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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

517-536

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Michael Trowitzsch

Titel/Untertitel:

Bemerkungen zum Begriff der Offenbarung
Szene und Verbergung

1. Am Anfang angekommen


»Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt ...«, heißt es am Ende von Franz Kafkas Erzählung Ein Landarzt, »– es ist niemals gutzumachen.«1 Einmal nicht dort begonnen, wo das Neue Testament, gänzlich unproblematisch, selbst anfängt, bei Jesus Chris­tus, dem »Heiligen Gottes«, bei der Offenbarung – es ist niemals gutzumachen. Denn der Anfang bleibt in keinem Falle unbesetzt. Die Alternative stellt sich aber schroff. Gegen das leidige Anfangen des Menschen mit sich selbst und seinen eigenen Bedingungen ist von Anbeginn an aposteriorisch eine unmissverständlich evange­lische Blickrichtung zu erzielen und dauerhaft durchzuhalten, im immer neuen Ansatz und womöglich in langen Linien der Allmählichkeit. Theologie, wenn ihr auf diese Weise eine Initiative und ein kontinuierlicher Gang erschlossen wird, nimmt dann lediglich ihre eigenen, biblischen Voraussetzungen in Anspruch und lässt sich von jedem Gegenüber umso eher mit ihrem eigenen anfänglichen Begriff konfrontieren. Es ist aber, so Bonhoeffer zu Recht, geradezu das Böse, das dem Menschen sagt: »Du bist der Anfang.«2 Was stößt Adam mit dem »Raube des Ursprungs« zu, diesem verheerenden initialen Fundamentalismus? »Statt sich im Ursprung Gottes zu wissen, muß er nun sich selbst als Ursprung wissen.«3 Eine Art Initiation ins grundlos Böse tritt damit ein.

Jesus Christus, der Sündlose, »das endgültige Licht der Welt«,4 die Offenbarung Gottes in Person, wird also als Ursprung und Initiation nicht etwa seinerseits theologisch »vorausgesetzt«, sondern nur als derjenige, der sich hat auffinden lassen, in Anspruch ge­nommen. Nicht als problematisch, sondern nur als offensichtlich tritt er zu Tage. »Offenbarung Gottes in Christus, wie die heilige Schrift sie als geschehen behauptet«, so Karl Barth (KD I/2, 63), »ist nun einmal kein problematisches Etwas, das vielleicht (vielleicht auch nicht) irgendwo hinter jener Mauer von andersartiger Wirklichkeit verborgen wäre, so, daß diese andersartige Wirklichkeit das Unproblematische, ja das Axiomatische wäre, an das man auf alle Fälle gebunden wäre, demgegenüber man tausend Rück­sichten der Wahrhaftigkeit zu nehmen hätte und von dem aus man dann vielleicht einmal (vielleicht auch nicht) mit größter Vorsicht und Zurückhaltung zu jenem Geheimnis vorstoßen dürfte.« 5 »Man muß vielmehr wissen«, fährt Barth mit Bestimmtheit fort, »daß in der Sache, um die es hier geht, alles genau umgekehrt läuft: das Problematische ist hier gerade die andersartige Wirkung des alten Aeon ... Unproblematisch axiomatisch ist hier dagegen das Deus dixit ...«6

Die Offenbarung ist Unhintergehbarkeit, Anfang und Ende und Grenze – oder sie ist nicht. Nicht aufsteigen kann man zu ihr (von woher auch?), nur von ihr herkommen. Als Offensichtlichkeit und Anfang in Anspruch genommen, ist sie aber sogleich auch in ihrer Notwendigkeit verstanden: insofern es, auch hinsichtlich jeder sich neutral gebenden Vorab-Formalität, gleich anfangs – im un­verzüglich erforderlichen Gegenzug gegen das Widersacherische (Joh 8,44: der Teufel, ein Mörder von Anfang an) – der ungeteilten evangelischen Bejahung bedarf. Schon der Anfang öffnet sich als dramatische Situation und Streitraum. Verhängnisvoll wird das Widrige verharmlost, wo nicht von Anbeginn dies ergriffen und dann entschlossen festgehalten wird, dass Gott sich als derjenige offenbart, der sich selbst gegen die Gewalt des Niederträchtigen aufbietet, doch dass auch nur er dazu in der Lage ist. Die Priorität des Rekurses auf die Offenbarung impliziert eine seinerseits initiale, scharfe Zeichnung dogmatischer Hamartiologie. Auch in einer theologisch, von der Offenbarung her gedachten Phänomenologie muss sie sofort zur Geltung kommen.

