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Ausgabe:

Juli/August/2009

Spalte:

769–782

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Herman J. Selderhuis

Titel/Untertitel:

Johannes Calvin 1509–2009

Die überwältigende und auch unerwartet große Beachtung, die dem 500. Geburtstag des Genfer Reformators Johannes Calvin ge­schenkt wird, passt eigentlich nicht zu einem Mann, der selbst lieber im Hintergrund blieb. Es ist bezeichnend für Calvin, dass er an einem anonymen Ort begraben werden wollte, aus Furcht vor postumer Verehrung. Dabei übersah er allerdings, dass in seinem Fall neben der Verehrung wohl auch die Schändung seines Grabes eine Gefahr darstellte. Um sicherzugehen, lehnte er auch einen Grabstein ab. Am Sonntagnachmittag des 28. Mai 1564 wurde er um 14.00 Uhr, seinem Wunsch entsprechend, in einem einfachen Holzsarg in Plainpalais 1 begraben; der genaue Ort seines Grabes ist nach wie vor nicht mit Sicherheit nachzuweisen.

Calvin wollte also keine Beachtung seiner Person. Aus diesem Grund sprach er auch nur wenig über sich selbst: ›Ich rede nicht gern über mich selbst.‹2 Und wenn er es doch tat, geschah es immer aus der Beziehung zu Gott heraus: »Wer ich bin, wissen sie, in jedem Falle müssten sie es wissen. Ich bin ein Mann, dem das Recht unseres himmlischen Herrn so zu Herzen geht, dass ich mich durch niemanden von einer gewissenhaften Anwendung dieses Rechts abbringen lasse.«3

1. Biographisches


Die Frage, die das zuletzt genannte Zitat hervorruft, ist, ob wir wirklich wissen, wer Johannes Calvin ist. Die Zahl der Biographien über ihn ist jedenfalls sehr gering, denn zu seiner Person gibt es verhältnismäßig wenig Quellenforschung; in vielen Fällen hat der eine Biograph einfach vom anderen abgeschrieben. Irena Backus4 hat in ihrem kürzlich erschienenen Buch erneut darauf hingewiesen, wie einige wenige frühe Lebensläufe jahrhundertelang das Bild von Calvin bestimmten, ohne dass untersucht worden wäre, ob diese Beschreibungen auch den Tatsachen entsprechen.

So entstanden die beiden bestimmenden, aber gegensätzlichen Calvinbilder bereits recht kurz nach seinem Tod und haben sich im Laufe der Jahrhunderte kaum mehr verändert: das überwiegend positive und das vor allem negative. Die Biographie, die Calvins Nachfolger in Genf, Theodorus Beza, noch in Calvins Todesjahr (1564) publizierte, beschreibt uns Calvin als den großen Reformator und Glaubenshelden. Bei genauem Hinschauen finden sich aber schon bei Beza auch einige versteckte negative Randbemerkungen zu Calvins Charakter. Die dritte Auflage dieses Werkes wurde 1575 für Hieronymus Bolsec Anlass zu seiner Veröffentlichung La Vie de Calvin (1577), in der er Calvins »Leben, Sitten, teuflische Listen und seinen leiblichen Tod, womit er diese Welt unter Gotteslästerung, Fluchen, Ärgernis, Verwünschungen und in äußerster Verzweifelung verlassen hat« beschrieb.5 Bolsecs eigenen Worten zufolge wollte er mit dieser Schrift auf die Irrtümer der »calvinistischen Sekte« hinweisen, um so viele Menschen wie möglich zur katholischen Kirche zurückführen. Der ganze Aufbau des Buches zielt darauf ab, Calvin als Ketzer darzustellen. Das ist auch der Grund für die große Aufmerksamkeit, die er dem Sterben Calvins schenkt, das wegen seiner Schrecken kennzeichnend für das Totenbett eines Ketzers gewesen sei. Doch auch in seinem Leben habe Calvin sich bereits als Ketzer erwiesen. So beschuldigt Bolsec ihn u. a., ein übermäßiger Esser und Trinker, Ehebrecher, Hurenbock, Homosexueller, Geizhals und Revolutionär gewesen zu sein, der überdies an Ehrgeiz, Hochmut, Halsstarrigkeit, Rachsucht und einer Sucht nach Neugestaltung litt. Dazu fügen sich noch eine Anzahl theologischer Abweichungen. Bolsecs Werk erfuhr im 16. Jh. große Verbreitung und wurde ins Lateinische, Deutsche, Niederländische und Polnische übersetzt. Noch im 19. Jh. erschienen französische Ausgaben. Dieses Bild vom unbarmherzigen Calvin, dem Mann ohne Herz, dem schonungslosen Ketzerjäger, der seine Feinde hetzte, aber auch seinen Anhängern einen Lebensstil auferlegte, dem jede Freude fehlte, hatte jahrhundertelang die Oberhand.

Nichtsdestotrotz wurde sein Name weltweit bekannt und der Calvinismus – auch wenn Calvin selbst sich gegen diese Bezeichnung wehrte – zu einer Bewegung, die nicht nur zur Entstehung der modernen Welt beigetragen hat, sondern bis auf den heutigen Tag auf allen Kontinenten kirchlich und gesellschaftlich eine bedeutende Rolle spielt. Calvins 500. Geburtstag wurde und wird von Freund und Feind aufgegriffen, um mit Büchern, Ausstellungen, Tonträgern, Konzerten, Aufführungen und Vorträgen in un­terschiedlichster Weise und Qualität die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Das alles führt zu einer Frage, die über die Person Calvins hinausgeht. Es ist die Frage danach, wieso Calvins Theo­logie, die doch so sehr kritisiert wurde und wird, so einflussreich werden konnte.

2. Genf als Magnet


»Gott und Calvin haben dieselbe Arbeitsweise. Beide arbeiten sechs Tage pro Woche, mit dem Unterschied, dass Calvin täglich ein Paar Stunden Schlaf braucht.«6 Laut Calvin ist Gott non otiosus. Er tut nie nichts und er kann auch nicht nichts tun. Gott ist fortwährend tätig: erschaffend, erwählend, sorgend und – insbesondere seit Pfingsten – werbend. Ebenso Calvin. Er konnte nicht mit dem Ge­danken an einen Deus otiosus leben. Ein Gott, der ruhig, sich um die Welt nicht kümmernd, im Himmel sitzt, hätte ihm das Leben unerträglich gemacht im Europa afflicta seiner Tage. Calvin sehnt sich nach Halt und findet Ruhe in einem ruhelosen Gott.

