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Ausgabe:

Juli/August/2010

Spalte:

805-806

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Dummer, Jürgen, u. Meinolf Vielberg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Leitbilder im Spannungsfeld von Orthodoxie und Heterodoxie.

Verlag:

Stuttgart: Steiner 2008. 178 S. gr.8° = Altertumswissenschaftliches Kolloquium, 19. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-515-09241-8.

Rezensent:

Christoph Markschies

Die glückliche Konstellation, dass durch Neuberufungen nach 1990 an der Friedrich-Schiller-Universität in verschiedensten Fakultäten und Instituten Kolleginnen und Kollegen eingestellt worden waren, deren Forschungsschwerpunkt die Spätantike bildet, war die Voraussetzung dafür, dass der Byzantinist Jürgen Dummer und der Latinist Meinolf Vielberg die Initiative für ein Graduiertenkolleg ergreifen konnten – 1998 wurde es unter dem Titel »Leitbilder der Spätantike« eröffnet und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft über die möglichen drei Perioden bis 2007 gefördert. Der Rezensent hatte die Ehre und das Vergnügen, dem Projekt als Jenaer Kirchenhistoriker während seiner ersten Periode anzugehören. Wie hierzulande oft üblich, gründete das Graduiertenkolleg seine eigene Veröffentlichungsreihe unter dem Titel »Altertumswissenschaftliches Kolloquium«, in dem einige der Qualifikationsarbeiten der Stipendiaten, Aufsatzsammlungen der Träger des Kollegs und die diversen Beiträge der durchgängigen Ringvorlesung zum Thema »Leitbilder« erschienen sind, die über viele Semester stattfand und unter anderem der Klärung des neuzeitlichen Zentralbegriffs »Leitbilder« dienen sollte. Legt man die diversen, jeweils von Dummer und Vielberg herausgegebenen Bände nebeneinander (Leitbilder der Spätantike – Eliten und Leitbilder, AwK 1, 1999; Leitbilder in der Diskussion, AwK 3, 2001; Leitbilder aus Kunst und Literatur, AwK 5, 2002; Leitbild Wissenschaft?, AwK 8, 2003; Zwischen Historiographie und Hagiographie, AwK 13, 2005; Der Fremde – Freund oder Feind? Überlegungen zu dem Bild des Fremden als Leitbild, AwK 12, 2004, samt dem hier angezeigten) und den Berichtsband einer gemeinsamen Tagung mit einem Münsteraner Projekt (J. Hahn/M. Vielberg [Hrsg.], Formen und Funktionen von Leitbildern, AwK 17, 2007) dazu, so haben die Jenaer ein beeindru­ckendes Panorama eines besonderen prosopographischen, personenorientierten Zugriffs auf die Spätantike vorgelegt. Die Chancen dieses Zugriffs sieht man nochmals am vorliegenden Band:
Auch wenn zum Thema »Orthodoxie und Heterodoxie« in der Antike viel, vielleicht in letzter Zeit sogar zu viel geschrieben wurde, ermöglicht die strikte Konzentration auf Personen oder Personifikationen neue Ergebnisse oder jedenfalls die Vertiefung neuer Sichtweisen:
Hanns Christof Brennecke behandelt Marcions Gottesbild (11–28) und referiert dabei zustimmend eine eher nebenbei vorgetragene hintergründige Frage Barbara Alands, ob wirklich sicher sei, dass Marcion zwei Götter als zwei separate Individuen gelehrt habe oder dies eine jahrhundertelang tradierte Ketzerpolemik sei (23 f.). Ernst Dassmann und Michael Durst fassen die Erträge ihrer ausführlichen Untersuchungen zu Ambrosius von Mailand und Hilarius von Poitiers zusammen (29–46 bzw. 47–99); Durst gibt die Zitate aus den Schriften des Hilarius über die Synoden der Jahrhundertmitte schon nach seiner in Vorbereitung befindlichen Edition im Wiener Kirchenväterkorpus und ergänzt den biographischen Abriss zu Hilarius durch eine bemerkenswert dicht geratene Rezeptionsgeschichte in der spätantiken kirchlichen Literatur mit reicher Do­kumentation in den Anmerkungen (58–99). Thomas Kremer widmet sich nochmals der Kontroverse zwischen Ephraem dem Syrer und Bardaisan (119–155), wobei er die langandauernde Debatte über die geistesgeschichtliche Verortung des Verfassers des »Buchs der Gesetze der Länder« klug zusammenfasst – seine Anregung, auch Quellen aus der »religiösen und weltanschaulichen Vorstellungswelt der Partherzeit« heranzuziehen (127), ist löblich, wird aber im Beitrag selbst nur ansatzweise eingelöst (142 f.148 f.), obwohl jetzt zur Religion des Partherreichs gute neuere Überblicksdarstellungen vorliegen. Die Akten zu Bardaisan sind also noch nicht zu schließen, sondern könnten gerade auf der Basis dieses Beitrags um ein neues Kapitel erweitert werden.
Man möchte wünschen, dass – insbesondere im Blick auf die diversen Bände mit personalen oder personalisierten Leitbildern – von den Jenaer Protagonisten noch einmal zusammenfassend festgehalten wird, was die Ergebnisse der neunjährigen Beschäftigung mit der Spätantike unter diesem Thema waren – die Frage könnte literaturwissenschaftlich gewendet werden: Wie wirken sich Leitbilder bei der Abfassung von Biographien aus? Sie könnte natürlich auch theologiegeschichtlich gewendet werden: Wie förderte die Reichskirche des 4. Jh.s die Propagierung von Orthodoxie und die Denunziation von Heterodoxie durch Leitbilder? Und mancherlei andere Wendungen der Frage für diverse andere Disziplinen, beispielsweise die Rechtsgeschichte, sind denkbar. Der Band enthält, wie auch seine Vorgänger, viel relevantes Material für die notwendigen Antworten, aber keine zusammenfassende Theorie (wenn man vom Versuch von Judith M. Lieu absieht, die Paradigmen »Identität« und »Gedächtnis« zur Reformulierung alter Fragen zu verwenden: 157–170).