2. Die Welt, subjektiviert


Der Anschein jener scheinbar festgefügten »Mauer von andersartiger Wirklichkeit« – es ist die aus der Axiomatik des neuzeitlichen Subjektivismus mit Notwendigkeit folgende Verkennung. Mit rigidem Anspruch stellt er, längst selbstverständlich geworden, einen umfassenden Gegenentwurf dar.7 Dessen Grundzug muss in unserem Zusammenhang zunächst in einiger Ausführlichkeit vor Augen treten. Auch dem Verständnis dessen, was »Offenbarung« heißt, kann ja die Struktur dieser Subjektmetaphysik aufgezwungen werden. Etwas wird demgemäß (sei es mit Gott als Helfers­helfer, von ihm auf diese oder jene Weise »bestätigt«) »als« Offenbarung gedeutet oder gewertet. Theologie kann sich, in dieser Weise verfahrend, aus der Verstrickung in den Subjektivismus nicht hinreichend lösen, verstärkt ihn womöglich, indem sie ihm mit ihren Mitteln noch einmal Nahrung gibt. Entsprechend sieht sich auch »Offenbarung« apriorisch subjektivitätsförmig gedacht: wesentlich vom Offenbarungsempfänger her, von dessen Selbstverhältnis und Selbstverständnis, vom Bedeutsamwerden von etwas für seinen Adressaten.8 Gott wird, wie alles, »verortet«: in der »Wahrnehmung« und im Gesichtskreis des religiösen Menschen, des Glaubenden, in der Gewissheit als letztem Kriterium. »Wahrheit« versteht sich nicht als prävalent und souverän (und dann zudem auf »Wahrnehmung« zu), sondern im Voraus von ihr her, nach den Bedingungen ihrer Vorzeichnung und Maßgaben. Offenbarung selbst ist damit allerdings – wie ausgeführt werden soll – von vornherein verkannt. Offenbarung, Szene, Lichtungsort der Wahrheit ist vielmehr Er, Jesus Christus (Joh 14,6): nicht nur die jederzeit anfängliche Wahrheit selbst, sondern auch der einzige Weg und dann in allem: das Leben. »Was da geworden ist – in dem war Er das Leben« (Joh 1,4).

Zu erinnern in der Bestimmung des spezifisch neuzeitlichen, groß-ideologischen Selbst-Fundamentalismus ist – mit offensiver Wendung – an Heideggers m. E. bleibend gültige Einsicht, dass der neuzeitliche Mensch sich selbst als das Zugrundeliegende, das Fundament, das Subjekt und insofern als Lichtung des Seins setzt und mit dieser Maßgabe alles: sich selbst, die Welt, Gott … ans Licht zieht, deutet und präsentiert.9 In der Moderne hat sich der Mensch selber als phänomenale Szene gesetzt, als Situation, Vollzugs- und Austragungsort der Welt – insofern als ihr oberster Gerichtshof. Maßgeblich erscheinen dabei ausnahmslos die (vielleicht zu er­weiternden, aber prinzipiell unhintergehbaren) Vorgaben der Ka­pazitäten seiner Licht- und Finsterniserfahrungen. »Der Mensch«, erklärt Heidegger, »wird zu jenem Seienden, auf das sich alles Seiende in der Art seines Seins und seiner Wahrheit gründet. Der Mensch wird zur Bezugsmitte des Seienden als solchen.« 10 Von ihm her, seinen Handhaben, Möglichkeiten und Grenzen, entwirft sich, legt sich offen, offenbart sich, was ist. Er ist die deutende und damit immer zugleich wertende, würdigende (axiomatische) – und sich selber in dieser Rolle, in seinem Ichwert, völlig unproblematische – Instanz und Einheitsstiftung der Realität. Sämtliches verhält sich relativ auf ihn. Er maßt es sich an. Alles ist in ihm und seinen vielfältigen (noch einmal: nicht starren, sondern durchaus zu steigernden) Wahrnehmungsvarianten und Perzeptionspotentialen und Gesichtskreisen verortet. »Was da geworden ist« (Joh 1,4), eben Sämtliches, erscheint nach Maßgabe seiner Vorstellung – der ge­mäß er die Gegebenheiten gleichsam überhaupt erst belebt und als unterschiedlich vorhanden und ihm so oder so erscheinend setzt, indem er sie vor sich stellt.

