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Ausgabe:

Januar/2010

Spalte:

3-20

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Heiko Schulz

Titel/Untertitel:

Alter Wein in neuen Schläuchen oder der Siegeszug des Trivialen
Zur Kritik des sogenannten Neuen Atheismus

Der Ausdruck New Atheism taucht zum ersten Mal Ende 2006 in einem Artikel der Zeitschrift Wired auf. Er dient hier als Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Philosophen, Natur- und Sozialwissenschaftlern, denen bei aller Verschiedenheit im Detail eines gemeinsam ist: die Attitüde eines gleichermaßen aggressiven wie missionarischen Atheismus. Dieser verbindet sich mit der gezielt provokanten These, mithilfe ›neuer‹ Argumente aus Physik, Evolutions- und Soziobiologie, Psychologie, Philosophie, Kognitionswissenschaft und Sozialanthropologie sei es nunmehr möglich, dem ›Wahn des Gottesglaubens‹ und der Religion, insbesondere in deren institutionalisierter Form, den längst fälligen Todesstoß zu versetzen. Den vermeintlichen Obskurantismus der Religion be­wusst konterkarierend nennen sich die Anhänger dieser zum Kreuzzug der Vernunft angetretenen Bewegung nur scheinbar selbstironisch ›Brights‹ (die Hellen, sprich: Klugen). Entsprechend clever setzen sie sich und ihr Anliegen weltweit in Szene: nicht nur durch zahlreiche, zum Teil unter YouTube im Netz abrufbare Interviews und Filmsequenzen, sondern auch durch eine Inter­-net-Plattform (www.the-brights.net) mit deutscher Dependance (www.brights-deutschland.de).

Zeitlich knapp versetzt zu der von Anfang an auch in den Me­dien intensiv geführten Diskussion in den USA und Großbritannien formiert sich mittlerweile eine deutsche bzw. deutschsprachige Gegenbewegung, die – obschon nach Stil und Gestus in der Regel weit weniger polemisch – gleichfalls auf eine grundsätzliche Kritik des naturalistischen Atheismus zielt. Hierzu sind ne­ben einer Reihe von Aufsätzen und Zeitschriftenartikeln inzwischen auch einige Sammelbände und Monographien erschienen, die abgesehen von zahlreichen bedenkenswerten Argumenten zu­mindest dies mit aller Deutlichkeit zu erkennen geben, dass man den selbsternannten hellen Köpfen aus der Gottesleugnerriege das Feld nicht kampflos überlassen will.1 Einschlägige Stellungnahmen sind da­bei allerdings in der Regel begrenzt auf eine Auseinandersetzung mit Richard Dawkins, dem publizistisch-populistischen Doyen der Atheistenszene, dessen religionskritisches Hauptwerk Der Gotteswahn mittlerweile in 31 Sprachen übersetzt wurde und allein im ersten Jahr seines Erscheinens in Deutschland sieben Auflagen verzeichnete. Nicht zuletzt aufgrund der genannten rezeptionshistorischen Engführung scheint es jedoch ratsam, den Blickwinkel zu erweitern, und zwar im Sinne eines vorläufigen Resümees zum gegenwärtigen Stand der Diskussion über die Dawkins-Debatte hinaus. Zu diesem Zweck werde ich mich im Folgenden auf einige (a) systematisch profilierte und/oder (b) besonders breit rezipierte Beiträge (c) aus dem englischsprachigen Raum konzentrieren, die streckenweise durchaus verwandten Bestrebungen des kontinentaleuropäischen Atheismus (der im Übrigen stärker von philosophischer bzw. populärphilosophischer Seite aus agiert) hingegen ausblenden. 2 Berücksichtigt und zum Teil detaillierter vorgestellt werden sechs Autoren und deren aktuelle bzw. religionskritisch zentralen Texte.3 Meine Skizze wird sich an drei (ge­netischen, geltungstheoretischen, ethischen) Leitaspekten orientieren und die Referenzautoren jeweils dann und nur insoweit ein­beziehen, wie sie sich zu diesen in größerem Umfang und/oder profiliert geäußert haben.

I. Der genetische Aspekt


1. Dawkins deutet bereits im Titel seines Buches (Der Gotteswahn; im Original: The God Delusion) an, auf wen seine Polemik zielt. Es sind die Verfechter jeder Spielart dessen, was er die ›Gotteshypothese‹ nennt. Letztere wird – durchaus konsequent, d. h. in theistischer Engführung – wie folgt reformuliert: »Es gibt eine übermensch­liche, übernatürliche Intelligenz, die das Universum und alles, was darin ist, einschließlich unserer selbst, absichtlich gestaltet und geschaffen hat.« (Dawkins 2007, 46; im Orig. kursiv) Das Phänomen der Religion als solches, die Problematik seiner begrifflich präzisen Ab- und Eingrenzung, die Frage nach der Möglichkeit nicht-theistischer Religionsformen etc., dies alles ist für Dawkins ohne Belang. Dies lässt sich bereits daran ablesen, dass das Stichwort ›Religion‹ im Sachregister seines Buches gar nicht vorkommt. Dessen Erklärungs- und Kritikanspruch wird mithin bedingt und begrenzt durch die schlichte Absicht, religiöse Geltungsansprüche zu widerlegen, soweit sie sich explizit oder implizit auf die genannte Hypothese beziehen. Insofern Dawkins von Hypothese spricht, wird allerdings zugleich deutlich, dass Gottesglaube und/oder Religion hier von vornherein in einer funktionalistisch verkürzten Perspektive wahrgenommen werden: Religion erscheint als etwas, dessen Eigenart sich hinreichend von der, wenn nicht ausschließlichen, so doch primären Funktion der Welterklärung her begreifen bzw. auf diese reduzieren lässt. Ein religiöser Mensch zeichnet sich ganz einfach dadurch aus, dass er zum Zwecke der Welterklärung – und darüber hinaus bestenfalls zur Motivierung eigenen moralischen Verhaltens – die Gotteshypothese bemüht.

Dennetts Angaben sind hier ein Stück weit differenzierter, im Ansatz aber nicht minder funktionalistisch: Religionen werden als soziale Systeme definiert, deren »participants avow belief in a supernatural agent or agents whose approval is to be sought« (Dennett 2006, 9). Jede Religion verfügt demnach erstens über Gemeinschaft stiftende bzw. fördernde und durch Gemeinschaft bestimmte bzw. bedingte Eigentümlichkeiten, schließt zweitens gewisse Glaubensannahmen und -bekenntnisse ein, wobei diese sich auf (eine) übernatürliche Instanz(en) beziehen, und tritt drittens im Sinne des Strebens nach göttlicher Gunst oder Anerkennung mit dieser/diesen Instanz(en) praktisch bzw. kultisch-rituell in Beziehung. Religion hat demnach drei Kernfunktionen, die zugleich deren Eigenart hinreichend präzise bestimmen: Förderung sozialer Kooperation (handlungsspezifischer Aspekt); Erklärung des an­sonsten Unerklärlichen (kognitiver Aspekt); Trost angesichts von Leid und Tod (emotionaler Aspekt; vgl. ebd., 103).

2. Der funktionale Glaubens- und/oder Religionsbegriff bedingt und begrenzt nun seinerseits Art und Reichweite von Dawkins’ Religionskritik. Hier lohnt gleichfalls der direkte Vergleich mit Dennett, da dessen Überlegungen die seines atheistischen Waffenbruders auch in diesem Punkt flankieren und ergänzen. Dawkins leitende Behauptung, die er gegen die Gotteshypothese in Stellung bringt, lautet: »Jede kreative Intelligenz, die ausreichend komplex ist, um irgendetwas zu gestalten, entsteht ausschließlich als Endprodukt eines langen Prozesses der allmählichen Evolution.« (Dawkins 2007, 46; im Orig. kursiv) Was damit behauptet – und korrelativ: bestritten – wird, kann man sich klarmachen, wenn man die Elemente der Gotteshypothese separat in den Blick nimmt. Diese schließt zunächst einmal zweierlei ein: erstens die Unterstellung, dass sich Anfang, Verlauf und Ordnung der Welt sowie die Stellung des Menschen darin ohne Rekurs auf die Annahme eines göttlichen Schöpfers und Erhalters nicht zureichend erklären lassen. Zweitens, dass ein göttlicher Schöpfer und Erhalter tatsächlich existiert. Beides wird, in der Regel stillschweigend, mit einer dritten Annahme verknüpft: der Annahme, dass Anfang, Verlauf und Ordnung der Welt sowie die Stellung des Menschen darin tatsächlich, und sei es in Grenzen, erklärt werden können. Der Gläubige tritt demnach nicht nur für die formale Richtigkeit, sondern auch für die Wahrheit des folgenden Schlusses ein:

(a) Nur wenn ein göttlicher Schöpfer und Erhalter existiert, lassen sich Anfang, Verlauf und Ordnung der Welt sowie die Stellung des Menschen darin zureichend erklären.