Auch Calvin ist immer beschäftigt. Obwohl die berühmte These von Max Weber an sich nicht mit Calvins Theologie in Einklang zu bringen ist, hätte Calvin selbst, als ein Calvinus non otiosus, ein Standardbeispiel dieser These sein können: immer in Bewegung und doch unbewegt scheinend. Im äußeren, physischen Sinn war er das tatsächlich in gewisser Weise, denn Genf verließ er kaum – wenn doch, war das die große Ausnahme. Im Blick auf sein Inneres aber ist das Bild vom starren, unbeweglichen Calvin so wenig wahr wie das Bild vom harten und herzlosen Gott des Alten Testaments. Dass er seine Kanzel und seinen Schreibtisch in Genf nicht verließ und gleichzeitig in ganz Europa geradezu omnipräsent war, konnte in Entsprechung zu Gottes Werk und Wesen gesehen werden – mindestens so, wie Calvin meinte, die Bibel diesbezüglich zu verstehen.

Wie schon gesagt, Calvin verließ Genf kaum, nur seit 1541 ab und an. Im Juli 1543 kehrte er noch einmal nach Straßburg zurück. Im Mai 1545 ging er auf eine kleine Tournee (Bern, Basel, Konstanz und Straßburg), um für die Unterstützung der verfolgten Waldenser zu werben. Im September 1546 besuchte er Neuenburg, im Ja­nuar 1547 Zürich, wo er 1548 erneut zu Beratungen mit Bullinger zusammentraf, deren Ergebnis der Consensus Tigurinus war. Des Weiteren gab es noch einige andere, kleine Besuche in eidgenössischen Städten und 1556 eine Reise nach Frankfurt am Main, doch durchschnittlich kam es nicht öfter als einmal im Jahr vor, dass Calvin sich auf den Weg machte.

So beschränkte sich sein Arbeitsfeld im Grunde auf die wenigen Quadratkilometer von Genf. Calvin musste sich aber auch nicht selbst bewegen, denn die Menschen kamen zu ihm und seine Ideen gelangten wie von selbst zu den Menschen. Die Menschen, die kamen, waren vor allem Flüchtlinge, die in Genf eine neue Heimat suchten – besonders aus Frankreich, aber auch aus anderen Ländern. Als Calvin 1536 in die Stadt kam, hatte Genf etwa 10.000 Einwohner. Vier Jahre später war diese Zahl bereits um 20 % auf 12.000 gestiegen und 1560 zählte Genf ungefähr 21.000 Einwohner. Zu danken war diese Bevölkerungszunahme vor allem den Flüchtlingen, die wegen ihrer protestantischen Überzeugung ihre alte Heimat verlassen mussten und wegen Calvin nach Genf kamen. So entstanden neben den französischen Gemeinden auch andere mit Gottesdiensten in ihrer eigenen Sprache; es gab z. B. Gruppen von Engländern (Marian exiles), Spaniern und Italienern. Und dann waren da noch die Studenten und andere Besucher aus verschiedenen Ländern wie den Niederlanden, Deutschland und Orten wie Kreta, Tunis oder Malta.

Anfangs wurden diese Gruppen nolens volens akzeptiert, später jedoch sahen viele vor allem in den französischen Flüchtlingen eine potentielle Gefahr. Das änderte sich allerdings, als Calvin 1555 Aufwind bekam. Die Verhältnisse im Stadtrat gestalteten sich nach den Wahlen so, dass eine Mehrheit für Calvin war. Das bedeutete schon eine grundlegende Veränderung der Umstände. Allerdings hatte die Gruppe, die zunächst Revolution und Reformation getragen und ein selbständiges Genf erreicht, sich dann aber Calvin und seinem Programm kräftig widersetzt hatte, durch innere Uneinigkeit und elitäres Gehabe auch dafür gesorgt, dass sie als Gruppe auseinanderfiel und von der Bildfläche verschwand. Die Zahl der Flüchtlinge, die das Bürgerrecht erhielten, wuchs im Jahr 1555 um 127 und im Jahr 1556 um 144 Personen. Bedeutsam war dabei nicht einfach die Zahl, sondern die Tatsache, dass es sich hier fast ausnahmslos um Leute handelte, die hinter Calvin und dessen Bekenntnis standen und die angesichts ihrer Qualitäten bald bedeutende Posten auf kirchlichem, politischem und gesellschaftlichem Gebiet besetzen sollten. Genf wurde zum Vorreiter eines Phänomens, das eigentlich erst im 19. und 20. Jh. aufkam: nämlich Städten, die eine soziale und politische Transformation erfuhren, indem Immigranten das Gesicht der Stadt zu bestimmen begannen und ihr Be­kenntnis an die Stelle des einheimischen trat. Das geschah in Genf, ohne dass eine Art französisches Getto entstand, sondern eine ganz und gar internationale und international orientierte Stadt. Dies hing mit Calvins Ansicht zusammen, dass die Welt ihr Aussehen veränderte. Seine Theologie der Fremdlingsschaft mit dem Himmel als einzigem Vaterland bietet wenig Verbundenheit mit einem irdischen Vaterland und erhöht so die Mobilität und den Pioniergeist der Menschen. Doch auch Calvins politische Einsicht, dass die alte Welt untergegangen und Europa geteilt sei, wobei die Trennlinie nicht zwischen Ost und West, Nord und Süd, sondern zwischen römisch und reformatorisch verliefe, trug hierzu bei. Nicht Nationalitäten, geschweige denn Regionalitäten oder Lokalitäten seien von Bedeutung, sondern der gemeinsam gewählte Kurs von Menschen, die in einer Stadt zusammengekommen sind, um hier zu leben. Diese Stadt darf multikulturell sein, wenn sie nur unireli­giös ist.

Guillaume Farel war der Ansicht, dass Gott die Menschen aus ganz Europa in dieses asylum gebracht habe.7 Das ist ein schöner Gedanke, doch kamen die Menschen schon auch über den calvinischen Weg. Übrigens richtet Farel damit den Blick auf das ehrwürdige Genf, während Calvins Blick gerade nach außen gerichtet war. Verbessere die Welt, fang bei Genf an: Das war Calvins Plan. Menschen dürfen Genf dann zwar loben, Calvin jedoch fand Genf zum einen gar nicht so lobenswert und zum anderen wollte er gerade von Genf aus den Rest der Welt erreichen. Kurzum: Genf war wie ein Magnet, aber Calvin wollte daraus lieber eine Angriffsbasis machen.

3. Genf als Basis


Calvin sandte seine »Soldaten« in alle Welt, blieb aber selbst daheim und verließ als Feldherr kaum noch seinen Kommandostand. Die 1559 gegründete Akademie spielte darin eine essentielle Rolle.8 Dieses Institut hatte eine enorme Anziehungskraft auf ausländische Studenten, die, außer aus den schon genannten Ländern, aus den Niederlanden, Schottland, Polen, Kalabrien und Venetien kamen. Darunter waren viele, die nach ihrer Rückkehr aus Genf in ihrer Heimat bedeutende Stellungen in Kirche und Politik einnehmen sollten und das in Genf Gehörte oft nachdrücklich in der Praxis umsetzten.