Eben das Wort »Vorstellung« erweist sich nach Heidegger als geeignet, als Titel dieses Vorgangs zu gelten; es ist beim Wort zu nehmen: »Vor-stellen bedeutet hier: das Vorhandene als ein Entgegenstehendes vor sich bringen, auf sich, den Vorstellenden zu, beziehen und in diesen Bezug zu sich als den maßgebenden Bereich zurückzwingen.« Insofern »setzt sich der Mensch selbst als die Szene, in der das Seiende fortan sich vor-stellen, präsentieren, d. h. Bild sein muß.«11 Es muss, solchermaßen zurück-bezogen und »zu­rück­gezwungen«, bei ihm, in seiner überhaupt Anwesenheit gewährenden Gegenwart, in jeder Hinsicht (auch in trivialer Hinsicht) ankommen. Ein Vorgang der religio findet statt, der Zurück­bindung und Repräsentation der Gegebenheiten auf die alleinige Bezugsgröße Mensch. Gelegentlich spricht Heidegger prägnant von einem »Herblick«12 des Menschen: Alles wird herbeigeblickt und eben solchermaßen überhaupt erst belebt. Dahin zielen neuweltlich ideologische Hysterisierung und Selbstermächtigung des Menschen: sich selber als Grundlegendes, als subiectum und ὑπο­κείμενον der Welt vorauszusetzen, als Lichtung und Offenbarungsszene, als Maß des Geistes und der Wahrheit. Als wahr kann demgemäß nur gelten, was dem jeweiligen Selbst in seiner eigenen Lebensgegenwart gewiss ist. Die Gewissheit ist das Wesen der Wahrheit.13

Mit ausdrücklicher Bezugnahme auf das Denken Descartes’ nennt Heidegger zwei Grundbestimmungen der Neuzeit: »daß der Mensch als subiectum sich zur Bezugsmitte des Seienden im Ganzen einrichtet und sichert und daß die Seiendheit des Seienden im Ganzen als Vorgestelltheit des Herstell- und Erklärbaren begriffen wird.«14 Beide Bestimmungen, unbedingte menschliche Selbstbehauptung als Subjektivität und, daraus folgend, prinzipiell unbedingte (nur noch nicht generell realisierte) Verfügungsmacht und -legitimität gegenüber dem als bloßes Objekt Gesetzten, sprechen vom Heraufkommen des Menschen in eine spezifische Herrschaftsstellung. Die so verstandene dogmatisierte menschliche Wirklichkeitsgewalt prägt sich als das »Wechselspiel zwischen Subjektivismus und Objektivismus«15 aus. Sich selbst und das, was er als die Welt vorstellt, rückt der Mensch, phänomengewaltig und -gewalttätig, in die in dieser Weise machtförmige Subjekt-Objekt-Beziehung ein.

Es liegt nach Heidegger in der Konsequenz des von Descartes Vorgezeichneten, wenn das Ich gründerisch, urheberisch alles auf sich zu präsent macht, alles anmaßend auf sich hin stellt: »sich so auf die Welt bezieht, daß es diese in richtigen Vorstellungsverknüpfungen, d. h. Urteilen sich zu-stellt und so als Gegenstand sich entgegenstellt.«16 »Das Begegnende wird auf das vorstellende Ich zu, auf es zurück und ihm entgegen praesentiert, in eine Gegenwart gestellt ... Im erkennenden Vorstellen wird dem erkennenden Ich der Grund zu-gestellt.«17 Die Entscheidung aber »über das Seiende hinsichtlich seines Seins« fällt ausschließlich noch im Bereich des Bezuges dieses Objekts auf dieses Subjekt,18 im natürlich ungemein vielfältig möglichen Ergründetwerden des Objekts durch ein Subjekt. Doch ist jedes Mal Sein von Gnaden des ergründenden Bewusstseins. »Sein« enthüllt sich ausnahmslos, legt sich Mal um Mal offen: als »Gegenständigkeit für das Bewußtsein«,19 für das imperiale Subjekt (das als noch so großes oder plurales Kollektiv- oder Kultur-Subjekt an seiner unheilvollen Kraft nichts einbüßt, seinen alles subjektivierenden Zwang vielmehr nur steigert).20

Gravierende Folgen lassen nicht auf sich warten. »Übertribunalisierung« (Odo Marquard) ist eine von ihnen zu Recht genannt worden.21 Ein signifikantes Symptom tritt damit vor Augen: Be­reits die angesprochene, de facto christusförmige Tribunalisierung selbst, die die Fälligkeit der Welt für das menschlich-unmenschliche Gericht unterstellt und in der Folge selbstverständlich alles bewertet und richtet, aburteilt oder freispricht, dabei sich ebenso selbstverständlich mit der Fähigkeit zum Verhör aller Gegebenheiten und zur Generalabsolution des jeweiligen Selbst ausgestattet weiß, stellt die verheerende Grundregung dieses In-der-Welt-Seins dar. »Wahrnehmung«, dergestalt, ist bereits in sich: Ver-nehmung, Vernehmung im juristischen Sinne, Verhör: auch Verhör Gottes, auch Selbst-Verhör.