(b) Anfang, Verlauf und Ordnung der Welt sowie die Stellung des Menschen darin lassen sich zureichend erklären.

(c) Also existiert Gott.

Dawkins stimmt mit (b) überein, bestreitet jedoch (a) – und infolgedessen auch (c). Die Gründe, die ihn veranlassen, (c) abzulehnen, sind dabei zum Teil abhängig, zum Teil unabhängig von seiner Kritik an (a). Sie sind hiervon unabhängig, insofern Dawkins in Auseinandersetzung mit einigen klassischen Theoriefiguren der abendländischen Ontotheologie auf direktem Wege zu zeigen versucht, dass alle vorliegenden (und aus seiner Sicht wohl auch alle denkbaren) Versuche, die Existenz Gottes zu beweisen, scheitern und scheitern müssen. Der indirekte bzw. über (a) vermittelte und hiervon abhängige Widerlegungsversuch von (c) verfolgt hingegen eine doppelte, teils genetisch-evolutionstheoretische, teils epistemisch-erklärungsfunktionale Stoßrichtung.

Zunächst zum genetischen Aspekt. Als Darwinist und Religionskritiker weiß Dawkins, dass er sich hier auf dünnem Eis be­wegt: Religion (in welcher Form auch immer) muss, um überhaupt möglich und entstanden sein zu können, ein evolutionäres Problem lösen, eine bestimmte überlebens- und reproduktionsfunktionale Rolle spielen bzw. am Ort ihrer Entstehung gespielt haben. Die Möglichkeit von X (= Religion) kann – unter den erkenntnis­theo­retischen Voraussetzungen des Darwinismus – hier wie überall ohne Rekurs auf die evolutionäre Funktion von X nicht erklärt werden. Alle Antworten, die hier denkbar sind, werden mithin bedingt und begrenzt durch diejenigen Fragen, die der naturalistische Darwinist als solcher überhaupt zu stellen fähig, ja auf die zu stellen er schlechterdings festgelegt und beschränkt ist. Durchstreicht mithin das naturalistisch-darwinistische Theoriekorsett die religionskritische Absicht bereits im Ansatz? Dawkins verneint dies selbstverständlich. Sein Vorschlag zur Lösung des Problems: Religion hat »keinen unmittelbaren Überlebenswert, sondern … ist ein Nebenprodukt von etwas anderem, das einen solchen Wert be­sitzt« (Dawkins 2007, 239; Hervorh. H. S.). Es verhält sich hier ähnlich wie beim Flug der Motte in die tödliche Kerzenflamme, der nicht etwa eine rätselhafte Selbstmordneigung der Tiere indiziert, sondern als un­beabsichtigter »Nebeneffekt eines normalerweise nützlichen Kompasses« (ebd., 241) erscheint. Insekten nutzen be­kanntlich Himmelskörper wie Sonne und Mond zur Orientierung. Analog im Falle der Religion: Das Selbstaufopferungsverhalten, das bis hin zum Märtyrertum bzw. zum gewaltsamen Selbstmordattentat jenem Grundimpuls entspringt, der es selbst ermöglicht hat, ist analog zum Mottenbeispiel nichts weiter als die Aberration von einer im Prinzip evolutionsfunktional durchaus nützlichen Faustregel: »Vertraue den Älteren, ohne Fragen zu stellen.« (Ebd., 243)

Dennetts verwandte religionsgenetische Kernthese ist kaum weniger phantasievoll als die seines Waffenbruders Dawkins. Während bei diesem der systematisch genährte, mindestens aber billigend in Kauf genommene Verdacht, Religion sei intrinsisch suizidal, durch die am Leitfaden der Mottenanalogie plausibilisierte Idee evolutionärer Unfälle immerhin pietätvoll abgemildert wird, gelingt Dennett dasselbe nur noch durch Zuflucht bei der religionskritisch beliebten Strategie der Pathologisierung: Religion ist eine Infektionskrankheit, verursacht durch memetischen Parasitenbefall. 4

3. Lewis Wolpert stellt vor dem Hintergrund vergleichbarer Er­kenntnisinteressen eine nur auf den ersten Blick von den Hypothesen seiner berühmteren Kollegen Dawkins und Dennett abweichende Erklärung der Religionsgenese zur Debatte. Nach seiner Auffassung verfügt das menschliche Gehirn über eine sog. »belief engine«5, einen Glaubensannahmen produzierenden Mechanis­mus mit evolutionärer Funktion. Im Blick auf dessen Wirkung nehmen dabei die sog. »causal beliefs« (Wolpert 2006, 26) in zeitlicher, sachlicher und quantitativer Hinsicht die erste Stelle ein. Nach Wolperts evolutionsbiologischer Erklärung für die Genese dieses Mechanismus liegt die Hauptfunktion des Gehirns in der Koordinierung von Bewegungen zum Zwecke des Überlebens und der Fortpflanzung eines Lebewesens. Dabei entsteht und verfestigt sich kausaler Glaube über viele Generationen hinweg, und zwar deshalb, weil sich diejenigen Individuen einer Art, die – zunächst rein zufällig – über das Vermögen, diesen zu generieren, verfügen, bei der Bewegungskoordination im beschriebenen Sinne als überlebens- und reproduktionsfähiger erweisen als ihre Konkurrenten: Glauben zu können, dass X etwas, das Y zustößt, verursacht (Naturkausalität); dass Y selber Entscheidungen treffen und so Ursache für X werden kann (Handlungskausalität); dass Y schließlich im Glauben an das, was Z glaubt, präzise vorhersagen kann, was dieser tun wird – all dies verschafft Y jedenfalls dann und so lange Vorteile im Kampf ums Dasein, wie sich sein Glaube zumindest überwiegend als ›zutreffend‹ im pragmatistischen Sinne, d. h. als bewegungskoordinativ bzw. überlebens- und reproduktionsfunktional erfolgreich erweist. Genetisch und sachlich kommt dabei der Handlungskausalität nach Auffassung von Wolpert der Primat zu, und zwar bezogen auf den aristotelisch-poietischen Spezialfall der Werkzeugproduktion (tool-making), deren humanevolutionäre Bedeutung nach seiner Auffassung kaum überschätzt werden kann (vgl. ebd., 22.33, sowie Kapitel 5).

Vor diesem Hintergrund ist der (kausale) Glaube seinerseits als überlebensfunktionales Werkzeug, genauer als »explanatory tool« (ebd., 83), beschreibbar. Die Tatsache, dass sich kausale Glaubensannahmen unter Voraussetzung ihres erklärungslogischen und orientierungsfunktionalen Erfolges verfestigen und verselbständigen, hat dabei durchaus einen guten evolutionären Sinn: Die Nötigung zur Aufgabe eines Glaubens konfrontiert mit einer Erklärungslücke, die, als schmerzlich wahrgenommene, prinzipiell Verhaltensunsicherheit und Orientierungsschwäche auslöst. Diese wirkt umso schmerzlicher, je größer die Bedeutung ist, die ihr im Zusammenhang der Lebensorientierung insgesamt zukommt (z .B. Krankheit oder Tod) und je schwieriger es ad hoc oder auch langfristig erscheint, sie zu schließen. Just unter diesen und aufgrund des Gegebenseins dieser Be­dingungen entstehen religiöse Glaubensannahmen: Diese be­währ(t)en sich als »adaptive for two main reasons: they provided explanations for important events, and offered prayer as a way of dealing with difficulties. Those with such beliefs most likely did better, and so were selected for« (ebd., 137). Der Preis für diesen evolutionären Vorsprung ist und war allerdings hoch: Eben weil es sich um existenziell außerordentlich bedeutsame bzw. beängstigende Fragen oder Erklärungslücken handelt, die der religiöse Glaube beantwortet oder schließt, ist seine vis inertiae besonders ausgeprägt. Auf diese Weise kann die Persistenz des Glaubens – ähnlich wie im Falle psychisch paranormaler Phänomene wie Halluzination, Schizophrenie etc. – zum evolutionär auf lange Sicht kontraproduktiven Selbstzweck werden. Der Glaube geht unter diesen Bedingungen um eines lückenlos kohärenten Weltbildes willen in jenen ›Konfabulationsdrang‹ über, der für das ihm Unerklärliche narrative Ad-hoc-Erklärungen (er)findet. Überall da nämlich, wo »consistency and internal satisfaction have to compete with testing against the real world, we choose consistency« (ebd., 99).

