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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

94–96

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Mensen SVD, Bernhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Rußland –­ Politik und Religion in Geschichte und Gegenwart.

Verlag:

Nettetal: Steyler 1995. 269 S. gr.8° = Akademie Völker und Kulturen St. Augustin, 18. Kart. DM 39,­. ISBN 3-8050-0363-3.

Rezensent:

Hans-Dieter Döpmann

Bei der Umwälzung nach dem Auseinanderbrechen der Weltmacht UdSSR und dem Ende des Kommunismus als staatstragender Ideologie tauchen Probleme und Fragen über Land und Leute auf, zu deren besseren Verständnis die Akademie beitragen möchte. Dies geschieht im vorliegenden Band durch fünf renommierte Sachkenner in ganz unterschiedlichen, einander ergänzenden Beiträgen.

Erwin Oberländer, Leiter des Instituts für Osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz, zeigt im Kapitel über Rußland zwischen Europa und Asien ­ Geschichte und aktuelles Selbstverständnis (9­27), wie die in der Geschichte wirksamen Tendenzen noch in der gegenwärtigen Politik Rußlands von Bedeutung sind. Er unterscheidet dabei drei Perioden: 1. das ganz auf Europa ausgerichtete Kiever Reich des Mittelalters, abgelöst von der Tatarenherrschaft, die in Verbindung mit der sich vertiefenden Kirchenspaltung eine gewisse Abkehr von Europa bewirkte; 2. das Großfürstentum und spätere Zartum Moskau in bewußter Isolierung sowie als selbsternannter Hüter des wahren Christentums gegenüber der lateinischen Häresie; 3. die bewußte Hinwendung zu Europa unter Peter d. Gr. mit einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem europäischen Rußland und seinen asiatischen Besitzungen, die ­ obwohl von den Slawophilen in Frage gestellt ­ bis zum Ende des Russischen Reiches 1917 politisch maßgebend blieb. Auf der heutigen Suche nach einer neuen, postkommunistischen Identität wird zum großen Teil an klassische Positionen der russischen Intelligencija angeknüpft. Der Vf. erläutert 1. die Option der "Westler", die den Weg der pluralistischen liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft verfolgen, 2. die vom Slawophilentum inspirierte Option der großrussisch-nationalistischen Fundamentalisten und 3. einen ebenfalls konservativen Weg, der Rußland als eurasische Macht und nicht als Teil der europäischen Staatenwelt versteht.

Gerhard Simon, Wiss. Direktor am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln, behandelt Das Entstehen neuer Staaten auf dem Territorium der früheren Sowjetunion (29­44). Es vollzog sich eine Anti-Revolution, die mit dem Ziel, die Revolution von 1917 und deren Folgen rückgängig zu machen, an frühere historische Entwicklungen an-knüpfen wollte. Während die Kommunistische Revolution aus dem Vielvölkerstaat eine einheitliche, zentralgelenkte Macht er-strebte, setzten sich die Nationalitäten durch und führten zur Auflösung der UdSSR. Ungelöste Probleme bleiben, zumal kaum ein Nachfolgestaat eine ethnisch homogene Bevölkerung hat.

Von Uwe Halbach aus demselben Bundesinstitut in Köln wird Der Islam in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (45­60) charakterisiert. Da bisher über den Islam in der UdSSR ein Mangel an Sachkenntnis bestand, leidet die heutige Berichterstattung an unzutreffenden Generalisierungen. Gegenüber der im Westen verbreiteten Vorstellung eines Kulturmonolithen, einer einheitlichen Welt des Islam, schildert der Vf., daß die für die Sowjetzeit zutreffende Unterscheidung zwischen einem weithin befolgten Kultur- bzw. Brauchtumsislam und einem entschwundenen Glaubensislam inzwischen hinfällig geworden ist. Er veranschaulicht regionale Differenzierungen in den asiatischen Republiken sowie in Rußland und behandelt schließlich "fundamentalistische" Gruppierungen.

Der weitaus größte Teil des Buches (61­235) bietet eine Zusammenstellung sehr instruktiver Beiträge von Gerd Stricker, Redakteur von GLAUBE IN DER 2. WELT, in denen er sich außer langjähriger wissenschaftlicher Tätigkeit zugleich auf die Erfahrungen vieler vor Ort geführter Gespräche stützt. Die Breite der von ihm behandelten Thematik erlaubt nur wenige Hinweise.