Das (wiederum erstaunlich selbstgewisse) kritische Selbst-Verhör dieser Subjekt-Ideologie als auf sich gewendete womöglich durchaus radikale Ideologiekritik bedarf freilich eines zuverlässigen Ausgangspunktes. Nur dazu aber ist es in der Lage, ein entsprechendes Fundament wiederum sich selbst zu unterstellen, aus sich heraufzuholen und aufzuwerfen in den Himmel über sich – etwa als »grundsätzliche Selbstbejahung des Seins«.22 An ihr wirklich Niederträchtiges reicht es damit nicht heran, weil das verspiegelt abgründige Böse, der Götzendienst, die Selbstheiligung und Selbstverbindlichkeit, die verzehrende Leidenschaft zum geistlichen Reichtum (Mt 5,3), noch die Ideologie und ihr jeweils Anderes (von dem aus sie sich allenfalls kritisieren ließe) unterfängt. Es bleibt in jedem Falle bei der grundlosen, in sich stürzenden Nichtigkeit der umfassenden, reflexiven Selbst-Ideologie als menschlicher Selbstbejahung und Selbstermächtigung, als Selbstgespräch, Selbstbe­lebung, Selbstbegeisterung etc. – eine Art höherer phänomenaler, tribunaler, soteriologischer Krampf. Unmöglich aber erscheint in dieser Hinsicht etwas Einfaches: Selbstfreiheit, ein wahrhaft befreiter Blick.

Es handelt sich bei dieser invertiven, alles zurückzwingenden Subjekt-Ideologie, bei ihrem unfreien Blick, offenbar um eine ins Umfassende getriebene, alle Gegebenheiten ins Eigene mitnehmende Variante der Figur der incurvatio in seipsum, insofern um eine Form von Idiotie: Es geht im weitausholenden, aneignenden und verarbeitenden Durchgang durch die Welt immer nur um das Eigene des Menschen, zuletzt, soteriologisch, um die eigene Ge­rechtigkeit (Röm 10,3). Das Selbst will nicht einfach die Welt (um sie sich anzueignen und sich zu steigern) – es will sich selbst von der Welt, es will wiederum nichts von Gott als sich selbst. Offenbar weiß es noch nicht hinreichend sich als subiectum seiner selbst, muss unter allen Umständen – unter Benutzung und Verbrauch der Gegebenheiten – seiner selbst erst sicher und gewiss werden. Es betraut sich in dieser Absicht mit sich selbst. Das Versuchte kann freilich nicht gelingen. Das epochal große Selbst krümmt sich zusammen. Es beginnt, sich selbst zu verschlingen, indem es die Lebensgrundlagen seiner Existenz verheert und zerstört.

3. Gott, gewertet


Alle großprinzipiellen Instanzen versammelt der Mensch in sich: als axiomatisches subiectum, als Hypostase aller Erscheinungen. »Bedeutung« und »Sinn«, aber auch jede »Transzendenz« und jeder »Gott« kommen selbstverständlich nur relativ auf dieses Beziehungsgefüge in Betracht (trivial: »Es sagt mir nichts« oder »Es bringt mir was«). Verbindlich kann nur sein, was seinen eigenen Setzungen entspringt, woran sich zu binden er gewillt ist.23 Alles ist insofern am besten vorläufig zu halten. Dieser Subjekt-Ontologie oder Subjekt-Phänomenologie gemäß – eben die realisierte Verkehrung einer christologischen Figur – ist geradezu von einer Enhypostasie aller Phänomene der Welt (und dann auch Gottes) im menschlichen Subjekt zu reden. Die Dinge an sich existieren demgemäß anhypostatisch, haben an sich keine phänomenale Kraft: keine eigene Substanz, kein Wesen und in diesem Sinne keine axiomatische Würde (die als »Eigenwert« allenfalls möglicherweise zugeschrieben und zuerkannt, aber dann vielleicht auch wieder aberkannt werden kann). Nur »vor-gestellt« und angemaßt, gedeutet, gewertet, für wirklich und überhaupt vorhanden gehalten, nur getragen von diesem Zugrundeliegenden, enhypostasiert bei mir, bei uns, beim Menschen, sind sie. Sie sind, soweit und sofern sie beim Menschen, der selber Situation und phänomenale Szene ist, epiphan werden.

Heidegger hat sodann, von Nietzsche ausgehend, gezeigt, wie der solchermaßen vollzogene Wille zur Macht die be­dingungslose Privilegierung der Wertung, das Denken in Werten, unausweichlich impliziert.24 Seinlassen und Geltenlassen, Würde und Wert, sind aber ihm zufolge um eine Welt voneinander ge­trennt. Was die Würde des Menschen durchaus hervorheben möchte, sie tatsächlich aber tribunal antastet: nämlich ihm »Wert« zuzuschreiben (wiederum: sie könnte ihm aber auch aberkannt werden)– es ist hinsichtlich Gottes, so Heidegger, »aus dem Glauben gesehen, die Gotteslästerung schlechthin«. Gerade eine theo­lo­gische Vollzugsform der Wertschöpfung würdigt Gott am schlimmsten herab.