II. Der geltungstheoretische Aspekt


1. Offenkundig sind Dawkins’, Dennetts und in gewissem Sinne auch Wolperts Antworten auf die genetische Frage von vornherein religionskritisch motiviert: Formen und Lebensäußerungen der Religion werden erstens zurückgeführt auf deren – einzig und allein evolutionstheoretisch aufklärbare – Genese; diese Rückführung soll zweitens belegen, dass jene Lebensäußerungen de facto nichts anderes sind als ein indirekter, unfreiwilliger und unbe­wuss­ter Ausdruck von etwas, das dem expliziten Selbstverständnis des Subjektes dieser Lebensäußerungen offen widerstreitet. Mit dieser Argumentationsstrategie wird alter Wein in neue Schläuche gegossen, und zwar durch Reanimation einer seit Mitte des 19. Jh.s populären, mittlerweile aber längst tot geglaubten Reduktionsfigur – frei nach Feuerbach: Das Geheimnis der Theologie ist die Biologie. 6 Das entsprechende Argument lautet nicht: ›Religion ist ein Phä­nomen sui generis, d. h. ontologisch irreduzibel, ihr Geltungsanspruch jedoch irrig‹; geleugnet wird im Gegenteil, dass Religion ontologisch irreduzibel ist. Die scheinbar genuin religiöse Lebensäußerung entpuppt sich laut Dawkins bei näherem Hinsehen als eine sich selbst missverstehende biologische oder bestenfalls kulturevolutionäre.

Abgesehen von dieser indirekten Kritik lässt sich der neue Atheismus allerdings gelegentlich auch zu direkten Widerlegungsversuchen und damit zu einer genuin geltungstheoretischen statt rein genetischen Auseinandersetzung herab. Diese Versuche treten in zwei Varianten, einer stärkeren und einer schwächeren, auf. Die stärkere wird unter anderem von Dawkins (auf den ich mich hier beschränke) und von Sam Harris vertreten, die schwächere – wiewohl theoretisch weit sorgfältiger ausgearbeitete – z. B. von Victor Stenger. Erstere zielt darauf, religiöse Geltungsansprüche direkt zu widerlegen, Letztere, zumindest primär und über weite Strecken, auf den Nachweis, dass die als Welterklärungsmodell vorverstandene Religion erklärungsfunktional obsolet ist, weil die moderne Naturwissenschaft in den zur Debatte stehenden Fragen weitaus validere Erklärungsleistungen erbringt.

Während Dennett die Problematik en passant erledigt (vgl. ders. 2006, 240–246), widmet Dawkins ihr immerhin ein eigenes Kapitel (vgl. ders. 2007, Kapitel 4), das überdies laut eigenem Bekunden die »zentrale Argumentation« (ebd., 222) seines Buches enthält. Diese Argumentation ist im Umkreis kosmologischer (Entstehung des Universums) und evolutionärer Fragen (Entstehung und Entwick­lung von Leben im Universum) angesiedelt und in ihrer möglichen Tragweite durch diese bestimmt und begrenzt. Sie geht dabei von der Konstatierung desselben erstaunlichen und ebendeshalb erklärungsbedürftigen Tatbestandes aus, der auch als Ausgangspunkt für die in diesem Zusammenhang von Dawkins primär ins Visier genommene Argumentation des Kreationismus und der Intelligent-Design-Bewegung fungiert: die extreme Unwahrscheinlichkeit eines Universums, das die Entstehung von Leben ermöglicht, ja zu begünstigen scheint. Hier zu Erklärungszwecken die Gotteshypothese zu bemühen, ist Dawkins zufolge jedoch weder möglich noch nötig, das Argument der Gegner daher zum Scheitern verurteilt. Sie ist nicht möglich: Denn »die Gestalterhypothese wirft sofort die umfassendere Frage auf, wer den Gestalter gestaltet hat. Das Problem … betraf die Erklärung der statistischen Unwahrscheinlichkeit [der Entstehung von Leben]. Zu diesem Zweck etwas noch Unwahrscheinlicheres zu postulieren ist offenkundig keine Lösung.« (Ebd., 222) Der Rückgriff auf den Gottes­gedanken ist je­doch erklärungslogisch auch gar nicht nötig, denn »Darwin und seine Nachfolger haben uns gezeigt, wie Lebewesen mit ihrer ungeheuren statistischen Unwahrscheinlichkeit und ihrer scheinbaren Gestaltung sich langsam und allmählich aus einfachen Anfängen heraus entwickelt haben.« (Ebd., 223) Dabei lässt sich die Tatsache, dass überhaupt Leben entstanden ist, ebenso problemlos wie elegant auf rein wahrscheinlichkeitstheoretischem Wege und also gänzlich unabhängig von jeder theistischen Hypothese erklären: »In unserer Galaxis gibt es nach Schätzungen zwischen einer Milliarde und 30 Milliarden Planeten, und das Universum enthält 100 Milliarden Galaxien … Nehmen wir nun an, die Entstehung des Lebens … sei wirklich ein unglaublich unwahrscheinliches Ereignis. Angenommen, es ist so unwahrscheinlich, dass es sich nur auf einem unter einer Milliarde Planeten ereignet … [S]elbst bei einer derart absurd geringen Wahrscheinlichkeit wäre immer noch auf einer Milliarde Planeten Leben entstanden – und einer davon ist natürlich die Erde.« (Ebd., 193) Um allerdings erklären zu können, dass der natürliche Prozess von Mutation und Selektion überhaupt in Gang kommt, ist immerhin, wie Dawkins einräumt, ein einziger »Glücksfall« (ebd., 198), sprich ein genesekonstitutiver Zufall nötig – ein Zufall, dessen Eintreten vor dem Hintergrund der skizzierten Multiversumtheorie freilich als »garantiert« (ebd.) gelten kann. So oder so, die Schlussfolgerung lautet jedenfalls: Gott »existiert mit ziemlicher Sicherheit nicht« (ebd., 223).

2. Man muss, wie ich gern einräume, nicht zu den sprichwörtlich Armen im Geiste gehören, um diese Argumentation geistreich zu finden. Aber es erleichtert die Sache ungemein. Dawkins sieht im Übrigen selbst, dass sich die Erklärungsleistung seiner Theorie auf die biologisch-evolutionstheoretische Entwicklungsdimension der Religion beschränkt. Es überrascht von daher nicht, dass er die methodisch wie systematisch komplementäre Religionskritik des Physikers Victor Stenger euphorisch, nämlich als willkommenes Seitenstück zu seiner eigenen Argumentation begrüßt. Auf dessen knappste Form reduziert lautet Stengers Argument wie folgt:

(1) Die Existenz eines (monotheistisch verstandenen) Gottes kann aus wissenschaftlicher Perspektive immer dann als widerlegt gelten, wenn die Gesetzmäßigkeiten und Erscheinungsformen der faktisch vorfindlichen Welt exakt denen jener Welt entsprechen, die man erwarten müsste, wenn ein solcher Gott nicht existiert.

(2) Die Gesetzmäßigkeiten und Erscheinungsformen der faktisch vorfindlichen Welt entsprechen exakt denen jener Welt, die man erwarten müsste, wenn ein (monotheistisch verstandener) Gott nicht existiert.

(3) Also kann die Existenz eines solchen Gottes aus wissenschaftlicher Perspektive als widerlegt gelten.

Vom Dawkinsschen Elaborat hebt sich Stengers Buch vor allem durch ein ausgeprägtes Methodenbewusstsein wohltuend ab. Ers­tens wird im Blick auf Prämisse 1 ausdrücklich konzediert, dass die darin avisierte Kritik nur auf Religionen mit dezidiert theistischem, genauer monotheistischem Gottesverständnis wie Chris­tentum, Judentum und Islam anwendbar ist (vgl. ebd., 228). Zweitens wird der Beweis der Nichtexistenz Gottes ausschließlich aus der Perspektive jener neuzeitlichen Form von Naturwissenschaft geführt, deren Vorgehen laut Stenger durch zweierlei bedingt und begrenzt ist: »the performing of objective observations by eye and by instrument and the building of models to describe those observations« (ebd., 12). Vor dem Hintergrund dieser Einschränkungen begründet Stenger Prämisse 1 mit Verweis auf die Möglichkeit und Notwendigkeit, im bezeichneten Sinne auch von einem Gottesmodell, zumindest einer Gotteshypothese zu sprechen. Gott und Gottes Handeln müssten danach (falls dieser existiert) gleichfalls mit wissenschaftlichen Mitteln verifizierbar sein, und zwar schlicht deshalb, weil »he is supposed to play such a central role in the oper­ation of the universe and the lives of humans« (ebd., 13). Dabei müss­te erstens gezeigt werden, dass sich faktische Lücken im Erklärungszusammenhang der Naturwissenschaft innerhalb ih­rer eigenen Grenzen prinzipiell nicht schließen lassen; zweitens müsste gezeigt werden, dass diese prinzipiellen Lücken nur unter Annahme eines Gottes im bezeichneten Sinne geschlossen werden können. Umgekehrt kann im Sinne von Prämisse 1 die Gotteshypothese immer dann und so lange als wissenschaftlich widerlegt gelten, wie davon auszugehen ist, dass die genannten Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Der größte Teil von Stengers Buch dient der Begründung von Prämisse 2 und d. h. dem Nachweis, dass die Gotteshypothese aus den im Kontext von Prämisse 1 erläuterten Gründen tatsächlich als wissenschaftlich widerlegt gelten kann. Die einzelnen Kapitel sollen dabei en détail plausibel machen, dass die Bestandteile der Gotteshypothese im Verhältnis zum faktischen Phänomenbestand der Welt entweder als inkonsistent gelten müssen (so im Falle des Festhaltens an den Gottesattributen Allwissenheit, Güte und Allmacht angesichts des Übels in der Welt) oder zumindest keinerlei glaubensunabhängige Beweisgründe theoretischer und/oder empirischer Art für die erklärungslogische Unverzichtbarkeit der Gotteshypothese und/oder deren Wahrheit bzw. Wahrscheinlichkeit vorliegen (so im Falle des Schöpfungsgedankens, der Fine-tuning-Hypothese, der Wunder- und Offenbarungsvorstellung sowie der Idee Gottes als Quelle und Geltungsgrund moralischen Verhaltens: vgl. ebd., 229 ff.). Fazit: Ein Gott ohne erklärungslogische Unverzichtbarkeit ist ebenso wie ein Gott »with no observable effect … indistinguishable from one who is non existent« (ebd., 236).

