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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

829-831

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Becker, Eve-Marie

Titel/Untertitel:

Letter Hermeneutics in 2 Corinthians. Stud­ies in »Literarkritik« and Communication Theory. Transl. by H. S. Heron.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2004. 224 S. gr.8° = Journal for the Study of the New Testament. Supplement Series, 279. Geb. £ 80,00. ISBN 978-0-567-08327-2.

Rezensent:

Reimund Bieringer

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Becker, Eve-Marie: Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief. Tübingen-Basel: Francke 2002. XIV, 319 S. gr.8° = Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 4. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-7720-3154-0.


Die Monographie von Eve-Marie Becker ist eine Dissertation, die an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg erstellt und im Wintersemester 2001/2002 angenommen wurde. Die Dissertation erschien 2002 in der Reihe »Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie« auf Deutsch und zwei Jahre später in leicht abgewandelter Form in englischer Übersetzung (von Helen Heron) in der Reihe »Journal for the Study of the New Testament Supplement Series«.
Die deutsche Publikation, die eine leicht bearbeitete und um neueste Literatur ergänzte Fassung der Dissertation ist, besteht aus vier Kapiteln, die nacheinander einen Überblick von den in der heutigen Forschung zum Zweiten Korintherbrief gängigen Zu­gängen geben (Kapitel 1), eine neue literarhistorischen Position zum 2Kor ausarbeiten (Kapitel 2), eine theoretische Grundlage der Briefhermeneutik entwickeln (Kapitel 3) und schließlich diese auf 2Kor anwenden (Kapitel 4). Ein ausführliches Literaturverzeichnis (279–310) sowie Register in Auswahl (»Stellenverzeichnis«: 311–316 und »Begriffe und Sachen«: 316–319) runden das Buch ab. In der englischen Fassung wurde Kapitel 3 auf etwa die Hälfte gekürzt, in Kapitel 4 wurde der Exkurs in einen Abschnitt umgewandelt und Kapitel 5 ganz neu hinzugefügt. Kapitel 5 umfasst eine Anwendung des in Kapitel 3 entwickelten briefhermeneutischen Zugangs auf 1Kor und eine rezeptionsgeschichtliche Studie des 2Kor in den ersten vier Jahrhunderten. B. formuliert »die erkenntnisleitende Frage« ihrer Untersuchung wie folgt: »Formuliert Paulus selbst im 2Kor Ansätze zu einer Briefhermeneutik? Wie lassen sich textinterne Hinweise finden, die die Prozesse des paulinischen Brief-Schreibens und der Brief-Rezeption rekonstruierbar machen?« (38)
Einleitend formuliert B. in dem Abschnitt »Fragestellung und These« (1–2) die zwei Thesen, die sie in ihrer Monographie verteidigt: Die erste, historische These lautet: »Der uns vorliegende 2Kor ist eine Kompilation aus vermutlich fünf Briefen, die im Zuge der Brieftradierung aus überlieferungstechnischen Gründen entstand«, und die zweite These lautet: »Paulus ist im Zuge seines Briefe-Schreibens insbesondere dadurch ein literarisch produktiver Brief-Autor, daß er sich selbst als erster Hermeneut seiner Briefe an die korinthische Gemeinde zu erkennen gibt« (2). Die beiden Thesen werden in vier Kapiteln ausgearbeitet. In Kapitel 1 diskutiert B. drei gegenwärtige methodologische Zugänge zum 2Kor, die Literarkritik, die Oralitäts- und Rhetorikforschung sowie die Epistolographie. Abschließend bespricht sie kurz »Sog. hermeneutische Beiträge zum 2Kor«. In Kapitel 2 stellt B. eine »literarhistorische Re­konstruktion« des 2Kor vor. Die Position von B. unterscheidet sich bewusst von der gängigen Literarkritik. Denn B. ist davon überzeugt, »daß – im Sinne der Literarkritik – die dekonstruierende Wahrnehmung von Brüchen, Wiederholungen etc. an der vorliegenden Textgestalt keine literarkritische Rekonstruktion der originären Textgestalt begründen kann« (95). Der Grund hierfür liegt darin, dass nach B. Inkohärenz »ein hermeneutisches Urteil des individuellen Textrezipienten darstellt und sich daher literarkritisch nicht wirklich auswerten läßt« (94). B. postuliert also eine Teilungshypothese aufgrund der »technischen Möglichkeiten von Brief-Kompilationen« (95) und, wie wir in Kapitel 4 sehen werden, aufgrund briefhermeneutischer und metakommunikativer Beobachtungen.
