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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

806-808

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gzella, Holger, u. Margaretha L. Folmer [Eds.]

Titel/Untertitel:

Aramaic in its Historical and Linguistic Setting.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2008. VII, 388 S. gr.8° = Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Veröffentlichungen der Orientalischen Kommission, 50. Geb. EUR 56,00. ISBN 978-3-447-05787-5.

Rezensent:

Christian W. Hess

Mit einer Vielzahl von Quellen und einer ununterbrochenen Überlieferung, die fast 3000 Jahre zurückreicht, bleibt das Aramäische ein fruchtbares Forschungsgebiet der Semitistik. Dabei kann nicht geleugnet werden, dass die Erforschung des Aramäischen erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt: Kaum einer Person wird es noch möglich sein, alle Dialekte und Sprachstufen gleich zu beherrschen. Zudem muss bedacht werden, dass das Aramäische stets mit anderen Sprachen und Kulturen in Kontakt stand, die erheblichen Einfluss auf seine Entwicklung ausübten.
Es ist den Herausgebern des vorliegenden Tagungsbands gelungen, 20 Beiträge zu verschiedenen Themen und Schwerpunkten zusammenzubringen, die gleichzeitig die Vielfalt der Aramaistik hervorheben und einen Überblick über die heutige Forschung liefern. Die Aufsätze sind grob zeitlich geordnet, vom Alt- zum Neuaramäischen.
Wenige der Beiträge sind stark diachron ausgerichtet. Eine Ausnahme bietet z. B. der erste Beitrag von O. Jastrow, »Old Aramaic and Neo-Aramaic: Some Reflections on Language History« (1–10). Jastrow präsentiert die These, dass die Phonologie in der Entwick­lung zyklisch sei, Morphologie aber wohl nicht oder zumindest seltener. Phoneme fallen zusammen, woraus sich Allophone entwi­ckeln, aus diesen dann wieder Phoneme im Neuaramäischen, was sich an den bgdkpt-Lauten nachweisen lässt.
Die stärksten Beiträge sind die, die dem Titel Rechnung tragen und über die Grenzen der Aramaistik hinausgehen. Es folgen drei Beispiele von Aufsätzen zu verschiedenen Sprachstufen:
Zur Zeit der frühesten altaramäischen Texte stand die Sprache sicherlich im Schatten des Akkadischen. A. Lemaires (»Remarks on the Aramaic of Upper Mesopotamia in the Seventh Century B. C.«, 77–92) Hauptanliegen ist eine Reihe neuer Lesungen zu einigen Texten, die er selbst in Nouvelles Tablettes Araméennes (Genève 2001) veröffentlicht hat, sowie zu wenigen Stellen der Texte aus Tell Shiukh Fawqani. Lexikalische Überlegungen zu diesen Texten führen aber schnell zu postulierten Lehnbeziehungen zwischen dem Aramäischen und dem Neuassyrischen, besonders im Bereich der Amts- und Wirtschaftssprachen. Das Ergebnis ist eine Charakterisierung des assyrischen Reiches als assyrisch-aramäisches Imperium: Sprachen und Kulturen standen nicht in Konkurrenz miteinander, sondern nebeneinander in Symbiose. Vier neue Wirtschaftstexte werden als Anhang geboten.
W. van Peursen (»Language Variation, Language Development, and the Textual History of the Peshitta«, 231–256) bespricht den Einfluss der hebräischen Vorlage auf die Sprache der syrischen Peschitta. Kann die Textgeschichte der syrischen Übersetzung noch als einfache Bewegung von einer sich stark nach dem Hebräischen richtenden syrischen Übertragung zu einem wohlgeformten, idiomatischen syrischen Text betrachtet werden? Auch wenn kein Zweifel besteht, dass die hebräische Vorlage die Sprache der Pe­schitta beeinflusst hat, reichen manche der bisher diskutierten Beispiele, wie das Fehlen des Pronomens als Copula im nichtverbalen Satz oder die Genitivkonstruktion ohne ḏ- dafür nicht aus. In vielen Fällen sei eher von einer sprachlichen Entwicklung innerhalb des Syrischen selbst auszugehen. Der Beitrag dient als Mahnung gegen eine allzu vereinfachte Betrachtung von Lehnbeziehungen und Interferenzen.