III. Der ethische Aspekt


1. Selbst die radikalsten Vertreter des neuen Atheismus nehmen von der allzu kruden Behauptung Abstand, Religion sei für die Unmöglichkeit moralischen Verhaltens hinreichend oder gar notwendig. Ein Stück weit subtiler stellt sich ihre über den moralischen Aspekt vermittelte Religionskritik immerhin dar. Diese verläuft über weite Strecken gleichwohl nach ermüdend stereotypem Muster, und zwar in Orientierung an zwei Grundthesen, die wie­derum in jeweils zwei Teilthesen zerfallen. Erstens: Religion ist an sich weder notwendig noch hinreichend für die Bedingung der Möglichkeit von Amoralität, bedingt diese aber mehr als zufällig, da sie deren Ausbildung immerhin wahrscheinlich macht oder zumindest begünstigt. Zweitens: Der (naturalistisch-humanistische) Atheismus ist an sich weder notwendig noch hinreichend für die Bedingung der Möglichkeit von Moralität, bedingt diese aber gleichfalls mehr als zufällig, da er deren Ausbildung seinerseits wahrscheinlich macht bzw. begünstigt.

Solange es der Wahrheitsfindung dient – oder der Zurschaustellung eigener Vorurteilsfreiheit –, zögert keiner der Autoren, Beispiele anzuführen für moralisch vorbildliches Verhalten von Menschen, die dieses entweder explizit unter Berufung auf ihre reli­giöse Überzeugung motivieren bzw. motiviert haben oder aber aus Sicht der Autoren als so motivierte interpretiert werden dürfen. So gesehen leuchtet auch jedem Bright ein, dass Religiosität amoralisches Verhalten a priori ebenso wenig notwendig oder hinreichend bedingt wie umgekehrt gottlos motiviertes Verhalten deren Möglichkeit prinzipiell ausschließt (vgl. z. B. Dawkins 2007, 361 u. 387). Entscheidend ist aus der Sicht des naturalistischen Atheismus hingegen dreierlei: erstens der empirische Befund, dass das Ausmaß moralwidrigen Verhaltens auf Seiten derer, die ›im Namen‹ einer Religion handeln, de facto größer ist als auf Seiten derer, die ohne diese Motivierung leben; zweitens der Nachweis, dass dieser Be­fund nicht zufällig, sondern statistisch valide, d. h. Ausdruck einer systematischen Verhaltenstendenz ist, die ihn aus präzise angeb­baren Gründen wahrscheinlich bzw. prognostisch erwartbar macht; drittens der prinzipienethische Nachweis, dass sich jener moralische Realismus, dem auch alle Brights emphatisch huldigen, ohnehin leichter und einleuchtender auf naturalistisch-atheistischer Basis begründen lässt als auf religiöser, der Gottesrekurs zu ethischen Zwecken folglich, wenn nicht ohnehin kontraproduktiv, so doch in jedem Fall normenethisch obsolet ist.

2. Bezüglich des empirisch-quantitativen Aspektes werden die durchweg bekannten Beispiele historisch allgegenwärtiger Ge­waltandrohung und -ausübung im Namen der Religion(en) ge­nüsslich zitiert und in aller Weitläufigkeit beschrieben: von den Kreuzzügen und Religionskriegen über Inquisition, Hexen- und Judenverfolgungen bis hin zu den Gräueln des 20. und 21. Jh.s: Hitlers ›im Auftrag der göttlichen Vorsehung‹ begangene Kapitalverbrechen, die Unterstützung des Nazi-Regimes durch die Kirchen, christlich-fundamentalistische Feldzüge für die Beibehaltung der Todesstrafe in den USA, islamistische Selbstmordattentate, Balkan-, Nordirland- und Palästinenserkonflikt sowie der Völkermord in Ruanda.

Die »Wahrscheinlichkeit, dass einer, der sich solcher Verbrechen schuldig gemacht hat, im Glauben verwurzelt war, beläuft sich auf fast hundert Prozent, während die Wahrscheinlichkeit, dass eine gläubige Person auf der Seite der Menschlichkeit und des Anstands war, in etwa auf einen Münzwurf hinauslief.« (Hitchens 2007, 235) Diese Statuierung einer statistischen Korrelation leitet bereits zum zweiten Aspekt, d. h. zur Ursachenfrage über. Sie ist freilich nicht mit dieser identisch, denn – wie Stenger offen einräumt – »corre­lation does not always imply connection« (Stenger 2008, 194; vgl. Wolpert 2006, 15): Dass nicht alle US-amerikanischen Christen Gefängnisinsassen, wohl aber 80 % der dortigen Gefängnisinsassen Chris­ten sind (vgl. ebd.; ferner Dawkins 2007, 318); dass in den In­dus­trienationen nicht alle Gläubige morden, wohl aber signifikant mehr Mörder glauben (vgl. Dawkins 2007, 320); dass sich nicht alle ›wiedergeborenen Christen‹ in den USA scheiden lassen, wohl aber weit mehr Scheidungen unter den Wiedergeborenen anzutreffen sind (vgl. Stenger 2008, 195); dass nicht alle Anhänger des Islam zum Terrorismus, wohl aber die meisten Terroristen zum Islam neigen, mag – e concessis – eine statistisch signifikante Korrelation darstellen. Gleichwohl ist der Faktor Religion oder Glaube auch in den genannten Fällen möglicherweise rein zufällig. Sam Harris gehört zu denen, die hier nichtsdestoweniger einen kausalen Konnex sehen zu können meinen: »Nothing explains the actions of Muslim extremists … better than the tenets of Islam.« (Harris 2005, 137; vgl. ebd., 12).

Worin liegen nun aber die Ursachen dafür, dass religiöse Menschen eine signifikant höhere Gewaltbereitschaft zeigen als andere? Eine Antwort liefert Harris’ Glaubenstheorie (vgl. Harris 2005, Kapitel 2); hier ist dreierlei entscheidend: erstens die handlungskausale Wirksamkeit, zweitens der Inhalt, drittens der fehlende Evidenzbezug des Glaubens. Erstens ist jeder Glaube »a lever that, once pulled, moves almost everything else in a person’s life« (ebd., 12) – Glaubensannahmen sind unmittelbar handlungsleitend und handlungsstimulierend. Zusammen mit dem zweiten und dritten Faktor ergibt sich daraus eine hochexplosive Mischung. Sämtliche religiösen Traditionen stimmen Harris zufolge nämlich in der basalen und von jeder Begründungspflicht ausgenommenen Überzeugung überein, dass »›respect‹ for other faiths, or for the views of unbelievers, is not an attitude that God endorses« (ebd., 13). Be­sonders gewaltanfällig sind dabei diejenigen Religionen, in denen sich diese basale Überzeugung wie im Falle von Judentum, Chris­tentum und Islam mit den unausgewiesenen Annahmen einer dualistischen Eschatologie verbindet: »Once a person believes – really believes – that certain ideas can lead to eternal happiness, or to its antithesis, he cannot tolerate the possibility that the people he loves might be led astray by the blandishments of unbelievers. Certainty about the next life is simply incompatible with tolerance in this one.« (Ebd.) Umgekehrt scheint Intoleranz geradezu »intrinsic to every creed« (ebd.) – jeder Jude, jeder Christ (vgl. ebd., 85) und jeder Moslem eine potentielle, eschatologisch motivierte Zeitbombe, die früher oder später explodieren wird. Natürlich kennt Harris die jesuanische Botschaft der Nächsten- und Feindesliebe und seine Aufforderung zum Gewaltverzicht (vgl. Harris 2005, 85); entscheidend ist aber aus seiner Sicht, dass mit dieser erstens nur einer unter vielen, bis hin zum offenen Widerspruch heterogenen biblischen Aussagekomplexen zur Sprache kommt (vgl. Stenger 2008, 196 f. u. 208); zweitens die Bibel insgesamt ebendeshalb Handlungsoptionen eröffnet, die streng genommen »irreconcilable« (Harris 2005, 85) sind; und drittens alle biblischen Quellen von der unbedingten Verbindlichkeit dessen ausgehen, was man mit Dennett »belief in belief« (Dennett 2006, 6 und passim), d. h. die unbedingte Verpflichtung zur Bereitschaft nennen kann, am Geglaubten unter allen Umständen, ggf. wider besseres Wissen festzuhalten.