Das Herzstück der »Predigerarmee«, die von Genf aus in die Welt zog, bildeten jene, die nach Frankreich gingen – unterrichtet an der von Calvin als »pädagogische Hochschule« bezeichneten Akademie, an der Menschen trainiert wurden, »die bald über ganz Frankreich verstreut sein werden«.9 In den Jahren 1555 bis 1562 wurden – neben je einem nach London, Antwerpen und Turin sowie zwei nach Brasilien entsandten – zehn Prediger nach Piemont und 56 nach Frankreich geschickt. Calvin konnte den Bedarf an Predigern gar nicht decken: »Von allen Seiten möchte man Prediger von uns haben und man ist dabei genauso eifrig, wie man bei den Papisten nach Pfründen strebt. Die Leute, die sie holen wollen, belagern meine Eingangstür, und als ob sie, so wie es bei Hofe üblich ist, sich flehentlich an mich wenden müssten, wetteifern sie auf fromme Weise untereinander und auf solche Art, als hätten sie Christi Reich schon in Besitz. Gern würden wir ihre Wünsche befriedigen, aber wir sind komplett ausverkauft. Schon lange wurde selbst aus den Werkstätten der letzte Mann geholt, der auch nur ein bisschen literarisch und theologisch geschult war.« 10

So sandte Calvin seine Kämpfer in die Welt: mit Christus im Banner und dem Wort als Waffe. Waren sie auch keine Kopien von Calvin, so stellten sie doch den Typ Prediger dar, für den die Kanzel ein Schlachtschiff ist, von dem aus die Alliierten Vater, Sohn und Heiliger Geist eine Befreiungsaktion starten, von wo aus aber auch scharf geschossen wird auf alles, was feindlich ist oder so klingt. Es mussten Pfarrer sein, die sich nicht fürchteten, Freund und Feind die Wahrheit vorzuhalten, so, wie Propheten das taten, und so, wie Calvin selbst es tat. Dass war die Aufgabenbeschreibung, die Calvin gab. Sie mussten »durch Gottes Wort alles freimütig wagen, und alle Kraft, allen Ruhm, Weisheit und Hochmut der Welt zwingen, vor der Majestät des Wortes zu weichen und ihm gehorsam zu sein; unterstützt von der Kraft des Wortes über alles, vom Höchsten bis Niedrigsten, gebieten; das Haus Christi bauen, das des Satans stürzen; die Schafe hüten, die Wölfe vernichten; die Gelehrigen anleiten, die Widerspenstigen und Hartnäckigen bestrafen, tadeln und zurechtweisen; binden und entbinden; und endlich, wenn nötig, blitzen und donnern: Aber alles durch das Wort Gottes.« (Inst. IV,8,9)

Dieser Typ Prediger, der später in den Niederlanden nicht von ungefähr dominee (von Dominus) statt Pastor heißen wird, weil zu ihm die Funktion als zentrale Person des Konsistoriums gehörte und er außerhalb der Kirche Teil einer Dreiheit wurde, in der Kaufmann und Regent die beiden anderen Partner bildeten, wurde ein internationales Phänomen. Dennoch kann von einer zielgerichteten Missionskampagne, in der Calvins Ideen verbreitet werden sollten, keine Rede sein. Es handelte sich vielmehr um eine Migration von Gedankengut, das zwar von Calvin ausging, tatsächlich aber nicht an seinen Namen gebunden war. Dies hängt mit der Tatsache zusammen, dass eben gerade beim calvinischen Gedankengut Migration und Transformation unauflöslich miteinander verbunden sind – ein Punkt, auf den ich später zurückkommen werde.

4. Das Wort als Saat


Kennzeichnend für Calvins Theologie ist seine Konzentration auf das Wort sowie auf die Verkündigung und Kenntnis von ihm. Seine Predigten sind ihrem Charakter nach nicht belehrend, haben aber einen doktrinären Ansatz, wobei Doktrin als auf das Leben gerichtete Lehre verstanden werden muss. Die Konzentration auf die Predigt verstärkte sich noch durch das fast völlige Fehlen des Visuellen im calvinischen und calvinistischen Gottesdienst. Man konnte nichts anderes tun als zu hören und zu lesen. Hierbei ist von großer Bedeutung, dass Calvins Lebensgeschichte, anders als bei Luther, nicht dazu führte, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Sünder und dem gnädigen Gott eine große Rolle in seinen Predigten spielte. Für Calvin war die Frage nicht: Wie finde ich Frieden mit Gott?, sondern: Wie wirkt Gott in dieser Welt und wie kann ich ihm dienen? Dementsprechend beschäftigten sich die Hörer bzw. Leser von Calvins Predigten weniger mit sich selbst, sondern mehr mit dem Leben in dieser Welt. Ich will hier keinen falschen Gegensatz zu Luther kreieren. Im Gegenteil. Nachdem Luther die Tür zum Himmel geöffnet hatte, öffnete Calvin die Tür zur Welt.

Die Predigten sind ein anderes, essentielles Kommunikationsmittel zur Wirkungsentfaltung und Verbreitung der Gedanken Calvins. Er predigte jeden Sonntag zweimal und alle zwei Wochen täglich. Im Durchschnitt sind das etwa fünf Predigten pro Woche und das von 1541 bis 1564. Ab 1549 wurden Calvins Predigten von Denis Raguenier gewissenhaft notiert. Die Notizen wurden später mit Hilfe einiger Mitarbeiter zu schriftlichen Predigten ausgearbeitet. Als Verwalter der sog. Bourse française, einem diakonischen Fond zur Unterstützung armer Flüchtlinge aus Frankreich, sorgten die Diakone dann für die Veröffentlichung der Predigten und deren Verbreitung unter den französischsprachigen Glaubensgenossen. Den erzielten Gewinn verwendeten sie für die Armenfürsorge.

Laut eigener Zählung hat Raguenier bis zu seinem Tod 1560 oder 1561 nicht weniger als 2042 Predigten zu Papier gebracht. Seine Nachfolger haben noch einmal 262 Predigten festgehalten, so dass insgesamt gut 2300 Predigten aufgeschrieben wurden. Ein Teil dieser Manuskripte wurde »durch eine kriminelle Dummheit der Bibliothekare«11 als Altpapier verkauft. Deutlich ist in jedem Fall, dass nicht nur die gehörten, sondern vor allem auch die gedruckten Predigten Calvins Botschaft weit über Genf hinaus verbreiteten.