»Der letzte Schlag gegen Gott …«, klagt Heidegger mit einiger Verzweiflung über eine böse theologische Verirrung, »besteht darin, daß Gott, das Seiende des Seienden, zum höchsten Wert herabgewürdigt wird. Nicht daß Gott für unerkennbar gehalten, nicht daß Gottes Existenz als unbeweisbar erwiesen wird, ist der härteste Schlag gegen Gott, sondern daß der für wirklich gehaltene Gott zum obersten Wert erhoben wird.«25 Die Gottesdeutung, -bewertung, -schätzung – insofern geradezu Gottesbelebung – subjek­tiviert ihn: lässt ihn vor dem Gerichtshof und von Gnaden des menschlichen Subjekts sein, was er ist (und dass er ist), sucht ihn – noch vor aller inhaltlichen Bestimmung seines Seins in vorwiegenden Machtkategorien, eben indem es ihn zu etwas »erhebt« (aber morgen vielleicht wieder absetzt) – menschlicher Macht zu unterwerfen. Es gilt »endlich einzusehen«, heißt es in Heideggers Brief über den Humanismus, »daß eben durch die Kennzeichnung von etwas als ›Wert‹ das so Gewertete seiner Würde beraubt wird. Das besagt: durch die Einschätzung von etwas als Wert wird das Gewertete nur als Gegenstand für die Schätzung des Menschen zugelassen. ... Alles Werten ist, auch wo es positiv wertet, eine Subjektivierung. Es läßt das Seiende nicht: sein, sondern das Werten läßt das Seiende lediglich als das Objekt seines Tuns – gelten.«26

Auch die Beschreibung der Genese der neutestamentlichen Texte kann diesem Schema unterstellt werden. Ihre Autoren, heißt es, deuten, werten, schreiben Sinn zu, »personifizieren« einen höchs­ten Wert in Jesus oder nehmen die »Apotheose« eines Menschen vor. In diesen ihrerseits autonomen – ganz selbstverständlich als solchen immer vorausgesetzten – und als solchen eben bereits tribunalen Deutungssubjekten, den neutestamentlichen Autoren, findet sich grundsätzlich das neuzeitliche phänomenale Denk-, Deutungs- und Wertungssubjekt wieder.

Fazit: Auch das Unternehmen, eine Wahrnehmung positiv als »Offenbarung« zu werten, zu deuten, mit den besten Gründen einzuschätzen, seinem Urteil zu unterwerfen, um dann vielleicht vollauf zuzustimmen, heißt, prinzipiell zu subjektivieren. Das Wahrgenommene ist auch im Entscheidenden zuletzt von Gnaden des Deutenden – nicht Voraussetzung, sondern Resultat. Keineswegs enthält es, dergestalt, bereits in sich die Beantwortung der Frage nach seiner Wahrheit. Keineswegs ist diese Wahrheit bereits selber »der Weg« und »das Leben« (Joh 14,6). Gefolgt wurde, und zwar unbedingt, dem »Fehlläuten der Nachtglocke« – auf den eigenen, auf sich zurückführenden Weg eines jeweiligen großen oder kleinen Selbst.

Das solchermaßen bis auf den Grund Subjektivierte aber, das Zurückgezwungene in die Epiphanie-Szene, in die tribunale Szene »Selbstbewusstsein« (in der das Leben spielt), in die Vorgaben der noch so geräumigen Kapazitäten seiner Sinn-, Licht- und Finsterniserfahrungen, zergeht als es selbst unter seinem Vorgestelltwerden: den noch jedes Mal vorläufigen, selbstverständlich vorbehaltlichen Wertungen und Schätzungen, dem Dafürhalten, Zuerkennen, Zuschreiben, Anerkennen etc. Die von der neuzeitlichen phänomenologisch-tribunalen Wirklichkeitsgewalt und ihrem »vorbildenden Seinsentwurf« 27 in der beschriebenen Weise umfassend unterstellte und dann faktisch im Weltverhalten vollzogene (die Wirklichkeit entwirklichende, die Lebensgrundlagen verheerende) An- bzw. Enhypostasie von Welt und Gott verkehrt, was sinnvollerweise »Offenbarung Gottes« heißen kann, in sein Gegenteil. Bezeichnenderweise erweisen sich dabei Phänomen- und Ur­teilsansetzung als Usurpierung einer genuin christologischen Figur. Kann deren authentischer Sinn, der mit ihr radikal über Kreuz liegt, erneut zur Geltung gebracht werden? In mehreren, einander ergänzenden und auf nähere Bestimmung zielenden Anläufen soll eine Konfrontation – in der Form einfacher Explikation einiger Züge einer theologischen Offenbarungslehre – versucht werden.