3. So oder ähnlich argumentieren auch die übrigen Hohepries­ter der »Helle« [des Lichts] – hier wie dort mit dem erklärten Ziel des Nachweises, dass der Gottesglaube weder als Quelle noch als Garant moralischen Verhaltens und sein Gegenstand erst recht nicht als einzig plausibler Geltungsgrund moralischer Sätze in Betracht kommt, sondern im Gegenteil, je nach Inhalt und Begründungsresistenz, Intoleranz und Gewaltbereitschaft auf Seiten der Gläubigen fördert, ja der Ausbildung un- oder asozialen Verhaltens generell Vorschub leistet. 7 Flankiert wird diese polemisch-kritische durch eine systematisch-konstruktive These: (Monotheistische) Religionen taugen auch deshalb nicht zur Begründung einer normativen Ethik, weil sie im Vergleich zu naturalistisch-humanistischen Al­ternativen begründungsfunktional schlicht überflüssig sind. Wie sehen diese Alternativen aus? Im Falle von Dawkins erwartungsgemäß krude. Seine Skizze einer »darwinistischen Ethik« (Dawkins 2007, 303) läuft auf die Konzeption eines »Altruismus auf Gegenseitigkeit« (ebd., 305) hinaus. Danach begünstigt erstens die natürliche Selektion Gene, »die das Individuum in Beziehungen mit ungleich verteilten Bedürfnissen und Gelegenheiten dazu veranlassen, etwas zu geben, wenn es dazu in der Lage ist, und sonst um etwas zu bitten« (ebd., 301). Zweitens hat sich eine auf Gegenseitigkeit beruhende Verhaltensstrategie (›do ut des‹) prinzipiell als stabiler und evolutionär erfolgreicher erwiesen als die Taktik, individuelle Ernährungs- und Reproduktionsinteressen auf Kosten der eigenen Artgenossen durchzusetzen. Drittens bilden sich speziell unter Menschen »sekundäre Strukturen« (ebd., 302) aus – z. B. der Ruf, den jemand im Urteil seiner Mitmenschen genießt –, und auch hier kann man einen »Überlebensvorteil darin erkennen, wenn man nicht nur Gutes mit Gutem vergilt, sondern sich auch den Ruf erwirbt, sich so zu verhalten« (ebd.). Viertens erweist sich bereits im Tierreich der unmittelbare Nutzen einer offen zur Schau gestellten Großzügigkeit als wirksames Mittel zum Anlocken von Paarungspartnern und verschafft auf diese Weise Selektionsvorteile (vgl. ebd., 305).

4. Wo Dawkins endet, setzt Harris ein: Soll anstelle eines de facto selbstwidersprüchlichen (vgl. ebd., 181), relativistisch-prag­ma­tischen bzw. rein funktionalen Ansatzes eine genuin ›realis­tische Ethik‹ (vgl. ebd., 187), die als solche unter anderem mit einer Dimension von Gut und Böse im ›absoluten Sinn‹ (vgl. ebd., 178) rechnet, möglich sein – und dass diese möglich, ja als solche wissenschaftlich legitimierbar ist, behauptet Harris in der Tat –, so sind die theoretischen Ressourcen des evolutionären Naturalismus für deren Begründung unzureichend. Die Plausibilität einer Ethik im bezeichneten Sinne ist dann erstens von der Ansprechbarkeit und Sensibilität ihrer Rezipienten auf bestimmte, genese- wie geltungstheoretisch fundamentale ethische Intuitionen (intuitions, vgl. ebd., 172) abhängig, z. B. »some rudimentary sense that cruelty is wrong« (ebd.). Zweitens sind die genannten Intuitionen nach Überzeugung des Autors fest und bleibend in der menschlichen Natur verankert und bereits durch ebendiese Verankerung als unhintergehbar bzw. objektiv gültig erkannt: »Our common humanity is reason enough to protect our fellow human beings from coming to harm«.8

Die natürlich verwurzelte moralische Intuition tritt dann drittens in zwei basalen Stufen und Formen auf: zum einen im Medium der bloßen Empathie im Sinne des Einfühlungsvermögens in die Glücks- und Leidensempfindungen »of sentient crea­tures« (ebd., 171) – ob Menschen oder Tiere;9 zum anderen in der höheren und abstrakteren Stufe dessen, was man moralisch-praktische Vernunft nennen kann im Sinne des Vermögens, »to treat … [others] as ends in themselves rather than as means to some further end« (ebd., 186; vgl. 190). Vorausgesetzt und hinreichend präzise ausgesprochen findet Harris beide Momente in der Goldenen Regel (vgl. ebd., 190).10 Sie empfiehlt sich als ethische Grund- und Orientierungsformel aus seiner Sicht wohl auch deshalb, weil sich in ihr ein Moment angedeutet findet, das für Harris nicht nur jede ›realis­tische Ethik‹ als solche auszeichnet, sondern auch den Anspruch begründet, Ethik als – empirische – Wissenschaft ausweisen und durchführen zu können (vgl. ebd., 187). Gemeint ist das Mo­ment einer emotional fundierten Synthese von Eigen- und Sozialinteresse, Selbst- und Nächstenliebe: »[T]he social feeling of love is one of our greatest sources of happiness« (ebd., 187) und insofern zunächst einmal Ausdruck von und motiviert durch Eigeninteresse. Geliebt aber wird der andere, und so schließt Liebe zugleich die Fähigkeit wie auch die Bereitschaft ein, »that we be concerned for the happiness of others« (ebd.; vgl. 192) – mithin die Bereitschaft zur Berück­sichtigung von Fremdinteressen im weitesten Sinne. Im rein em­pirischen Faktum dieses Zirkels oder dieser wechselseitigen Abhängigkeit entdeckt Harris eine gleichsam prästabilierte Harmonie, die zugleich die Ethik als empirische Wissenschaft begründen hilft, insofern diese auf der Erkenntnis beruht: »we can be selfish together« (ebd.).

IV. Zur Kritik des Neuen Atheismus


Wer leugnet, dass massive Einwände gegen Theorie und Praxis der Religionen (das Christentum eingeschlossen) erhoben werden können und in der Vergangenheit mit Recht immer wieder – freilich, was Brights gerne ignorieren, auch von Seiten der betroffenen Religionen selbst! – erhoben wurden, ist entweder naiv oder unwahrhaftig. Gesteht man dies zu und möchte gleichwohl vermeiden, als naiv oder unwahrhaftig zu gelten, bleibt dann nur die Flucht in den Atheismus (oder in eine gottlose Mystik), wie man z. B. im Anschluss an entsprechende Überlegungen Ernst Tugendhats vermuten könnte? 11 Diese Schlussfolgerung erscheint nicht nur, aber bereits dann voreilig, wenn der begründete Verdacht be­steht, dass man sich mit diesem Schritt de facto vom Regen in die Traufe begibt. Theologen wie Philosophen haben hier m. E. allen Grund, sich zu wappnen gegen die suggestiven, weil durchweg grob simplifizierenden Scharlatanerien der Dawkins-Schule. Sie haben aber auch die Mittel dazu, wie ich im Folgenden durch Zu­sammenstellung einiger der nach meinem Dafürhalten schlagkräftigsten Gegenargumente zeigen möchte. Da es mir primär um Offensive geht, werde ich im Folgenden diejenigen Argumente in den Mittelpunkt rücken, die über die reine Metakritik der atheis­tischen Religionskritik hinausgehen und dem metaphysisch-weltanschaulichen und/oder naturwissenschaftlichen Standpunkt des Neuen Atheismus sowie der mit ihm einhergehenden Überlegenheitsgewissheit seiner Protagonisten selber den Boden entziehen.