Calvin setzte also eine internationale Bewegung in Gang, indem er schlicht daheim blieb, um zu schreiben. Im Grunde führte er einen literarischen Krieg gegen Rom und andere Irrlehrer für alles, was seiner Meinung nach biblisch war. Seine Feder war die effek­tivs­te Waffe in diesem Streit und so ist es nicht weiter erstaunlich, dass sich um ihn ein ganzes Bataillon Verleger versammelte. Sie sorgten dafür, dass in den Jahren von 1551 bis 1564 etwa 500 Buchtitel auf den Markt kamen, von denen allein 160 von Calvin stammten. Die meisten Exemplare davon gingen Richtung Frankreich. Calvin wusste, wie Unternehmer für die Finanzierung und Händler für den Transport und den Schmuggel der Bücher nach Frankreich und anderswohin zu gewinnen waren. Wie ein General verwaltete er diese Publikationsmaschinerie inklusive des Netzwerkes, über das seine Worte die Menschen erreichten. Es handelte sich hierbei um Bestseller wie die Institutio und den Katechismus, aber auch um Kalender, auf denen früher die Heiligentage genannt wurden, nun aber biblische und kirchenhistorische Ereignisse. Der Renner blieb das Psalmbuch mit 19 Auflagen aus Genf, sieben aus Paris und drei aus Lyon. Bis 1562 wurden allein in Genf 27400 Exemplare ge­druckt. Calvin kannte die Kraft der Musik und setzte sie positiv ein, denn er begriff, dass eine gesungene Zeile eines Psalms tiefer in Herz und Verstand eingeht als eine gelesene Passage aus der Institutio. So verband er in den Psalmbüchern Musik und Wort.

Es sind diese Psalmen, die als Bibelbuch und als Liedbuch einen großen Beitrag zum Selbstbewusstsein der Anhänger Calvins ge­leistet haben. Calvin legte die Psalmen so aus, dass seine Hörerschaft, bestehend zum größten Teil aus Flüchtlingen, sich augenblicklich in Israel als dem Volk Gottes wiedererkennen konnte, das aus dem französischsprachigen Ägypten fortgezogen und nun auf einer Pilgerfahrt ins Gelobte Land war. Die Identifikation mit dem ziehenden, kämpfenden und leidenden Gottesvolk verstärkte sich durch das ausschließliche Singen der Psalmen und bestätigte sich im Los, das die Hugenotten und Geusen traf. Es überrascht so auch nicht, dass die Psalmen sowohl von den Calvinisten auf dem Scheiterhaufen als auch von den Geusen während ihrer Befreiungsak­tionen gegen die als Philister gesehenen spanischen Unterdrücker gesungen wurden. 12 Die Anziehungskraft der calvinistischen Be­wegung als Folge dieses Umgangs mit den Psalmen wurde auch auf katholischer Seite bemerkt. Man konstatierte, dass die Freude beim Singen der Psalmen die Herzen erweiche und empfänglich für die reformierte Lehre mache. Um diesem Einfluss zu begegnen, wurde ein katholisches Psalmbuch geschaffen.13

Waffen waren auch Calvins Briefe. Ihm war klar, dass sie gewissermaßen öffentliche Dokumente waren, die nicht nur vom Adressaten gelesen wurden. Calvin war ein leidenschaftlicher Briefeschreiber.14 Schätzungen zufolge hat er in der Zeit von 1530 bis 1564 während der ersten zehn Jahre zwei und während des restlichen Zeitraums sechs Briefe pro Woche verfasst, insgesamt also gut 8500. Etwa dieselbe Anzahl an Briefen soll er empfangen haben.15 Von Calvins Schriftverkehr ist nur ein Teil erhalten geblieben: etwa 3.400 Dokumente, die meisten davon auf Latein, der Rest auf Französisch. Diese Briefe bieten einzigartiges Material. Sie zeigen, wie Calvin als Reformator vorging und wie er nach der Durchsetzung der Bewegung des reformierten Protestantismus in Europa strebte. Strategisch denkend wie ein General, mit der Argumentationsgewalt eines Advokaten und wortgewaltig wie ein Prophet richtete er sich an jene, die in Kirche und Staat Schlüsselpositionen innehatten.

Noch weiter als seine Briefe reichten aber seine Publikationen. Um 1600 waren bereits 90 Werke von Calvin in England veröffentlicht, darunter 15 Editionen seiner Institutio, dem Werk, das zur Standardlektüre der Theologiestudenten in Oxford und Cam­bridge gehörte. Auch seine Kommentare fanden reißenden Ab­satz.16 Insgesamt verfasste Calvin Kommentare zu allen Büchern des Neuen Testaments außer den letzten zwei Johannesbriefen und dem rätselhaften Buch der Offenbarung. Nachdem er seine Kommentare zum Neuen Testament abgeschlossen hatte, begann er mit den Büchern des Alten Testaments; zuerst 1549 in Form von Vorlesungen über Jesaja. Nach 1557 waren alle Werke von Calvin der Bibel­exegese des Alten Testaments gewidmet. Er veröffentlichte Kommentare zum Pentateuch, zu Jesaja, zu den Psalmen und zu Josua. Seine Anhänger publizierten auch seine Vorlesungen ( praelectiones) zu den restlichen prophetischen Büchern des Alten Testaments.

Calvin wurde als einer der besten Exegeten seiner Zeit angesehen.17 Neben dem inhaltlichen Aspekt machten seine gekonnte Ausdrucksweise, sowohl auf Französisch als auch auf Latein, und seine durch Artes- und Jurastudium ausgebaute Gabe, komplexe theologische Materie verständlich zu formulieren, das Lesen seiner Werke zu einer angenehmen Beschäftigung. Die Frage ist aber, warum Calvins Werk so intensiv übersetzt und verbreitet wurde. Was war die Motivation von Übersetzern, Verlegern und vor allem Käufern? Der Transfer von Gedankengut unterstellt eine gewisse Attraktivität oder mindestens ein bestimmtes Interesse des Empfängers. Was machte Calvin so attraktiv und bedeutungsvoll? Diese Frage wird noch drängender auf Grund einer anderen Besonderheit – der nämlich, dass Leser und Verwender seiner Schriften vom Inhalt auf eigene Weise Gebrauch machten.

5. Der Vater und seine Kinder


Als Calvin einmal verspottet wurde, weil er keine Kinder hatte und das Kind, das er bekam, früh starb, sagte er, er hätte zehntausende von Kindern in der ganzen christlichen Kirche.18

Wenn es um Calvins geistliche Kinder geht, darf gefragt werden, ob nicht auch hier gilt, dass vieles vom Vater an den Kindern wie­dererkannt werden kann, sie aber dennoch eigene Wege einschlagen. Kurzum, genetisch besteht eine klare Verbindung zwischen Calvin und Calvinismus, aber ist dies auch inhaltlich der Fall?