4. Bewandtnis, im Heiligen Geist


In Wahrheit – ist gegen jenen Vorentwurf menschlicher Selbstverbindlichkeit einzuwenden – kann die Offenbarung Gottes der damit versuchten ideologischen, ihrerseits tief soteriologischen Subjektivierung schlechterdings nicht unterliegen. Vielmehr zeichnen sich dementsprechend die neutestamentlichen Texte als die Zeugnisse der Offenbarung, aus anderem Blickwinkel verstanden, darin aus, dass sich dort eine ganz und gar fremde Begebenheit und Inszenierung – alles andere als an sich dunkel, der Deutung bedürftig, irgendwie zu beurteilen etc. – in beispielloser, schöpferischer Ereignis- und dann auch Phänomen- und Verstehenskraft zuschreibungsunabhängig von sich aus und in eigenem Geist eröffnet und imponiert. Sichtbar und einsichtig macht sie – in eigener Maßstäblichkeit und Ordnungsmächtigkeit, völlig hinreichend, suffizien t– sich selber. Keineswegs kann sie in die Szene menschlicher Bewusstseinskonstellationen einberaumt und im­mer schon im Geist der wahrnehmenden Subjektivität verortet werden – die vielmehr ihrerseits in ihr ihren authentischen, sie aus ihrer Idiotie befreienden Ort erhält. Niemand anderer als der Heilige Geist, sagen wir mit Barth (KD I/2, 222–304), ist die subjektive Wirklichkeit und die subjektive Möglichkeit der Offenbarung – so dass »unsere Teilnahme an dem Ereignis der Offenbarung in diesem Ereignis selbst als einem Ereignis göttlichen Handelns inbegriffen ist«.28

Darin besteht demgegenüber die Verkennung: die subjektive Wirklichkeit und Möglichkeit der Offenbarung selber sein zu wollen, sich von sich aus, urteilend, in weit ausholendem, aber blindem Aufsichbeharren, alles sich anmaßend, als phänomenale und tribunale Offenbarungsszene und für das Geschehen zentralen, nämlich alles auf sich zurückbindenden Offenbarungsempfänger zu setzen. Nicht Aufklärung wird diese Setzung zur Folge haben, sondern Verfinsterung. Erst durch die Wahrheit selbst – dem Sünder vollkommen fremd, weltenfern, nicht seine eigene, sondern eine fremde Fremdheit, das Unbekannte und Unempfundene und so niemals Gesehene – findet eine Zerreißung dieses Dunkels statt, die Depotenzierung des christusförmigen Phänomenologen und Richters mit seinem universalen, auch Gott im Interesse der Selbstgewinnung vereinnahmenden und nostrifizierenden Verortungsanspruch. Von Feuerzungen vom Himmel her (Apg 2,2), vom »Licht, das in der Finsternis scheint« (Joh 1,5), muss demgegenüber also von Anbeginn die Rede sein, von externem Lichteinfall und einer sich von dorther einstellenden Umbelichtung der Zeit, auch vom Verbrennen des Gelichters der Ideologien, eben von Offenbarung Gottes – der heiligen Fremde und Anfänglichkeit des dritten und des fünfzigsten Tages. Keiner Totalität fügt sie sich ein.

Bei dieser höchst besonderen Fremdheit aber die eigene Initia­tive zu finden, ist Sache einer nicht-anachronistischen, vielmehr rechtzeitigen, einer material österlich-pfingstlichen Theologie. So konsequent wie möglich wird sie von einem unhintergehbaren und unersetzbaren Neuzugang ausgehen, von einem göttlichen Eigenlicht, einer Eigenstimme: von der sich fortan jedem Heute vorgebenden, es eröffnenden österlich-pfingstlichen Situation, von deren Bindungskraft und ihrer Anweisung einer genauen, den Anfang wahrenden Blickführung. Sie verwehrt auch dem Denken das Zurückfallen und jeden Subjektivismus. Dem Verstehenden und gewiss Gewordenen wird unmöglich gemacht, sich so zu verhalten, als befände er sich immer noch in der schmerzlich falschen Situation, sich selbst als Anfang, als Szene und Erscheinungsort für Welt und Gott zu setzen. Die Notwendigkeit entfällt, sich selbst (unter dem dunklen Himmel der eigenen Fremdheit) seinerseits sein eigenes Licht anzünden, sich selbst aus sich selbst, mit eigener Stimme, zu bejahen, zu begrenzen und, alles vor-stellend, Sämtliches in dieses Irrlicht und einsame, gespenstische Selbstgespräch ziehen zu müssen.

