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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

812-814

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Gußmann, Oliver

Titel/Untertitel:

Das Priesterverständnis des Flavius Josephus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XIV, 514 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 124. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-149562-5.

Rezensent:

Claudia Losekam

Die an der theologischen Fakultät der Universität Erlangen unter der Betreuung von Oda Wischmeyer entstandene Dissertation schließt eine Lücke innerhalb der Josephusforschung und bildet einen unverzichtbaren Beitrag zum Verständnis des jüdischen Pries­tertums im 1. Jh. n. Chr. Ihr Ausgangspunkt liegt im biographischen Detail des Priesterseins des Josephus. So formuliert G. in der Einleitung: »Das Vorhaben meines Buches ist es, Josephus’ Person und Werk von seinen priesterlichen Wurzeln her zu verstehen« (3). Der zwar bekannte, aber bisher in der Josephusforschung für die Interpretation wenig beachtete biographische Aspekt sowie das in seinen Werken vorhandene starke Interesse »an der institutionell-hierarchischen Kategorie des Priestertums« (25) bilden die Basis für die Grundthese G.s: »Das Werk des Josephus ist auf dem Hintergrund seiner priesterlichen Herkunft besser zu verstehen« (26).
Die »autorenzentrierte«, primär an der Rekonstruktion des Pries­terverständnis des Josephus interessierte Studie wird im Kontext sozialer, kultureller, gesellschaftlicher, politischer und religiöser Perspektiven des jüdischen Priestertums im 1. Jh. n. Chr. erarbeitet. Daraus resultiert der zweigliedrige Aufbau. Der erste Hauptteil (»Voraussetzungen und Grundlagen«, 29-265) enthält eine kom­-primierte Übersicht gegenwärtiger Kenntnisse über das jüdische Pries­tertum bis in das 1. Jh. n. Chr. (Kapitel 2, 31–197) und die Beschäftigung mit der Person des Josephus als Priester (Kapitel 3, 198–264). Im zweiten Hauptteil (»Schwerpunkte in der Priesterauffassung bei Josephus«, 269–409) arbeitet G. Kernpunkte im Priesterverständnis des Josephus heraus. Beide Hauptteile sind durch häufige Querverweise aufeinander bezogen.
Die Skizzierungen des jüdischen Priestertums innerhalb des ersten Hauptteils enthalten neben semantischen Beobachtungen (31–33) sowie einer religionswissenschaftlichen Definition (34–38) eine Kurzfassung der Geschichte des Priestertums von der biblischen über die nachbiblische Zeit bis zum 1. Jh. n. Chr. (39–92). Ergänzend schließt G. eine systematisch-inhaltlich ausgerichtete Darstellung des Priestertums an, die priesterliche Sozialstrukturen, Ausbildung und Amtseinführung, Funktion in Opferkult und Liturgie sowie als Lehrer und Richter, priesterliche Reinheits- und Heiligkeitsvorstellungen und wichtige mit Priestern verbundene religiöse Vorstellungen aufweist (92–171). Die knappe Schilderung des Priesterverständnisses Philos (171–181) und ein grober Vergleich zwischen jüdischem und römischem Priestertum (181–197) vervollständigen den Referenzrahmen für das Priesterverständnis des Josephus. Bevor G. sich den Schwerpunkten der josephischen Priesterauffassung zuwendet, expliziert er die biographische Komponente des Priesterseins des Josephus (198–265). G. fasst das Pries­tersein des Josephus als eine Art Grundkonstitution auf, mittels der Josephus seine verschiedenen Funktionen als Politiker, Diplomat, Prophet, Geschichts- und Bibelinterpret wie auch seine herausragende gesellschaftliche Stellung legitimiere.