Die Verbreitung des Calvinismus im 16. Jh. ist auf Zeitraum und Umfang bezogen beachtlich. So gab es 1554 etwa eine halbe Million Reformierte. 1600 waren es bereits zehn Millionen. Benedict nennt dies in seinem Übersichtswerk »nothing short of remarkable«19 – eine Bemerkung, die impliziert, dass eine solche Ausbreitung eigentlich nicht zu erwarten gewesen war, und das ist in gewisser Hinsicht korrekt. Die Verfolgung von Reformierten in Frankreich, Italien und Spanien sowie der politische und auch militärische Druck, dem sich die Reformierten im Deutschen Reich ausgesetzt sahen, waren bedeutende Faktoren, die eine Verbreitung eigentlich hätten unmöglich machen sollen. Zudem waren die direkten Kontakte zwischen Calvin und den calvinistischen Gebieten oft sehr begrenzt. So hatte Calvin keinen unmittelbaren Kontakt mit den Niederlanden. Seine Frau stammte zwar aus den südlichen Niederlanden, er schrieb ein Werk gegen Coornhert und in Genf studierten Niederländer; aber das war auch alles an Kontakt. Mit Deutschland verhielt es sich nicht viel anders. Da war es sogar so, dass die Reformierten in der Pfalz ganz und gar nicht als Calvinisten bezeichnet werden wollten. »Was haben wir mit einem Franzosen zu tun!«, rief Tossanus aus. Die Institutio wurde dort sogar als Lehrbuch durch die Loci Communes von Petrus Martyr Vermigli ersetzt. Für andere Länder gilt Gleiches, mit Ausnahme von Frankreich. Aber auch dort blieb man Calvin nicht in allen Dingen treu.

Vor allem bei späteren theologischen Entwicklungen ist die un­mittelbare Verbindung zu Calvin oft nicht evident und fehlt bisweilen ganz. Ein Paradebeispiel dafür ist der Heidelberger Katechis­mus. Nicht ein einziger von Calvins Katechismen wurde als Standardlehrbuch für die reformierte Jugend akzeptiert, sondern das Werk, das hauptsächlich von einem Melanchthon-Schüler stammt, nämlich von Ursinus, und auch deutlich Wittenberger Spuren zeigt. Es wären noch mehr Beispiele zu nennen, aber es bleibt bei dem Schluss, dass die Berufung auf Calvin recht begrenzt war und die Auflagen seiner Werke, auch in Übersetzungen, mehr und mehr abnahmen. Bedeutet dies, dass die Wirkung von Calvin zwar breit und intensiv war, aber zugleich auch kurzlebig? Sind seine Kinder und deren Nachkommen vom väterlichen Weg abgekommen?

Zur Beantwortung dieser Frage sind vorab zwei andere Fragen zu stellen. Zum einen: Entspricht es der Theologie Calvins, dass seine Kinder bei seinen Ansichten bleiben müssen? Zum anderen: Wie kann es sein, dass Calvins Theologie auch in anderer Form bis heute weltweit, sowohl innerhalb als außerhalb des kirchlichen bzw. theologischen Bereichs, so einflussreich und bestimmend geworden ist? Diese Frage ist nicht nur mit dem Inhalt, sondern auch mit der Form seines Denkens zu beantworten. Damit komme ich zu dem Teil meiner Ausführungen, die die Theologie Calvins zum Gegenstand haben.

6. Theologie als Auslegung


Was die erste Frage angeht, nämlich ob es der Theologie Calvins entspricht, seine Nachfolger für alle Zeiten auf seine Ansichten zu verpflichten, so hängt die Antwort erst einmal daran, ob Calvin überhaupt eine eigene Theologie hatte. Liegt seine theologische Kraft nicht in seiner späten Geburt? Er war ein Mann der zweiten Generation. Das heißt, er kannte die Schriften der ersten Refor­matoren – soweit sie auf Latein oder Französisch verfasst oder in diese Sprachen übersetzt worden waren (Calvin war der deutschen Sprache nicht mächtig) und er die Diskussionen zu einigen wesentlichen theologischen Themen und ihren Auswirkungen überbli­cken und nutzen konnte. Zu denken ist dabei etwa an den Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli, die Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus in Bezug auf den freien Willen und die Diskussion mit den Täufern über die Taufe, den Bund, den Wert des Alten Testaments und das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Calvin konnte die Früchte dieser Diskussionen in sein Werk einfließen lassen und dabei vielem ausweichen, das sich als Sack­gasse erwiesen hatte.

Wie man an der Institutio sehen kann, kennzeichnet Calvin zudem das Fehlen einer theologischen Ausbildung. Das ersparte ihm den inhaltlichen und formalen Ballast, den sich der Durchschnittstheologe im Rahmen der Vertiefung in scholastische Handbücher aufbürden musste. Verstärkt wurde dieser Aspekt noch dadurch, dass Calvin als Humanist vor allem danach strebte, an den Quellen anzusetzen und die Dinge dabei so verständlich wie möglich wiederzugeben. Zu diesen Quellen gehören Reformatoren wie Luther, Bucer, Zwingli und Oecolampad sowie die Kirchenväter – von denen Augustinus am meisten in Erscheinung tritt – und die frühe Kirchengeschichte einschließlich der Konzile. Die wesentlichste Quelle allerdings bildet die Bibel. In den verschiedenen Ausgaben der Institutio ist die Frucht aus Calvins exegetischer Beschäftigung mit der Heiligen Schrift immer stärker zu erkennen. Man könnte sagen, die Institutio wächst mit Calvins wachsenden Bibelkenntnissen.

7. Doctrina


Ein weiterer Ansatz zur Erklärung des anhaltenden theologischen Einflusses Calvins liegt in seinem bereits erwähnten Doctrina-Begriff, in dem Lehre und Leben auf eine solche Weise miteinander verbunden werden, dass seine Theologie zu einer »theologia practica« im ursprünglichen Wortsinn wird, so dass sich diese auch außerhalb der Akademie durchsetzen konnte. Der praktisch-kirchliche Charakter der calvinischen Lehre hat dafür gesorgt, dass sie über die Jahrhunderte in der Kirche bewahrt werden konnte, auch in Zeiten, als Calvin an den Universitäten nicht mehr gebräuchlich war.

Der Begriff Doctrina kommt bei Calvin beinahe auf jeder Seite seines Werkes vor. Schon bei der Suche nach ihm weist allein die Gesamtheit seiner Werke im Corpus Reformatorum mehr als 9500 Seiten auf, wo Calvin den Begriff erwähnt. Die häufige Verwendung dieses Begriffs rechtfertigt aber noch nicht den Schluss, Calvin sei doktrinär.20 Calvin kann mit Doctrina sowohl die Predigt, die Be­kenntnisschriften, die Bildung, den Glaubensinhalt und auch dessen Bekenntnis meinen. Daneben fällt auf, dass Calvin auch die Seelsorge mit Doctrina verbindet. Im Rahmen des Pastorats dient das Vermitteln von und das Weisen auf die Doctrina als Inhalt des Evangeliums, den Gläubigen zum Trost. Doctrina ist also nicht nur für den Verstand bestimmt, sondern mit Nachdruck für das Herz.21 Das ist auch der Zweck der Doctrina, wenn es um die Predigt geht. Bei Calvin sind Doctrina und Praedicatio fast synonym.22 Doctrina muss verkündigt werden, denn nur so ist sie heilsam. Dieser Verkündigung geht die Unterweisung der zukünftigen Prediger voran. Mit diesem Ziel hat Calvin an der Institutio gearbeitet, die er in der ersten Edition 1536 als eine Summa bekannt macht, in der alles stehe, was ein Mensch als »Lehre der Seligkeit« nötig habe.23 Der unterweisende Charakter des Begriffs Doctrina hat, wie schon in der ersten Ausgabe der Institutio deutlich wird, mit Calvins Haltung zur Schrift als einer Schule zu tun, in der den Menschen die Kenntnis von Gott gelehrt wird.24 Neben der Schrift spricht Calvin auch von der Kirche als einer Schule und in beiden Fällen geht es nicht um eine Institution zur Erweiterung intellektuellen Wissens, sondern um eine Einrichtung, in der Menschen geformt werden.25 Doctrina lehrt den Menschen, wie er Gott zu dienen hat und wo er Ruhe für sein Gewissen finden kann. Dieses Verständnis von Doctrina geht auf die humanistisch-rhetorische Tradition des docere zurück, wobei nicht auf die noetische Kenntnis, sondern auf die Formung, die Bildung, die Pädagogik des Menschen gezielt wird. Die Lehre ist ein Spiegel, in dem wir das Abbild Gottes wahrnehmen, und wenn wir in den Spiegel sehen, werden wir nach dem Bilde Gottes geformt. Mit dieser Deutung von Doctrina wird der Begriff gleichbedeutend mit christlicher Weisheit (Sapientia Christiana)26. Damit wird wiederum der praktische Fokus des Begriffs bei Calvin unterstrichen. Doctrina und applicatio gehören bei Calvin untrennbar zusammen.