1. Erkenntnistheoretische Probleme


Unter den Voraussetzungen eines evolutions- und soziobiologischen Naturalismus, wie er z. B. von Dawkins, Dennett, Hitchens und Wolpert vertreten wird, ist weder ein ontologischer und/oder erkenntnistheoretischer noch ein ethischer (s. u. 2.) Realismus denkbar. Wahrsein und Gutsein werden hier jenseits ihrer evo­lutionstheoretisch funktionalen Restriktion zu sinnlosen und im Verwendungsfall widerrechtlich beanspruchten Begriffen. Dass die Selbstdurchsichtigkeit des evolutionären Prozesses, seiner kausalen Gesetzmäßigkeiten sowie seines singulären Zieles (differentielle Reproduktion) an sich überlebens- bzw. reproduktionsnotwendig – und ebendeshalb im Kontext dieses Prozesses auch möglich – ist, müsste, aber kann hier nicht gezeigt werden, wenn anders evolutionär gesehen nur dasjenige sein bzw. werden kann, wovon gilt, dass ihm eine überlebens- bzw. reproduktionsnotwendige und als solche auch erkennbare Funktion zukommt. Das zeigen zu wollen, ist aber unter darwinistischen Vorzeichen schlechterdings aussichtslos; denn hier kann alles, aber auch nur das­jenige wahr sein, was sich im Kampf konkurrierender Meme als wahr (= evolutionär erfolgreich) durchsetzt, indem es der differentiellen Selbstreproduktion eines Individuums bzw. einer Gattung von Lebewesen dient. Auf diese Weise wird aus der Wahrheit als ontologisch irreduzibler Entität eine auf den evolutionären Nutzen des jeweils als wahr Behaupteten vollständig reduzier­bare Funktion.

Wenn ferner religiöse Geltungsansprüche im Rückgriff auf ihre evolutionäre Funktionalität bzw. Dysfunktionalität genetisch reduziert und so relativiert werden können und müssen, dann gilt dasselbe auch für diejenigen – vorgeblich rein naturwissenschaftlichen – Geltungsansprüche, die sich mit dieser Behauptung verbinden: Auch sie können nur insofern und nur so lange als ›wahr‹ gelten, wie sie sich pragmatisch gesehen als überlebens- und reproduktionsfunktional erfolgreich erweisen (vgl. Schröder 2008, 31). Entweder erhebt also der Darwinismus für sich selbst ebenjene universalen und damit funktionalisierungsresistenten Geltungsansprüche, die als solche die Prinzipien derjenigen Theorie gerade widerlegen, für die jene Ansprüche erhoben werden; oder diese Geltungsansprüche werden umgekehrt durch ebendiejenige Theorie, für die sie erhoben werden, funktionalistisch relativiert.

2. Ethische Probleme


Für den darwinistischen Evolutionstheoretiker – als solchen – be­steht keine Möglichkeit, Entscheidungen, äußere Handlungsvollzüge, handlungsunabhängige Ereignisse, Vorgänge oder Zustände als ›gut‹ in einem ontologisch irreduziblen bzw. intrinsisch-moralischen Sinne zu bezeichnen, kurz einem ethischen Realismus das Wort zu reden. ›Gut‹ bezeichnet unter darwinistischen Vorzeichen eine rein instrumentale Eigenschaft der genannten Entitäten. Das Gute ist recht verstanden mit dem Mächtigen im Sinne dessen koextensiv, was dem Überleben des reproduktiv Stärkeren bzw. Erfolgreicheren nützt. Und jeder Stärkere, d. h. differentiell Reproduktionsfähigere, ist als solcher ›gut‹ und ebenso das von ihm Entschiedene bzw. Vollzogene. Der Darwinismus kann, an­ders gesagt, allenfalls darüber aufklären, wie und aus welchen evolutionsfunktionalen Gründen Menschen zu dem Glauben gelangt sein können, moralisch handeln zu sollen; dass sie moralisch handeln sollen, davon weiß er nichts und kann er nichts wissen (vgl. Schröder 2008, 56; Kissler 2008, 265). Es stimmt bedenklich, dass die Helle des atheistisch-naturalistischen Bewusstseins offenbar nicht einmal hinreicht, um zwischen Genese und Geltung moralischer Sätze unterscheiden zu können (vgl. Strasser 2008, 90).

Kaum weniger abstrus mutet auch die Harrissche Ethikkonzeption an, die auf vermeintlich rein empirischer Basis plausibilisiert und als Wissenschaft etabliert werden soll (vgl. Harris 2005, 187). Erstens ist das einzig empirische Moment im Konstrukt des ›sozialen Egoismus‹ ebenjene Form von Liebe, die man (mit Kant) pathologisch oder (mit Kierkegaard) präferentiell, mithin gerade nicht universal nennen kann und die ebendeshalb zur Begründung für eine allgemeinverbindliche Ethik überhaupt nicht taugt. Und zweitens liegt zwischen der Einsicht in die Möglichkeit und moralische Zulässigkeit eines zwangsläufig partikularen Gruppenegoismus und der Einsicht, dass die Menschheit als Ganze sowohl in der eigenen wie in der Person eines jeden anderen Menschen niemals nur als Mittel, sondern stets auch als Selbstzweck zu behandeln sei, ein begründungstheoretischer wie praktischer Abgrund, der durch die Harrissche Konstruktion an keiner Stelle überbrückt wird und auch nicht überbrückt werden kann. 12

3. Religionsphilosophische und theologische Probleme


3.1 Probleme im Umkreis der genetischen Religionskritik

So wie die Triftigkeit von Humes wunderkritischem Argument von der unbegründeten Voraussetzung abhängt, dass das, was jemand als Wunder bezeugt, tatsächlich in die Klasse des Wunderbaren fällt, ebenso lebt die Plausibilität der genetischen Religionskritik von der unbegründeten Voraussetzung, dass all das, was jemand im Namen von etwas als Religion (oder Christentum, oder Islam etc.) sagt oder tut, de facto Religion (oder Christentum, oder Islam) genannt zu werden verdient. Indes, a priori ist – mit Kierkegaard gesprochen – die Christenheit vom Christentum just ebenso weit entfernt wie der Vernünftige von dem, der seinen Behauptungen im Namen der Vernunft Geltung zu verschaffen sucht.13 Hier wie dort gilt die Dialektik von Idealität und Faktizität: Leider – und gelegentlich auch: zum Glück – widerspricht die Art und Weise, in der Menschen (etwas als ihre) Religion ausüben, den Grundsätzen dessen, worauf sie sich als (ihrer) Religion berufen.14

Dawkins’ Mottenanalogie (vgl. ders. 2007, 241) kann abgesehen von ihrem spekulativ-phantasievollen Ad-hoc-Charakter schon deshalb kaum überzeugen, weil sie ihre eigene religionskritische Absicht faktisch torpediert: Der Kerzentod der Motte (= das scheinbar selbstmörderische Verhalten des Religiösen) ist e concessis statistisch unerheblich, ein zu vernachlässigendes Nebenprodukt an sich nützlicher – und evolutionär funktionaler! – Mechanismen. Unter dieser Voraussetzung geht jede Religionskritik, erst recht im Namen der Moral (s. u. 3.3), ins Leere: Islamistische Selbstmordattentäter sind danach der möglicherweise unvermeidliche, aufs Ganze gesehen jedoch leicht zu verschmerzende Preis für das generelle Funktionieren derjenigen Faustregel, von deren funktionaler Anwendung jene im Sinne eines zu vernachlässigenden Nebenproduktes abweichen: »Vertraue den Eltern, ohne Fragen zu stellen« (ebd., 243).

3.2 Probleme im Umkreis der geltungstheoretischen Religionskritik

Da der darwinistische Naturalismus das Prädikat ›wahr‹ nur im extrinsisch-instrumentalen Sinne verwenden kann (wahr = evolutionsfunktional nützlich, s. o. 1.), sind seine religionskritischen Thesen radikal revisionistisch und als solche nicht aneignungsfähig. Evolutionär funktionabel kann unter den genannten Voraussetzungen nämlich nur diejenige Religion sein, deren Anhänger ihre Kernaussagen für mehr als bloß evolutionär funktionabel, vielmehr schlicht für wahr, mindestens aber für wahrheitsfähig halten (vgl. Strasser 2008, 75). Die mögliche Funktionalität von X ist mit anderen Worten nicht ohne die Wahrheitsfähigkeit von X bzw. nicht ohne den mindestens möglicherweise berechtigten Glauben an dessen Wahrheit zu haben.

Der Szientismus der Brights – hier insbesondere: Victor Stengers– ist theologisch naiv. Zumindest aus christlicher Perspektive besteht nur dann das Recht, die Existenz Gottes für möglich zu halten, wenn die Gesetzmäßigkeiten und Erscheinungsformen der faktisch vorfindlichen Welt denen jener Welt widersprechen, die man erwarten müsste, wenn Gott nicht existiert.15 Das, was also in punkto Wissenschaft hinreichende Bedingung der Unmöglichkeit von Wahrheit ist, bedingt die Möglichkeit theologisch wahrer Aussagen (hier: über Gott) notwendig. Christlich geurteilt ist Gott nur als (›objektiv‹) abwesender anwesend, und so gesehen reden Dawkins, Stenger und ihre Adepten überhaupt nicht vom Gott des christlichen Glaubens – oder vom Glauben im christlichen Sinne.