Vor dem Hintergrund der Herausbildung der unierten Ostkirchen untersucht H. Murre-van den Berg (»Classical Syriac, Neo-Aramaic, and Arabic in the Church of the East and the Chaldean Church between 1500 and 1800«, 335–352) die Verteilung des Syrischen, Neuaramäischen und Arabischen in der literarischen Produktion der Gemeinden. Der Aufsatz beginnt mit einem guten Überblick über die verschiedenen Verwendungsweisen, die sich, besonders im Bereich der liturgischen Hymnen, oft überschneiden. Das Syrische blieb wohl in dem Zeitraum dominant, konkurrierte aber zunehmend mit dem Neuaramäischen und Arabischen, was erklärungsbedürftig scheint. Von einem im Verfall begriffenen Syrisch, das allmählich von Neuaramäisch und Arabisch abgelöst wird, könne nicht die Rede sein. Vielmehr seien andere Faktoren zu berücksichtigen für die jeweilige Sprachwahl: die Stellung des Arabischen als Prestigesprache in den Städten und größeren Dörfern gegenüber dem ländlichen Neuaramäischen; die Verwendung des Arabischen zur Betonung der Einheit der chaldäischen Kirche mit anderen unierten Kirchen; oder der Gebrauch des Neuaramäischen in einigen Gemeinden zum Ausdruck eines aufsteigenden Nationalbewusstseins sowie der sich entwickelnden Rivalität mit den katholischen Kirchen. Die These zum sprachlichen Niederschlag konfessioneller und nationaler Auseinandersetzung unter dem Osmanenreich ist interessant, wenn auch hier nur grob skizziert.
Als Nebenprodukt liefert die Betonung auf sprachliche und historische Kontexte des Aramäischen in den Aufsätzen genügend Denkanstöße für Nachbarbereiche. Wenn z. B. J. Joosten (»The Septuagint as a Source of Information on Egyptian Aramaic in the Hellenistic Period«, 93–105) die Vermittlerrolle der aramäischen Sprache und Aussprache in der Verfassung der Septuaginta betont, was bleibt von dem Griechischen der Septuaginta als Quelle für das He­bräische? Diskussionen wie die zum Erhalt von etymologischem ġ im Hebräischen aufgrund von Γάζα zu hebr. ‘Azzā könnten negativ ausfallen, wenn das Phonem auf aramäische Vermittlung und nicht auf die hebräische Vorlage zurückgeht. Ebenso fordert der wiederholte Vorschlag A. Lemaires (83), das hebräische Purim-Fest habe einen direkten neuassyrischen Vorläufer, sicherlich eine Antwort seitens der alttestamentlichen Wissenschaft.
Es ist dann nicht als Schwäche des Buches zu sehen, dass einige aramaistische Einzelprobleme, die aufgeworfen werden, von anderen Forschungsbereichen hätten beleuchtet oder geklärt werden können. So ist A. Lemaires weiterer Vorschlag (82), die neuassyrische Sekundärbedeutung »dienen« von akkadisch palāḫu »fürchten« auf aramäisch plḥ zurückzuführen, sicherlich falsch: Auch im älteren Akkadischen besitzt palāḫu eine wesentlich breitere Semantik als »fürchten«, bis hin zu »jmd.m dienen« oder »(eine Gottheit) verehren«. Gleichfalls kann die Schwierigkeit S. E. Fassbergs (»The Forms of ›Son‹ and ›Daughter‹ in Aramaic«, 41–54), die keilschriftlich be­zeugte Form bur neben bar und bir für »Sohn« zu erklären, zumindest zum Teil behoben werden, indem die Vokalindifferenz mancher KVK-Zeichen im 1. Jt. v. Chr. berücksichtigt wird. So verzeichnet K. Radner (Hrsg.), Prosopography of the Neo-Assyrian Em­-pire 1/II (1999), 353–356, keine Belege für eine eindeutige Schreibung bu-ur im Onomastikon.
Insgesamt ist es den Herausgebern und Autoren gelungen, einen Tagungsband zu veröffentlichen, der nicht nur erfolgreich Themenbereiche des Aramäischen behandelt, sondern auch außerhalb der Aramaistik auf Interesse stoßen dürfte.