In seiner kanonischen Form sei der 2Kor »im Zuge der Abschrift und Konservierung der Briefe« (101) entstanden. Paulus habe die Briefe der korinthischen Korrespondenz auf Wachstäfelchen nach Korinth geschickt, wo man sie in der chronologischen Reihenfolge der Ankunft auf Papyrus übertragen habe. Der Vorteil dieser literarhistorischen Position liegt darin, dass sie ohne die Hypothese eines Redaktors auskommt und somit einen entscheidenden Schwachpunkt der traditionellen Teilungshypothesen vermeidet. Die Position von B. zeichnet sich aber auch dadurch aus, dass sie annimmt, dass die fünf Brieffragmente, die wir nach ihrer Überzeugung im 2Kor antreffen (1,1–7,4; 7,5–16; 8; 9; 10–13), genau in derselben zeitlichen Abfolge verfasst und versandt wurden, in der sie nun im kanonischen 2Kor vorliegen. Diese Hypothese ist vor allem insofern innovativ, als sie – soweit uns bekannt bisher einzigartig – 1,1–2,13 zusammen mit 2,14–7,4 zum Tränenbrief rechnet. In der Weiss-Bultmann-Hypothese war 2,14–7,4 zum Tränenbrief gerechnet worden, allerdings in Kombination mit 10,1–13,10. Es gab zuvor schon Positionen, die sowohl den Bruch zwischen 2,13 und 14 als auch zwischen 7,4 und 5 nicht akzeptierten und somit 2Kor 1–7 als ursprüngliche Einheit verstanden. Es ist jedoch neu, dass 1,1–7,4 als ursprünglich einheitliches Brieffragment angenommen wird.
In Kapitel 3 entwickelt B. eine Briefhermeneutik, die im Dialog mit Rhetorik-Forschung und oral criticism die Zusammenhänge zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache untersucht und »nach den kommunikativen und literarischen Spezifika der verschriftlichten Sprache« (103) fragt. Dabei übernimmt sie aus der Linguistik und Kommunikationswissenschaft den Begriff der Meta-Kommunikation und deren verschiedener Typen (Meta-Sprache, Meta-Narration, Meta-Argumentation, Inter-Textualität, Meta-Tex­tualität) und überträgt ihn auf den 2Kor.
Das 4. Kapitel, das mit seinen 133 Seiten mehr als die Hälfte des Buches umfasst, enthält die Exegese der für die Erarbeitung der Briefhermeneutik des 2Kor relevanten meta-kommunikativen Texte (1,1–2; 1,12–14; 2,3–4.8–9; 3,1–3; 6,11–13; 7,2–4; 7,8–9.12–13; 8,7–11; 9,1; 10,9–11; 11,4–6.17; 12,19 und 13,10). In der Analyse dieser Texte in exegetischer und kommunikationstheoretischer Perspektive liegt vielleicht der wichtigste Beitrag dieses Buches, wenn auch bisweilen der Ertrag der Diskussion nicht in einem proportionalen Verhältnis zum methodologisch aufgebotenen Arsenal zu stehen scheint. In diesem Kapitel sind auch die fünf hilfreichen Exkurse zu wichtigen kommunikationstheoretischen Aspekten des 2Kor (Co-Absenderschaft, γραφεῖν, sprechen, autobiographische Passagen, performative und meta-kommunikative Äußerungen) hervorzuheben. Im Rahmen dieses Kapitels bleibt B. nicht bei den kommunikativen, briefhermeneutischen Dimensionen des 2Kor stehen, sondern verweist auch auf die brieftheologischen Elemente. Nach B. »entsteht die paulinische Brieftheologie im 2Kor als meta-kommunikativer Überschuß aus der Meta-Kommunikation und ihrer briefhermeneutischen Valenz« (277). B. unterscheidet »primär inhaltsbe­zogene theologische Denk- und Sprachformen von derjenigen Theologie ..., die Paulus sekundär im Rahmen seiner briefhermeneutischen Überlegungen auf meta-kommunikativer Sprechebene formuliert« (278). Leider wird diese Unterscheidung am Ende des Buches nur angedeutet und nicht ausgearbeitet.