Die Russisch­Orthodoxe Kirche [ROK] in Geschichte und Gegenwart (61­105) verbindet einen knappen Überblick über die Hauptepochen mit Hinweisen auf Reformanliegen zu Beginn unseres Jh.s, die auch von Männern wie Johannes von Kronstadt und Patriarch Tichon vertreten wurden. Für die Zeit seit 1917 wird ein erschütterndes Bild der Verfolgungen gezeichnet, dazu die sehr unterschiedliche Weise, wie Christen ihr Christsein und die Existenz ihrer Kirche zu gewährleisten versuchten.

Geschildert wird eine 1. Phase nicht zentral gesteuerter Kirchenverfolgung, eine 2. Phase systematischer Kirchenvernichtung, eine 3. Phase der offiziell "registrierten" Kirche, 4. Chruschtschows seinerzeit im westlichen Ausland viel zu wenig zur Kenntnis genommener antireligiöser Feldzug, durch den die ROK u. a. mehr als die Hälfte ihrer Gemeinden verlor, 5. Verfeinerte Repressionsmaßnahmen seit 1962, 6. Die "ecclesia pressa" als Kampf ums Überleben, 7. Perestrojka und Wende, dazu eine Statistik über die ROK 1917­1995.

Das Kapitel über "Problematik der Religionsfreiheit" charakterisiert sehr anschaulich die Vielschichtigkeit der für das Moskauer Patriarchat entstandenen Situation, z. B. im Verhältnis zu gleichen Rechten anderer Kirchen und Gemeinschaften, insbesondere in der Ukraine. Geschildert wird die durch verschiedene innerkirchliche Tendenzen veranlaßte Identitätskrise, nicht zuletzt durch zahlreiche Neugläubige, die die Gemeinden als politische Manövriermasse mißbrauchen. Dies spiegelt sich im Verhältnis zur Ökumene wider.

Auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen verweisen die Abschnitte über die mit einander konkurrierenden russisch-orthodoxen Jurisdiktionen bzw. Gruppierungen: Moskauer Patriarchat ­ Auslandskirche ­ Katakombenkirche ("Selbstherrlichkeit und Selbstgerechtigkeit sind Kardinalübel unter der Geistlichkeit der Katakomben" 94), schließlich die unterschiedlichen Positionen hinsichtlich der Gottesdienstsprache und einer Liturgiereform.

Nur erwähnt seien Strickers weitere Ausführungen (106 ff.) über: Kirchliche Gruppierungen auf orthodoxer Grundlage einschließlich traditioneller und neuer Sekten, Griechisch-katholische Kirche ­ Union von Brest, Die katholische Kirche auf dem Boden des Russischen Reiches, der Sowjetunion und der Nachfolgestaaten, Evangelisches Kirchenwesen der Deutschen im Russischen Reich, in der Sowjetunion und in deren Nachfolgestaaten, Evangelische Kirche im Baltikum, Freikirchentum. Hervorgehoben seien schließlich die einfühlsamen Darlegungen über das Judentum in Rußland, seine Stellung in Staat und Gesellschaft vom 18. Jh. bis zur Gegenwart mit Hinweisen auf die Haltung der ROK.

Die von Stricker abschließend gebotene Bibliographie sei ergänzt durch den Hinweis auf die inzwischen von ihm selbst herausgegebene reichhaltige Quellensammlung zum Verhältnis von Kirche und Staat in der Sowjetzeit: Russkaja Pravoslavnaja Cerkov’ v sovetskoe vremja (1917­1991). Materialy i dokumenty po istorii otnosenij mezdu gosudarstvom i Cerkov’ju, 2 Bde., Moskau 1995.

Schließlich analysiert Klaus Blech, der die Zeit der Umwandlungen als Botschafter in Moskau unmittelbar miterlebte, in seinem Beitrag über Rußland in der internationalen Politik ­ Chancen der Partnerschaft, Risiken der Konflikte (237­259) die derzeitige politische, wirtschaftliche und soziale Situation, verdeutlicht Gorbatschows Perestroika als Weg aus der Stagnation des Systems und geht auch auf die Rolle Deutschlands ein.

Bei Gesamtdarstellungen und deren Interpretation wird der sachkundige Leser manches vermissen bzw. an manchen Stellen anderer Meinung sein. Das vorliegende Werk bietet aber nicht nur eine beachtliche Fülle von Informationen, sondern es erfüllt in hohem Maße die Zielstellung, heutige Entwicklungen und deren Hintergründe dem Leser zu verdeutlichen.