8. Transformation und Migration


Calvin spricht selbst schon von der applicatio der Lehre, doch im Grunde gilt das ebenso für die applicatio seiner eigenen Lehre. Das ist letztlich auch die Antwort auf die zweite Frage: wie Calvins Theologie – in anderer Form – bis heute weltweit sowohl innerhalb als auch außerhalb von Kirche und Theologie derart einflussreich und bestimmend geworden ist. Es wurde hinreichend verdeutlicht, dass Calvin und Calvinismus nicht gleichzusetzen sind. Ebenso muss aber auch die These des »Calvin against the calvinists«, derzufolge Calvins Lehre, insbesondere die Erwählungslehre, in der postcalvinischen Tradition entstellt worden sei – mit den Dordrechter Canones als traurigem Höhepunkt –, in das Reich der Fabeln verwiesen werden, was seit Jahren mit guten Argumenten geschieht. Dennoch bleiben gewisse Unterschiede. Die Erklärung für die Tatsache, dass sich Calvins Vorstellungen nicht nur als Varianten calvinischer Modelle verbreiten konnten, sondern auch vom lutherischen Pietismus, dem Methodismus, Anglikanismus, Baptismus und Puritanismus übernommen wurden, hat damit zu tun, dass Calvins Theologie Elemente enthält, die sie in der Frühen Neuzeit zu einer interessanten und attraktiven Variante machte. Außerdem lässt sie sich einfach transformieren und ist darum für die Migration so geeignet. Zwei Beispiele dafür seien genannt.

Zunächst geht es um den enormen Einfluss, den Calvin in England hatte. Die Zahl der Calvinausgaben, die in den 80er Jahren des 16. Jh.s erschienen, also in der Phase der Organisierung der Anglikanischen Kirche unter Elisabeth I., übertraf bei Weitem die anderer Theologen.27 Im 16. Jh. erschienen in den Niederlanden 19 Übersetzungen der Bücher Calvins, in Deutschland 32 und in England 91. Bemerkenswert und typisch für Calvins Theologie ist, dass er sowohl bei Befürwortern als auch bei Gegnern des Elizabethan Settlement Zustimmung fand. Diese Produktivität illustriert den theologischen Einfluss Calvins auf den Anglikanismus, ohne dass die Anglikanische Kirche in ihrer Liturgie unmittelbar als calvinistisch erkennbar wäre. Das bringt mich zum zweiten Beispiel. 1553 wurde Calvin von der französischen Kirche in Wesel um Rat gebeten. Der dortige Stadtrat hatte die Calvinisten gezwungen, sich lutherischen, ihnen aber »katholisch« erscheinenden Gebräuchen anzupassen. Calvin widersprach den geäußerten Bedenken und riet mit der folgenden Argumentation sinngemäß zu: Ihr könnt doch eine Kirche nicht untergehen lassen, weil ihr euch nicht an ein paar liturgische Sitten anpassen wollt! 28 In liturgischen Dingen war Calvin flexibel und ging weit in den Anpassungsmöglichkeiten. Diese Haltung ist seinem Denken inhärent, denn Calvins Theologie fordert keine Konformität, sondern gibt der Variation Raum. Ich möchte das anhand einiger Themen demonstrieren.

8.1 Rechtfertigung und Heiligung


Angeregt durch die Kritik sowohl von Rom als auch von Seiten der Täufer, legt Calvin großen Nachdruck auf die Tatsache, dass es keine iustificatio ohne sanctificatio gibt. Er geht darin so weit, dass er in der Institutio die Heiligung noch vor der Rechtfertigung be­handelt. Übereinstimmend mit Calvins Überzeugung, dass ein Mensch auf Erden ist, um Gott und dem Nächsten zu dienen, plädiert Calvin für ein aktives Bekenntnis sowohl zur Bekämpfung der Sünden als auch zu Gunsten eines geheiligten Lebens. Die Mittel der Predigt von Gesetz und Evangelium, das Pastorat in Form von Hausbesuchen, gründliche Katechese und die Aufsicht des Kirchenrates durch die Bußzucht sind hinreichend bekannt. Das gilt weniger für die Tatsache, dass diese Kombination von Rechtfertigung und Heiligung, bei der Calvin letztlich auf den Grundlagen der Theologie Luthers und Melanchthons wie auch auf dem Gedankengut von Erasmus aufbaute, eine starke Anziehungskraft hatte – besonders in einem Europa, in dem viele, darunter viele Obrigkeiten, nach Wegen für eine ethische Reform und Wiederherstellung von Werten und Normen suchten. Die Bußzucht wurde dabei als praktisches Mittel angesehen, die europäische Moral zu sanieren, vor allem mit dem säkularen Ziel, den gesellschaftlichen Frieden zu bewahren, der wiederum für politische und wirtschaftliche Stabilität sorgen konnte. Aber auch für den Einzelnen war diese Verbindung interessant. Schon die modern erscheinende Art, wie Calvin Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis miteinander verbindet (vgl. die Einführungsworte der Institutio), war zu seiner Zeit neu und attraktiv. Diese Beziehung wird noch durch die Bundestheologie intensiviert, bei der Gott und Mensch zwar nicht als gleichwertige Partner, wohl aber als selbständige Parteien miteinander in einem innerlichen Vertragsverhältnis stehen, aus dem sich gegenseitige Rechte und Pflichten ergeben. Auf diese Weise wurde die von Humanismus und Renaissance geforderte Beachtung des Wertes des individuellen Menschen honoriert, ohne dass dies auf Kosten des göttlichen Primats ging. Im Rahmen dieses Bundes macht die Verbindung von Rechtfertigung und Heiligung diese Theologie noch mehr zu einer Theologia practica.