Dawkins’ wahrscheinlichkeitstheoretisches, die »magic of large numbers« (Varghese 2007, 173) beschwörendes Multiversum-Argument gegen die Schöpfungshypothese lässt sich abgesehen von anderen Gründen, die ihm den Boden entziehen, gegen ihn selbst wenden, d. h. reduktiv ad absurdum führen: Danach wäre z. B. eine e concessis hoch wahrscheinliche, wenn auch zugegeben grausame Laune der Natur denkbar, der sich die Existenz eines einzigen au­ßerirdischen Planeten verdankt, dessen männliche Bewohner alle­samt aussehen wie Richard Dawkins. Das Multiversum-Argument also ist (unter anderem) wahrscheinlichkeitstheoretisch naiv.

Auch Stengers Buch liefert keineswegs einen Beweis dafür, dass Gott nicht existiert, sondern lediglich die durchaus dankenswerte Bestätigung für die prima facie ohnehin bestehende Vermutung, dass Wissenschaft nicht das geeignete Instrument ist, um die Frage nach seiner Existenz zu beantworten – bewiesen wird hier allenfalls, dass Gott wissenschaftlich jedenfalls nicht bewiesen werden kann. Dass Gott, anders formuliert, auch unter dem Mikroskop nicht wahrnehmbar ist, muss nicht darin begründet sein, dass er nicht existiert – oder nicht wahrnehmbar ist; es mag auch am Mikroskop liegen. Der nachfolgende Satz bedarf also, um wahrheitsfähig zu sein, zweier präzisierender Zusätze: Ein Gott »with no [scientifically] observable effect is [scientifically] indistinguishable from one who is nonexistent« (Stenger 2008, 236; vgl. McGrath 2007, 41; Schröder 2008, 30).

3.3 Probleme im Umkreis der ethischen Religionskritik

Die Religionskritik des neuen Atheismus verfehlt nicht nur deshalb ihr Ziel, weil (a) ihre an die Adresse der Religion(en) gerichteten moralischen Vorwürfe zum Teil empirisch unzutreffend16 bzw. (b) durch einschlägige Selbstkritik (z. B.) des Christentums bereits faktisch überholt sind, sondern vor allem deshalb, weil sie (c) als naturalistisch-darwinistischer Theorietyp das Prädikat ›gut‹ (entsprechend: ›böse‹) ausschließlich im instrumentalen oder pragmatisch-funktionalen, nicht aber im genuin ethischen Sinne verwenden (s. o. 2.), mithin recht verstanden gar keine moralischen Vorwürfe erheben kann.

Brights unterschlagen ferner mit Vorliebe, dass Geltungsansprüche von Religionen in ethischer Hinsicht an der Praxis nicht nur ihrer zweifelhaftesten, sondern auch an der ihrer vorbildlichs­ten Vertreter zu messen sind – und zwar beides immer und nur dann, wenn sich diese auf etwas als (ihre) Religion, in der Regel zwecks Begründung eigenen Verhaltens, berufen. Darüber hinaus gilt die­ses doppelte Prüfungserfordernis auch für jede Form von Atheis­mus. Drittens ist hier wie dort das Ergebnis ein non sequitur, d. h. pure Ambivalenz (vgl. z. B. Schröder 2008, 22.37.193.200). Viertens können auch Atheisten Fundamentalisten sein. Und fünftens gibt es »keine fundamentalistischen Religionen, sondern nur fundamentalistische Versionen von Religionen« (Schröder 2008, 102).

4. Naturwissenschaftliche, wissenschaftstheoretische


und methodologische Probleme


Die atheistischen Verfechter des Darwinismus ignorieren durchweg zwei prinzipielle Grenzen der Theorie. Die eine betrifft deren formale Voraussetzungen, die andere die möglichen materialen Ergebnisse ihrer Anwendung. So kann bezogen auf den zweiten Aspekt keine Variante einer Evolutionstheorie den Ursprung des Lebens an sich bzw. den Übergang von Nichtlebendigem zu Lebendigem in ihren eigenen Grenzen, d. h. selektionstheoretisch erklären (vgl. Kenny 2008, 26 f.); ferner stößt sie, bedingt und begrenzt durch das ihr zur Verfügung stehende Begriffs- und Theoriearsenal, auch innerhalb des organischen Bereichs an prinzipiell un­überwindbare Erklärungsgrenzen. Klassischer Fall ist die Genese des menschlichen Sprachvermögens: Da die Plausibilität jeder evolutionären Erklärung auf der (Einsicht in die reale) Möglichkeit individueller Mutationen beruht; und da Sprache per definitionem sozial bzw. konventionell konstituiert ist, läuft die Annahme einer darwinistischen Sprachursprungstheorie auf eine contradictio in adjecto hinaus (vgl. Kenny 2006, 25).

Die zweite prinzipielle Schwierigkeit betrifft die Theorievoraussetzungen: Der Darwinist kennt keine zielgerichteten, sondern lediglich kausalmechanische und zweckmäßige Naturabläufe, wobei letztere ihrerseits Resultat eines reinen Bottom-Up-Mechanismus, nicht aber Ausdruck einer Top-Down-Kausalität bzw. einer inneren und dabei geistig bestimmten Gerichtetheit der natürlichen Prozesse auf ein letztes Ziel hin sein sollen. Tatsächlich bleiben die Möglichkeitsbedingungen solcher Zweckmäßigkeit jedoch im Kontext der Evolutionsbiologie im Dunkeln (vgl. Hübner 2001, 56). Zweckmäßigkeit fungiert hier im Gegenteil als etwas, das der darwinistische Naturalist schlicht voraussetzen und im­mer schon in Anspruch nehmen muss, ohne den Grund ihrer Möglichkeit innerhalb seines eigenen Theorierahmens einsichtig machen zu können. Dies deshalb, weil Zweckmäßigkeit als etwas, das Evolution erst möglich macht, nicht ihrerseits auf dieser beruhen bzw. durch sie zustande gekommen sein kann. Das spricht nicht gegen die Leistungsfähigkeit und naturwissenschaftliche Dignität der Evolutionsbiologie, wohl aber gegen diejenigen ihrer Vertreter, die wie das Gros der Neuen Atheisten unter Missachtung dieser Grenzen überhöhte und daher ungerechtfertigte Erklärungsansprüche erheben – wohlgemerkt: verbunden mit der Prätention, rein als Naturwissenschaftler zu urteilen.

5. Metaphysische und/oder ontologische Probleme


Die Kosmologie des Neuen Atheismus basiert auf der Annahme eines zufälligen und als solches autopoietisch generierten Universums. Unterstellt wird dabei, dass das Universum nicht als, sondern durch Zufall entstanden ist (vgl. z. B. Dawkins 2007, 222 f.; Dennett 2006, 66 u. 242 f.; Stenger 2008, 164). Diese Annahme ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Erstens ist Zufall der Name für eine Ereignisart und keine Ereignisursache. Da es sich um eine Ereignisart handelt, kann zum einen nur Wirkliches zufällig sein; spezifiziert wird diese Wirklichkeit zum anderen dadurch, dass das jeweilige Ereignis (a) die Unkenntnis seines (b) als faktisch vorhanden unterstellten Zwecks und/oder seiner Ursache zu Bewusstsein bringt, und zwar (c) als etwas, das die Aufhebung dieser Unkenntnis wünschenswert erscheinen lässt. Zufall ist, kurz gesagt, der Name für ein als verstehens- und erklärungsbedürftig zu Bewusstsein kommendes unerklärliches (oder mindestens: bislang unerklärtes) Ereignis. Im atheistischen Naturalismus wird der Begriff hingegen zu einer Ereignisursache hypostasiert, wobei diese, ge­wissermaßen als vermummter Agent, Prozesse allererst in Gang setzt. Und zwar gilt dies sowohl auf naturwissenschaftlich-evolutionsbiologischer (zufällig verursachte individuelle Mutationen) wie auf metaphysisch-kosmologischer Ebene (Zufall als Ursache des Universums).