Die Schwerpunkte der josephischen Priesterauffassung, die G. im zweiten Hauptteil entfaltet, sind: Josephus’ Verständnis der hohepriesterlichen Genealogie als Geschichte (Kapitel 4 »Genealogie und Hohepriestergeschichte«, 269–287), die prophetische Begabung der Hohenpriester (Kapitel 5 »Priestertum und Prophetie«, 288–305), die religiösen, kultischen und jurisdiktionellen Aufgaben der Priester innerhalb eines theokratischen Verfassungsentwurfs (Kapitel 6 »Die Priester in der Verfassungsform der Theokratie«, 306–324), Josephus’ Charakterisierung des Tempels als Ort der Heiligkeit und Reinheit (Kapitel 7 »Der Tempel und seine Geschichte aus der Sicht des Priesters Josephus«, 325–365) und die symbolische Bedeutung der Priestergewänder (Kapitel 8 »Textilien und Texte. Priestergewänder bei Josephus«, 366–409). – Eine Zusammenfassung (Kapitel 9, 410–418), die Charakterisierung amtierender Hohepriester zu Josephus’ Lebzeiten (Anhang I, 419–429) sowie eine bildliche Rekonstruktion priesterlicher Kleidung nach Angaben des Josephus (Anhang II, 432–433) runden die Studie ab.
Das Spezifische im Priesterverständnis des Josephus fasst G. in vier Punkten (414–417) zusammen: die symbolische Abbildung von Heils- und Weltgeschichte am Aussehen und Schicksal des Hohepriestergewands, die rechte Abstammung als notwendige Voraussetzung für das Priestertum, eine Idealisierung der hasmonäischen Priesterkönige und die Anerkennung der Priester und Hohenpries­ter als höchste jüdische Autoritäten. Deutet G. hier eine Zuspitzung des josephischen Priesterverständnisses an, so lässt sein Fazit (»Josephus ist in seinen Werken ein einzigartiger Zeuge für das letzte Jahrhundert des jüdischen Priestertums. Er beschreibt die Institutionen ›Tempel‹ und ›Hohepriestertum‹ in ihrer ehemaligen geschichtlichen und politisch-nationalen, kultischen und ästhetisch-kulturellen Bedeutung.« [417]) eine eindeutige Unterscheidung zwischen der Ansicht des Josephus und dem historisch exis­tenten Priestertum im 1. Jh. n. Chr. vermissen.
Die methodische Schwierigkeit, die mit der Heranziehung des Josephus selbst für die Entfaltung der systematischen Religionsstruktur des Priestertums im 1. Jh. n. Chr. verbunden ist, formuliert G. ausdrücklich (92). Von daher hinterlässt das Fazit den Eindruck einer Vereinfachung, als liege hier die Beschreibung einer vergangenen Institution vor, deren Intention darüber hinaus einzig im apologetischen und historiographischen Interesse Josephus’ gegenüber Nichtjuden (417) greifbar würde. Erschöpft sich die Intention des Josephus in der Beschreibung einer faktisch vergangenen Institution? Oder versteht er möglicherweise das Priestertum auch als Basis einer Neukonstituierung der jüdischen Religion? Diese Fragen stehen zwar nicht im Vordergrund des Interesses der vorliegenden Studie, helfen jedoch die herausgearbeiteten Ergebnisse differenziert zu betrachten.
Kleinere kritische Anmerkungen betreffen die Bearbeitung der Hohepriestergeschichte und die Rekonstruktion der Priestergewän­der. Gemessen an der Bedeutung der religiösen und politischen Stellung der Hohenpriester (416) im Verständnis des Josephus wäre eine Ausweitung der Analyse der josephischen Hohepriestergeschichte über die gut analysierte und übersichtlich dargestellte Be­deutung der hohepriesterlichen Genealogien (276 f.) hinaus wünschenswert. Die farblichen Rekonstruktionszeichnungen der Pries­tergewänder nach den Beschreibungen des Josephus im Anhang (432 f.) erleichtern einerseits den Nachvollzug der symbolischen Deutung, bergen gleichzeitig jedoch die Gefahr, Annäherung und historische Rekonstruktion gleichzusetzen. Eine visuelle Festlegung ebnet vorhandene »Unwägbarkeiten« (369, Anm. 16) in der Darstellung einzelner Gewandteile ein und schränkt Interpretationsmöglichkeiten symbolischer Deutungen ein.
Im Ganzen gesehen handelt es sich hier um eine sehr gelungene, verlässlich an den Originalschriften recherchierte und übersichtlich, teilweise in Form von Tabellen gestaltete Publikation. Die Aufarbeitung des Materials zum Priesterverständnis des Josephus ist eine wichtige Voraussetzung für die Erforschung der Neuformierung der jüdischen Religion nach 70 n. Chr. Die Bedeutung der Arbeit für die Josephusforschung im Besonderen und die Erforschung des antiken Judentums im Allgemeinen bestätigt die Auszeichnung der Studie mit dem Adolf-Schlatter-Preis 2009. Der von der Adolf-Schlatter-Stiftung seit 2002 alle zwei Jahre vergebene Preis zur Förderung christlicher Theologie wird in Tübingen überreicht.