Die Offenbarung vollzieht sich – mit der ganzen Schärfe des niemals zu Vereinnahmenden – als demgemäß eigensinnige Be­wandtnisganzheit. Im Geist Christi bekundet sie sich phänomenal und tribunal selbst – und erschließt ihrerseits jede essentielle Bewandtnis der Welt. Nur aus sich selbst heraus, nicht aber im Grundriss und eingepasst in die Kriterien des Offenbarungsempfängers, ist sie adäquat zu explizieren. Dementsprechend macht nicht die apostolische »Deutung« einsichtig, wer der Auferstan­dene ist. Vielmehr eignet dem Geschehen selbst – als Gottesbegebenheit – im Heiligen Geist des Auferstandenen erleuchtende und ar­tiku­lierende, phänomenale, tribunale Kraft. Stets ist dabei vorauszusetzen, dass der Lebendige sich definitiv selbst erklärt. Jede zu­treffen­de Aussage darüber beruht bereits darauf, dass Jesus Chris­tus sich im Entscheidenden im Vermögen seines Geistes aus sich heraus verdeutlicht – inspirierend, animierend, in Ermöglichung und Realisierung. Jene Ersetzung aber – die ihn subtil oder brutal verhört und ihm dann ihrerseits, nach einigem Zögern vielleicht oder auch spontan, Bedeutung gewährt, zumisst und zuschreibt (das aber notfalls auch unterlassen könnte) – erscheint von vornherein blasphemisch.

Es gibt kein Jenseits seiner, das ihn ins (fürchterlich) menschlich Eigene einzumischen: ihn mit eigenem Urteil, richterlich, einzugrenzen, zu betrachten und zu deuten erlaubte. Jesus Christus selbst – die Offenbarung – wird also auch weder durch kultische noch durch eschatologische, wird durch überhaupt keine vorgängige Tradition und Sichtlinie internalisiert und eingegliedert, umfängt vielmehr seinerseits jedes Verstehen, deutet und erklärt sich, impliziert sich selbst zum Beispiel in die Logik des Kults und bricht sie auf, gliedert sich seinerseits jede Tribunalität, jede denkbare juridische Dogmatik, jede religiöse Eschatologie, Soteriologie, Anthropologie, Kosmologie ein. Nur ihm kommt in diesem Sinne das eine prophetische Amt zu – das er unter keinen Umständen an einen wie auch immer urteilenden einzelnen oder kollektiven Adam abtritt. Er bleibt, auch ohne besondere Erlaubnisse durch den neuzeitlichen Richter Adam einzuholen, Szene, Vollzugs- und Erscheinungsort: der Urteilende und Wertende und Deutende, der Richter in jedem Sinne – und dies zuerst hinsichtlich der Bewandtnis seiner selbst, hinsichtlich der Offenbarung, der Lichtung zum ewigen Leben.

Von der Offenbarung als apriorischer Lichtungsszene auszugehen, zeitigt mithin als Konsequenz, sich – dann auch formal – maßgeblich an offenen und Offenheit und Aussichheraustreten gewährenden, dimensionalen, mehrfach verhältnismäßigen Situationen zu orientieren. Priorität beanspruchen für diese Art situativ ge­dachter, gleichsam szenographischer Theologie dann: Offensichtlichkeiten, Ausgangslagen, Schauplätze, Konstellationen des Dis­paraten, Bedingungsgefüge, Streiträume unzusammenhängender Progressionen, Austragungs-, Erscheinungs-, Lichtungsorte ... In der Beschreibung entsprechender vielfältig belebter Szenerien und unterschiedlich zugänglichen, sich nach verschiedenen Seiten hin erschließenden Schauplätzen aber darauf Wert zu legen, von An­fang an das grammatische Subjekt zu wahren (wie oben versucht), also keine Verwechslung von Gott und Mensch zuzulassen, kommt keineswegs bereits als solches auf eine Verstrickung in neuzeitliche Subjektivitätstheoretik der genannten Art hinaus.

Doch muss der Gedanke noch ungleich genauer gefasst werden. Wir versuchen wenigstens einige Schritte zur weiteren Bestimmung.

5. Jesus Christus, anhypostatisch


Geradezu vorsorglich, möchte man sagen, gegen den bedingungslosen Subjektivismus der Neuzeit hat die theologische Tradition eine erklärungskräftige gedankliche Figur der Christologie ausgebildet, die ebenso einen Grundzug der neutestamentlichen Texte verlässlich wiederzugeben wie ihrer Verkennung entgegenzutreten geeignet erschien: die Lehre von der An- bzw. Enhypostasie. Wir haben sie ja zur Kennzeichnung der Grundstellung der neuzeitlichen Phänomenologie bereits in einen anderen Zusammenhang übertragen, besser gesagt: sie dort in einer Form wiedergefunden, die diese Phänomenologie und durchaus eigene Offenbarungslehre geradezu als radikale Konkurrenz genuiner Christologie sichtbar werden ließ. Wie stellt sich demgegenüber eine authentische Offenbarungslehre dar? Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, von Jesus Christus als der Offenbarung in Person zu sprechen?