Selbst wenn die Lesart des Zufalls als Ereignisursache aber prinzipiell möglich und zulässig wäre, spricht vieles gegen ihre im Verhältnis zur religiösen Kosmologie als ›vernünftig‹ bzw. wissenschaftlich apostrophierte Verwendung: Erstens kann die Aussage, dass die Existenz der Welt auf Zufall beruht, ganz ebenso wie die, dass Gott ihr Urheber ist, keine wissenschaftliche Hypothese sein (vgl. Schröder 2008, 179); sie ist vielmehr pure Metaphysik. Die Zufallshypothese ist aber nicht nur Metaphysik, sie ist zudem schlechte Metaphysik: Zum einen ergibt im Unterschied zum Gottesgedanken der Begriff eines ens contingens als ens a se keinen vernünftigen Sinn. Zum anderen haftet der kosmologischen Zufallshypothese derselbe argumentationslogisch grundsätzliche Mangel an, den J. L. Mackie bereits an R. Swinburnes Stützung des Gottesglaubens mithilfe sog. C-induktiver Argumente bemerkt und mit aller wünschenswerten Klarheit beschrieben hat.17 Derartige Ar­gumente sind nämlich (von anderen Voraussetzungen abgesehen) allenfalls dann triftig, wenn der jeweiligen Ausgangshypothese bereits an sich, d. h. noch vor und unabhängig von ihrer beabsichtigten Stützung durch entsprechende Beweisgründe, ein gewisser Wahrscheinlichkeitsgrad zukommt, der – wie immer spezifizierbar – jedenfalls größer ist als null. Indes, so wie jeder Zuschreibungsversuch einer intrinsischen Wahrscheinlichkeit im Falle der Gotteshypothese zum Scheitern verurteilt ist, ebenso auch im Blick auf die Hypothese eines schlechthin kontingenten, gleichwohl durch sich selbst existierenden und überdies komplexen, da vielfältige Regularitäten ausbildenden Universums (s. o. 3.2). Die kosmologische Zufallshypothese verdient aber schließlich und drittens auch deshalb als Paradebeispiel schlechter Metaphysik verworfen zu werden, weil ihre Verfechter entweder nicht wissen oder aber ignorieren, dass sie Metaphysik ist, und sie stattdessen für Wissenschaft ausgeben. Kurzum, sie ist absichtlich oder unabsichtlich verde­ck­ter Irrationalismus.

Summary


The article contains a critical discussion of central ideas and arguments made public by the protagonists of the (post 9/11-)movement called New Atheism. Considered, in particular, is the severe polemic of the authors against any form of religion – a polemic that has received increasing attention from all over the world during the last couple of years. Six authors and their pertinent publications are selected for closer examination: Richard Dawkins, Daniel Dennett, Sam Harris, Christopher Hitchens, Victor Stenger and Lewis Wolpert. Drawing on both genetically, epistemically and ethically fundamental elements of the atheist doctrine the metacritical analysis leads to the double conclusion that: (a) most of the anti­religious arguments are either outdated and/or found wanting; (b) central tenets of naturalism (the metaphysical fundament, on which most atheistic counter-arguments against religion openly or tacitly rest) are highly dubious.

Fussnoten:

1) Vgl. Kissler, Alexander: Der aufgeklärte Gott. Wie die Religion zur Vernunft kam, München 2008; McGrath, Alister: Der Atheismus-Wahn. Eine Antwort auf Richard Dawkins und den atheistischen Fundamentalismus, Asslar 2007; Müller, Klaus: Neuer Atheismus? Alte Klischees, aggressive Töne, heilsame Provoktionen, in: Herder Korrespondenz 61, 2007, 552–557; Schröder, Richard: Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg u. a. 2008; Schulz, Heiko: Den Bann brechen? Daniel Dennett über Religion, in: Theologie und Philosophie 82, 2007, 252–261; Strasser, Peter: Warum überhaupt Religion? Der Gott, der Richard Dawkins schuf, München 2008; Striet, Magnus (Hrsg.): Wiederkehr des Atheismus. Fluch oder Segen für die Theologie?, Freiburg 2008; Varghese, Roy A.: The ›New Atheism‹: A Critical Appraisal of Dawkins, Dennett, Wolpert, Harris, and Stenger, in: A. Flew, There is a God. How the World’s Most Notorious Atheist Changed his Mind, San Francisco 2007, 161–183; ders.: Preface, in: Flew 2007, VII–XXIV (= 2007b); Wendel, Saskia: Extremistenbeschluss für Gläubige. Kleine Polemik gegen fundamentalistische Nichtgläubige, in: Herder Korrespondenz 62, 2008, 359–364. Zitiert wird hier und im Folgenden nach Name des Autors sowie Jahres- und Seitenzahl der entsprechenden Veröffentlichung.
2) Vgl. z. B. Buggle, Franz: Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann, Aschaffenburg 22004; Dobberstein, Marcel: Was ist Religion? Warum der Mensch Gott erschaffen hat, Hildesheim 2007; Kanitscheider, Bernulf: Die Materie und ihre Schatten. Naturalistische Wissenschaftsphilosophie, Aschaffenburg 2007; Müller, Burk­hard: Schlußstrich. Kritik des Christentums, Springe 22004; Odifreddi, Piergiorgio: Perchè non possiamo essere christiani (e meno che mai cattolici), Lon­ga­nesi 2007; Onfray, Michel: Wir brauchen keinen Gott. Warum man jetzt Atheist sein muss, München 2006; Schmidt-Salomon, Michael: Manifest des Evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, Aschaffenburg 22006; Schulz, Paul: Codex Atheos: Die Kraft des Atheismus, Cuxhaven 2006.
3) In concreto: Dawkins, Richard: Der Gotteswahn, Berlin 22007; Dennett, Daniel C: Breaking the Spell. Religion as a Natural Phenomenon, New York 2006; Harris, Sam: The End of Faith. Religion, Terror, and the Future of Reason, New York-London 22005 ; Hitchens, Christopher: Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet, München 2007; Stenger, Victor: God: The Failed Hypothesis. How Science Shows that God does not Exist, Amherst 22008; Wolpert, Lewis: Six Impossible Things Before Breakfast. The Evolutionary Origins of Belief, Norton 2007. Im Unterschied zu Stenger und Wolpert sind auch die Bücher von Dennett und Harris inzwischen auf Deutsch erschienen; ich zitiere im Folgenden nach den mir vorliegenden Originalausgaben.
4) Vgl. dazu im Einzelnen Schulz 2007, 255 f.
5) Wolpert 2006, 29; vgl. ebd., 140.218.220.
6) Wobei hier Feuerbachsches Niveau nochmals unterschritten wird: Für diesen fungiert das religiöse Selbstbewusstsein immerhin als erste und unüberspringbare, obschon indirekte und entfremdete Form des wahren menschlichen Selbst- qua Gattungsbewusstseins – und als solche verlangt es, im Zuge der Generierung des Letzteren sowohl individual- wie weltgeschichtlich angeeignet zu werden. Die religionsgenetische Theorie des Neodarwinismus ist im Gegensatz hierzu nicht einmal aneignungsfähig (s. u. IV.).
7) Dawkins, Hitchens und Stenger heben dabei vor allem auf die (offen oder verdeckt) bösartige bzw. Gewaltbereitschaft generierende und verherrlichende Botschaft sog. ›heiliger Schriften‹ ab: vgl. Dawkins 2007, 327–364; Hitchens 2007, Kapitel 7 und 8; Stenger 2008, 203–207.
8) Ebd., 106; vgl. Stenger 2008, 209.
9) Dabei fungiert das imaginierte Leiden der Handlungsadressaten zugleich als Kriterium für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der jeweils projektierten Handlung, frei nach dem Grundsatz: wo kein Opfer, da kein Verbrechen oder moralischer Verstoß (vgl. ebd., 159).
10) Ein Grundsatz, der und dessen religionsunabhängige Universalität übrigens auch bei anderen Brights auffallend hohe Wertschätzung genießt: vgl. Dawkins 2007, 322; Dennett 2006, 294; Stenger 2008, 197 ff.
11) Vgl. Tugendhat, Ernst: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 191–204, bes. 193.
12) Abgesehen davon hat sich mir offen gestanden auch nach aufmerksamer Lektüre des Harrisschen Buches die These des Autors nicht als plausibel erschlossen, dass eine Ethik, die auf die unbedingte Gültigkeit des Kategorischen Imperativs (hier: in seiner zweiten Formel) abhebt, mit der Zulässigkeitsannahme von Folter zwecks Erzwingung von Geständnissen mutmaßlicher Terroristen kompatibel ist (vgl. Harris 2005, 192–197).
13) Vgl. in diesem Zusammenhang Kisslers berechtigten Hinweis auf den blutigen ›Kult der Vernunft‹ im Gefolge der Französischen Revolution: Kissler 2008, 260.
14) Speziell zu Dawkins’ naiv-reduktionistischem Religionsbegriff vgl. Schröder 2008, 84.
15) Dürfte uns überraschen, dass die Beschaffenheit der vorfindlichen Welt überrascht, falls Gott existiert?
16) Vgl. dazu vor allem Schröder 2008, Kapitel 5.
17) Vgl. Mackie, John L.: Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart 1987, 155–158.

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