Dieses Buch ist für die wissenschaftliche Annäherung an den 2Kor in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Zum Ersten bringt die innovative und sperrige Teilungshypothese von B. Bewegung in die festgefahrene literarkritische Diskussion zum 2Kor. Sie stellt das inzwischen unreflektierte »Dogma« der Inkohärenz als Argument gegen die ursprüngliche Einheit infrage, wenngleich die angeführten Argumente die Vertreter der traditionellen Teilungshypothesen kaum überzeugen werden. Außerdem postuliert sie nicht 10,1–13,10, sondern 1,1–7,4 als den Tränenbrief und demonstriert damit ungewollt, wie subjektiv und konstruiert solche Zuordnungen im Letzten sind. In gewisser Weise ist die Teilungshypothese von B. diejenige, die der Annahme der ursprünglichen Einheit am nächsten steht. Sie geht nämlich davon aus, dass die ursprünglich selbständigen Briefe in der Reihenfolge der kanonischen Form des 2Kor verfasst wurden. Dies war bisher nur bei den Teilungshypothesen der Fall, die 2Kor 1–9 und 10–13 als Brieffragmente postulieren, die in dieser Reihenfolge geschrieben wurden. Außerdem lässt sie das Argument der Textinkohärenz nicht gelten. Zum Zweiten macht sie uns bewusst, wie wichtig die Berücksichtigung der »technischen Bedingungen antiker Briefproduktion und -rezeption« (103) gerade für die literarische und theologische Analyse des 2Kor (und anderer Paulusbriefe) ist. Schließlich zum Dritten, und hier liegt das wichtigste Verdienst diese Buches, arbeitet B. die meta-kommunikativen Aussagen des Paulus in 2Kor heraus und macht deutlich, was sie für eine Briefhermeneutik austragen.
Bei allem Wohlwollen für das Innovative dieses Buches bleiben Vorbehalte. Hinsichtlich der literarhistorischen Hypothese hat der Rezensent die Vermutung, dass die Annahme, der 2Kor sei aus mehreren ursprünglich selbständigen Briefen zusammengesetzt, für B. a priori ist. Es wird jedenfalls im Buch nicht überzeugend begründet. Wenn das Argument der Inkohärenz wegfällt und nur Produktion und Tradierung antiker Briefe als Begründung genannt werden, dann wird damit nur »die grundsätzliche Möglichkeit« (73), nicht aber die Realität einer Brief-Kompilation demonstriert. Der ganze 2Kor könnte auch (wenn überhaupt) als ein Brief auf Wachs­täfelchen geschrieben und dann in Korinth auf einen haltbareren Träger übertragen worden sein. Es ist auch zu bedenken: Wenn die kanonische Form des 2Kor wirklich dadurch zustande gekommen wäre, dass die sukzessive in Korinth angekommenen Briefe zur besseren Aufbewahrung nacheinander auf einen anderen Träger abgeschrieben worden sind, wäre zu erwarten gewesen, dass man sie mit Briefeingang und Briefschluss übertragen hätte. Die Erkenntnisse über die antike Briefproduktion und -tradierung favorisieren m. E. nicht einseitig Teilungshypothesen.
Darüber hinaus bleiben große Zweifel, ob 1,1–7,4 wirklich den sog. Tränenbrief darstellen kann. In gewisser Weise ist die Annahme, dass 2,3–4 zum Tränenbrief gehört, die überzeugendste Hypothese, weil Paulus gerade da sagt, dass er unter Tränen schreibt. Ansonsten hat aber 1,1–7,4 keineswegs den Charakter eines Tränenbriefs. Auch bleibt fraglich, ob ἔγραψα in 2,4 wirklich epistolographischer Aorist ist (185–188). Zudem stellt sich hier die Frage, wie 1,23 und dort vor allem oὐκέτι zu verstehen ist. Nach B. geben die Teilbriefe »Einblicke in die unterschiedlichen Phasen der Kommunikation des Paulus mit den Korinthern« (101). Die Annahme einer Teilungshypothese ist nach B. für das Verständnis der paulinischen Briefhermeneutik in der korinthischen Korres­pondenz von entscheidender Bedeutung. Es bleibt jedoch die Frage, ob die Hypothese der Teilung für das Verständnis der Briefhermeneutik wirklich notwendig ist. Auch in der Perspektive der Annahme der ursprünglichen Einheit ist es möglich, eine, wenn auch in manchen Punkten andere, Briefhermeneutik und Brieftheologie zu entwickeln.
Trotz dieser kritischen Anmerkungen und Anfragen ist der Rezensent davon überzeugt, dass diese lesenswerte Monographie einen wichtigen Beitrag zu zentralen Fragen der 2Kor-Forschung liefert und Bewegung in die vielfach festgefahrenen Diskussionen bringt.