8.2 Kirchenstruktur


Calvins Ekklesiologie zeichnet sich durch eine aktive Mitwirkung des Kirchengliedes aus, das nicht nur Hörer des Wortes oder Empfänger des Sakraments ist, sondern auch direkt in der kirchlichen Arbeit und »Weitergabe des Heils« aktiv wird. Calvins Ämterlehre, in der das dreifache Amt Christi als Prophet, Priester und König in den Ämtern des Predigers, Ältesten und Diakons wiederzuer­kennen ist, impliziert die Einbeziehung des nicht theologisch geschulten Gemeindegliedes und somit eine Stärkung des Laienelements. Dieses für das presbyteriale Kirchenmodell kennzeichnende Gleich­heitsprinzip gilt nicht nur für den einzelnen Gläubigen, sondern auch für die gemeinsame Organisation der Gemeinden im Synodalverband. Dazu gehört die Überzeugung, dass das Gemeindeglied auch in Politik und Wissenschaft seinen Glauben bekennt, sich also bewusster als bei Lutheranern oder Katholiken üblich als Reformierter profiliert. Kombiniert mit Calvins Begriff der vocatio29, nämlich der Berufung, sich immer und überall als Jünger Christi zu offenbaren, ist es dieser Ansatz, der sowohl für eine breite geographische als auch für eine gesellschaftlich-kulturelle Verbreitung von Calvins Denken gesorgt hat.

Wesentlich ist außerdem der Gedanke einer Freikirche, also einer Kirche, die ihr Kirchenrecht und ihre Organisation selbst bestimmt und so von der Obrigkeit unabhängig ist. Das macht die Kirche mobil – und so konnte eine nach calvinischen Ideen organisierte Kirche recht einfach z. B. von Antwerpen nach Frankfurt und von Groningen nach Kapstadt, New York oder Seoul verlegt werden. Kirche und Theologie sind so relativ leicht in eine andere Kultur einzufügen und können dann als transkulturell beschrieben werden.

8.3 Verhältnis von Kirche und Staat


Calvins Betonung der persönlichen, individuellen Frömmigkeit und Lebensheiligung, verbunden mit einem Kirchenverständnis, das die Kirche von der Obrigkeit löst, so dass sie sich unabhängig von politischen und gesellschaftlichen Umständen organisieren und wenn nötig geographisch verlagern kann, gab den Impuls zu einer politischen Erneuerung, die mit ihren auffällig dezentralisierenden und demokratisierenden Tendenzen schon die Merkmale der Moderne zeigt.

Eine andere, damit zusammenhängende Frage ist die nach dem Recht zum Widerstand gegen die Obrigkeit. Calvin war gegen Volksaufstände. An Eduard Seymour, den Herzog von Somerset, schrieb er, dass nach dem Bilde Christi erneuerte Menschen keinen Aufstand führen, sondern in ihrem Verhalten das Christentum als dem Chaos feindlich gesinnte Religion aufzeigen sollten. Wenn man ruhig und bescheiden lebe, zeige man, dass man keine liederliche und hemmungslose Person sei, mache die Spötter mundtot und werde von Gott für diesen Gehorsam belohnt (CO 13, 65–77). Calvin riet auch Antoine de Corfy, dem Prinzen von St. Porcie, sich zu mäßigen, »denn das Christentum offenbart sich nicht nur darin, dass wir Waffen tragen und unser Leben und unseren Besitz im Kampf für die evangelische Sache einsetzen, sondern auch darin, dass wir uns Ihm gehorsam unterwerfen, der uns so teuer erkauft hat, dass Er von uns im Leben und im Tode gepriesen werden soll« (CO 19, 11). Der wahre Kampf sei also nicht der Kampf mit dem Schwert gegen andere, sondern der Kampf gegen die Sünde im eigenen Herzen und gegen den Satan, der stets versuche, die Menschen von Gott zu trennen.

Für Calvin hatten nur im äußersten Notfall die Magistraten – in diesem Falle der Hochadel Frankreichs – das Recht zum Aufstand. Als die Bourbonen, Louis de Condé und Gaspar de Coligny, die Reformation mit Waffengewalt verteidigten, konnte Calvin das als durch Gott gegebene Tapferkeit, die die Durchsetzung des Reiches Christi zum Ziel habe, wertschätzen. Als dann die Hugenottenkriege ausbrachen, unterstützte Calvin diese und setzte sich aktiv ein, indem er Geld für das Heer der Hugenotten sammelte. Calvin sanktionierte so in Wort und Tat das Recht zum Aufstand und wurde damit ungewollt zum Vater einer Theorie, von der der niedere Adel im Lauf der Zeit mehrfach Gebrauch machte. Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl Wilhelm von Oranien, der nicht zuletzt deshalb vom Luthertum zum reformierten Bekenntnis übertrat, weil er unter Luthers Obrigkeitsverständnis nicht die Faust gegen die spanischen Besatzer erheben konnte. Mit Calvin aber sah er die Möglichkeit, die Niederlande zu einer freien und wohlhabenden Republik zu machen.

Im Zusammenhang mit der gesellschaftspolitischen Relevanz der calvinischen Theologie muss natürlich noch ihr Einfluss auf wirtschaftspolitischem Gebiet genannt werden. Dabei ist selbstverständlich auch an Calvins Ansichten zur Zinserhebung zu denken, die als die erste, biblisch begründete Billigung für das Verdienen von Geld mit Geld gelten kann.

8.4 Wissenschaftsverständnis


Calvins Sicht der Schöpfung gab der Entwicklung der Naturwissenschaften einen bedeutenden Impuls, der auch eine Erklärung für den hohen Prozentsatz an Calvinisten unter den Mitgliedern der Académie Française im 17. Jh. bietet.30

Laut Calvin sind die Naturwissenschaften Gaben Gottes, die er geschaffen hat zum Nutzen der Menschheit.31 Die eigentliche Quelle der Naturwissenschaften ist der Heilige Geist.32 Wer sich also damit beschäftigt, würdigt Gott, gehorcht der Berufung durch Gott und richtet sich auf Gottes Schöpfung aus. Somit ist Biologie auch Theologie.

Bei Calvin gibt es diesbezüglich eine engere Beziehung des Geistlichen und des Natürlichen als bei Luther und Rom. Auch Calvins Überzeugung, dass die Sünde eine verheerende Wirkung auf Natur und Denken habe, ändert im Grunde nichts daran, denn Gott würde es nicht so weit kommen lassen, dass diese seine Gaben unbrauchbar geworden wären. Es wird behauptet, dass Calvins Theologie rationalistisch und Calvin selbst im Grunde der Vater der Aufklärung sei. Das ist zwar eine unhaltbare Behauptung, dennoch kann in einer Periode, in der die Naturwissenschaften bedeutende Entwicklungen durchmachten, der kognitive Einschlag von Calvins Denken zu dessen Attraktivität und Verbreitung beigetragen haben.

