rahmen, Teilnehmer, Ordnung und Arbeitsweise). Bekanntlich waren dem Konzil umfassende Vorbereitungsarbeiten vorausgegangen, die das gesamte Leben und Wirken der Russischen Orthodoxen Kirche einer Überprüfung unterzogen und zahlreiche Reformen der im Laufe des 18. und 19. Jh.s weitgehend erstarrten Staatskirche vorschlugen, doch Zar Nikolaj II. ging diese Arbeit zu weit und er löste den 1905 entstandenen "Vorkonzilsausschuss" im Dezember 1906 kurzerhand auf. Nur durch den starken innerkirchlichen Reformwillen ist zu erklären, daß die Russische Orthodoxe Kirche kurz nach der Februarrevolution und der Abdankung des Zaren die "Einberufung des Allrussischen Landeskonziles" und die "zügige Durchführung einiger Veränderungen der kirchlichen Verwaltung" energisch in die Hand nahm (Beschluß des Heiligen Synodes vom 29. April 1917, Schulz, 29) und sofort Wahlordnungen und Arbeitsziele formulierte. Die Konzilswahlen, die "ersten freien und geheimen Wahlen in der Geschichte Rußlands überhaupt" (30) fanden Ende Juli/Anfang August statt, und das Konzil wurde am 15. August, dem Festtag "Entschlafen der Gottesmutter", in Moskau feierlich eröffnet. Die drei Sessionen (August 1917 bis September 1918) fanden unter dramatischen politischen Ereignissen statt, unter anderem in den Tagen der bolschewistischen Oktoberrevolution, und es ist erstaunlich, daß das Konzil so lange hat arbeiten können, wenn auch unter erschwerten Um-ständen und mit einer kleineren Teilnehmerzahl. Bemerkenswert ist ferner die Zusammensetzung der Teilnehmer mit ihrem starken Laienelement (zu Beginn 564 Mitglieder, davon 299 Laien, einschließlich der Theologen, die keine geistliche Weihen besaßen, 41).

Die bisherige schlechte Forschungslage machte ausführliche Forschungsarbeiten über Quellenlage und Druckeditionen des Konzilsmaterials notwendig (Hauptabschnitt 2). Die mühsame Sucharbeit ergab, daß das St. Petersburger (das 1995 erschienene Buch schreibt noch "Leningrader") Staatsarchiv "sehr wichtige Teile" des Konzilsmaterials enthält (68) und die Archivbestände in Moskau "nicht vollständig" sind, jedoch über eine "großartige Sammlung" verfügen (76). Gedruckte Materialien waren bis vor kurzem nur spärlich und fragmentarisch zu finden; an Druckausgaben wird im heutigen Rußland intensiv gearbeitet und einige Nachdrucke sind seit 1994 auch erschienen. Sch. liefert wichtige Ergänzungen zu seiner ursprünglichen Arbeit im 8. Hauptabschnitt "Nachtrag 1995" (178-184).

Im 3. Hauptabschnitt referiert der Vf. die Darstellungen des Landeskonziles in der westlichen und russischen Sekundärliteratur. Hauptabschnitt 4 berichtet eingehend über die Konzilsvorbereitungen. In der bisherigen Literatur wird in der Regel die Wiederherstellung des Patriarchates als das wichtigste Resultat des Landeskonziles dargestellt. Es ist auch ein sehr wichtiges Resultat, doch Sch. zeigt in seinem Buch, daß es nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern Bestandteil einer grundsätzlichen und umfassenden Arbeit über Kirchenleitung und Kirchenordnung ist. Aus den zahlreichen Themenkomplexen, über die das Konzil arbeitete, griff der Vf. das Problem der Gemeindeordnung heraus, um exemplarisch zu zeigen, welche tiefgreifende Reformen debattiert und beschlossen worden waren. Das Thema Gemeindeordnung wurde vom Konzil immer wieder als vorrangig aufgenommen, und dabei sahen sich die Konzilsväter durch die politischen Tagesereignisse besonders herausgefordert.

So meinte einer der prominentesten Redner in dieser Sache noch 1917: "Wir sind offensichtlich schon in eine neue Periode der russischen Geschichte eingetreten, nicht nur in politischer, sondern in noch tieferer Beziehung, die das geistliche Leben des russischen Volkes betrifft und zur völligen Trennung der Kirche und des Staates führt" (150).

Leitprinzip der Reformen nicht nur der Kirchenleitung, sondern auch der Ortsgemeinden war das sog. "sobornoe nacalo" oder die "sobornost’", das "ganzheitliche, katholische und konziliare Prinzip" (122), das eine intensive Beteiligung der Laien an der Gemeinde- und Kirchenleitung mit ein-schließt. Eine Frage, welche die historische Arbeit von Sch. nicht beantworten kann und muß, ist die Frage, ob sich dieses theologisch schöne und gut fundierte Prinzip in der Praxis etwa des heutigen Gemeindelebens im nachsowjetischen Russland auch tatsächlich wird verwirklichen lassen können, oder ob die Konzilsväter ­ bei aller Achtung ihrer großen Leistungen ­ nicht zu sehr von den Realitäten abgerückt gedacht haben.

Eine Fülle von Themen harrt der Bearbeitung. Weitere Editionen des umfangreichen Materials werden vorausgehen müssen. Über die Fragen von Staat und Kirche, der Funktion und Stellung von Klerus und Mönchtum, des inneren kirchlichen Lebens, der Verkündigung und Liturgie der Kirche, der theologischen Wissenschaft und Ausbildung, der kirchlichen Außenbeziehungen, der Fragen von Mission und Diakonie und vieles andere mehr wird noch viel zu forschen sein. Offensichtlich gab es ­ aus heutiger Sicht kühne ­ ökumenische Konzepte, wenn etwa die Vereinigung der Orthodoxie mit der altkatholischen und der anglikanischen Kirche "so schnell wie möglich" gefordert wurde (99).

Die vorliegende Untersuchung besticht durch ihre sorgfältige methodische Arbeit und ihren Materialreichtum. Das Buch enthält viele Aufzählungen und mag stellenweise trocken wirken, doch diese Zusammenstellungen finden sich sonst nirgends. Das Buch ist ein wesentlicher Forschungsbeitrag zu einem bisher schwierigen und weitgehend vernachlässigten Thema. Die Beilagen und Dokumente (185-205) sind wertvolle Ergänzungen.