So sind es neben den anderen Faktoren vor allem die theologischen Merkmale, welche die immense und lang anhaltende Verbreitung des calvinischen Denkens und des Calvinismus erklären, die aber gleichzeitig deutlich machen, warum andere Theorien zur Wirklichkeitserklärung nicht verdrängt wurden. Bestimmte Elemente der calvinischen Konzeption von Kirche und Gesellschaft funktionieren durchaus in einer Einzelgemeinde, noch recht gut in einem kleinen Stadtstaat von der Größe Genfs, nicht aber in einem Staat und mit Sicherheit nicht in einem modernen Staat. Schon damals erkannte man den Nutzen und die Anwendbarkeit zentraler Ideen von Calvins Theologie, die in ihrer Form angepasst werden konnten, ohne ihrem Inhalt zu schaden. Gerade darum wäre es besser, nicht von calvinistischer, sondern von reformierter Theologie zu sprechen.

9. Schluss


Calvin vereint in sich viele europäischen Eigenschaften: französisches Flair, deutsche Gründlichkeit, niederländischen Geschäftssinn, englische Pünktlichkeit, italienisches Temperament und skandinavische Nüchternheit. Sehr passend dazu ist seine Exegese zu Gal 3,38: »und es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau, denn ihr seid alle einer in Jesus Christus«. Calvin war zu seiner Zeit sehr aktuell und ist es noch heute, wenn man seinen Zusatz zur eben genannten Galaterstelle liest: »und es gibt nicht mehr Deutsche und Franzosen«. 33 – Ob er bewusst die Niederländer nicht erwähnt hat, weiß ich nicht.

Calvin sorgte sich um Europa und sprach von Europa afflicta. Geistlich, kirchlich und politisch war und ist Europa in Not – damals und, wie ich meine, auch heute. Calvin hatte nicht Genf und auch nicht nur Frankreich vor Augen, sondern Europa. Deshalb kann man durchaus sagen, dass Calvins Kinder Europäer sind. Am wichtigsten war für Calvin jedoch, Bürger des Himmels zu sein. Denn wenn es um Migration, Transformation und Transnationalität geht, reicht nichts an die Himmelsbürgerschaft heran.

Summary


The celebration of the 500th anniversary of John Calvin brings to the question how his theology could become so widespread and influential. The publication and translation of his works, the contacts with many influential Europeans and the success of his academy are only one side of the explanation. A deeper reason is the attractiveness of Calvin’s theology which combined much of what those before him had said and written and which also was easy to adapt to various ecclesiastical and political circumstances. His combining of justification and sanctification, his view on the re­lation between church and state, his ecclesiology and his impul-ses to natural sciences are some of the main ingredients of this theology.

Fussnoten:

1) CO 21, 105–106. CO = Ioannis Calvini Opera Quae Supersunt Omnia. Ediderunt Guilelmus Baum, Eduardus Cunitz, Eduardus Reuss. Vol. 1–59, Brunsvigae-Berolinae 1863–1900.
2) De me non libenter loquor. CO 5, 389.
3) CO 12, 338.
4) Irena Backus, Life Writing in Reformation Europe: Lives of Reformers by Friends, Disciples and Foes, Aldershot 2008.
5) Hieronymus Bolsec, La Vie de Calvin, Lyon 1577, 140.
6) Herman J. Selderhuis, Johannes Calvin – Mensch zwischen Zuversicht und Zweifel, Gütersloh 2009, 193–194.
7) CO 15, 153.
8) Karin Maag, Seminary or University? The Genevan Academy and Re­formed Higher Education, 1560–1620, Aldershot 1995.
9) CO 19, 170.
10) CO 18, 467.
11) Bernard Cottret, Calvin – Eine Biographie, Stuttgart 2005, 292.
12) Vgl. Jan R. Luth, Calvijn en de muziek, in: Karla Apperloo-Boersma en Herman J. Selderhuis, Calvijn en de Nederlanden, Apeldoorn 2009, 182–193.
13) Artus Desiré, Hymnes en François, Paris 1561; vgl. Andrew Pettegree, Reformation and the Culture of Persuasion, Cambridge 2005, 61.
14) Cornelis Augustijn, Christoph Burger, F. P. van Stam, ›Calvin in the light of the early letters‹, in: Herman. J. Selderhuis (ed.), Calvinus praeceptor ecclesiae, Papers of the International Congress on Calvin Research, Genève 2004, 139–157; C. Augustijn, F. P. van Stam (eds.), Ioannis Calvini epistolae, vol. 1, Genève 2005, 11–31.
15) Vgl. COR VI/1, 27.
16) Donald K. McKim (ed.), Calvin and the Bible, Oxford 2006.
17) David Steinmetz, in: McKim, Calvin and the Bible, 291.
18) CO 7, 576.
19) Philip Benedict, Christ’s Churches purely reformed – A Social History of Calvinism, New Haven-London 2002, 281.
20) Diesen Fehler macht zum Beispiel Bouwsma, wenn er sagt, dass die Art und Weise, wie Calvin die Begriffe ›Evangelium‹ und ›doctrina‹ benutzt, dazu geführt habe, dass er unter Glauben, »less as trust in God’s promises than as intellectual assent to a body of propositions« versteht. Vgl. William Bouwsma, John Calvin – A Sixteenth-Century Portrait, New York 1989, 99.
21) Victor D’Assonville, Der Begriff ›doctrina‹ bei Johannes Calvin, Münster 2001, 126–128.
22) Reinhold Hedtke, Erziehung durch die Kirche bei Calvin. Der Unterweisungs- und Erziehungsauftrag der Kirche und seine anthropologischen und theologischen Grundlagen, Heidelberg 1969, 42.
23) Christianae Religionis Institutio totam fere pietatis summam et quidquid est in doctrina salutis cognitu necessarium complectens, omnibus pietatis studiosis lectu dignissimum opus ac recens editum, CO 1, 5.
24) ›Est enim Scriptura schola Spiritus sancti, in qua ut nihil praetermissum est scitu et necessarium et utile, sic nihil docetur nisi quod scire conducat.‹ Inst. 1559 III,21,3.
25) Auch in den reformierten Bekenntnisschriften wird die Kirche nach­drück­lich als Lehrerin und Erzieherin beschrieben: Benno Gassmann, Ecclesia Reformata – Die Kirche in den reformierten Bekenntnisschriften, Freiburg-Basel-Wien 1968, 266–268.
26) CO LII, 12.
27) Andrew Pettegree, The French Book and the European Book World, Leiden 2007, 283–290.
28) CO 15, 78–81.
29) Josef Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche, Breslau 1937 (Reprint Aalen 1968), 636.640.644.
30) R. Hooykaas, Religion and the Rise of Modern Science, Edinburgh-London 1972, 98–101.
31) CO 34, 304; 31, 94.
32) CO 34, 577.
33) CO 36, 226C.