Der nachchalcedonensischen Christologie gemäß, um daran zu erinnern,29 darf von einer Enhypostasie der menschlichen Natur Jesu im göttlichen Logos die Rede sein. Ihr Dasein hat sie nicht aus sich selbst, besitzt keine eigene, für sich bestehende Wirklichkeit, keine Erscheinungsgestalt. Ihr kommt als solcher Anhypostasie zu, ontologische Unselbständigkeit, in diesem Sinne eine bestimmte Weise eines nicht eigenen, sondern fremden, sich aus einem Anderen beziehenden Selbststandes. Das Einheit und Sinn ihres Daseins konstituierende Zentrum findet sie im Logos als der zweiten trinitarischen Person. Die menschliche Natur Jesu Christi wird mithin als entschieden nicht-invertiv, nicht-subjektivistisch gedacht, nämlich positiv als existierend von einem Anderen her und insistierend auf einem Anderen, nichts für sich selbst zurückbehaltend, als bedingungslose Hingabe, die sich von einem Anderen her ganz und gar empfängt.

Einer in dieser Weise verstandenen Offenbarungslehre gemäß – um die Entgegensetzung scharf zu zeichnen – ist keineswegs jedes menschliche Sein bereits als solches die phänomenale und tribunale Szene, in der Gott und Welt, an sich anhypostatisch (angewiesen darauf, beim Menschen zu erscheinen und enhypostatisches Sein verliehen zu bekommen), sich offenlegen und Wertung erfahren. Vielmehr kommt ausschließlich die Person Jesus Christus – sie aber nun ihrerseits als auf ihre Weise an- und enhypostatisches menschliches Sein – als der szenische Raum in Betracht, in dem Gott und Welt offenbar werden.

6. Versöhnung, in Szene gesetzt


Zunächst zur Lichtung der Bewandtnis Gottes im Sein Jesu Christi. Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich (2Kor 5,19). Im Raum der menschlichen Geschichte Jesu Christi (als seiner menschlichen Natur), in ihr als phänomenalem Schauplatz und tribunalem Austragungsort, begibt sich und inszeniert sich die eschatologische Geschichte Gottes mit der Welt, die Geschichte der Versöhnung, begeben sich die »Taten und Leiden des Lichts«. Diese Taten und Leiden, in einer gänzlich unverhofften Form des Tribunalen, heben auf, was nicht wieder gutzumachen schien: dass alle Menschen dem »Fehlläuten der Nachtglocke« gefolgt sind.

Die Geschichte Jesu Christi, bemerkt Barth zu Recht, »wurde nicht Historie, d. h. sie war wohl seine Geschichte zu seiner Zeit, um gerade als solche ewige Geschichte zu werden: die Geschichte Gottes mit den Menschen aller Zeiten und also auch heute und hier geschehend, wie sie damals geschah.« (KD IV/1, 346) Die Szenenfolge des Menschseins Jesu Christi, sein in den biblischen Texten wiedergegebener Fließtext, bildet also seinerseits den szenischen Raum, den Lichtungsraum für das Entscheidende: für die lebenshelle Gottesgeschichte als einer Geschichte aus Licht, aus dem Licht der Welt (Joh 8,12), aus ewigem Leben, als eschatologisch inszenierte Versöhnungsgeschichte von Welt und Gott (2Kor 5,19). Ihr Licht, ihre Tiefe, senkt sich vollständig in die Lichtung des Menschseins Jesu Christi.

Anders gesagt (mit Rückgriff auf Barths Schöpfungslehre): Das menschlich-geschichtliche Sein Jesu, der Fluss seiner mal alltäglich erscheinenden, mal ungeheuerlichen Szenen, ist der äußere Grund der Versöhnung, diese der innere Grund von jenem. Ohne den inneren Grund aber, die Versöhnung selbst, das sich in diesem Raum vollziehende universale, Himmel und Hölle einbeziehende Geschehen, wäre dieser partikulare menschliche, szenische Raum gar nicht. Er wäre ursprungslos, wesenlos, ziellos. Demgemäß kommt der menschlichen Geschichte Jesu Christi, seiner Menschennatur, an sich anhypostatisches Sein zu. Sie enhypostasiert in der eschatologischen Versöhnung.

Das solchermaßen anhypostatische Sein der menschlichen Natur Jesu Christi, gedacht lediglich als »selbstlos« oder »subjektlos«, wäre freilich verkannt. Vielmehr kommt ihm als sündlosem, gänzlich nicht-ideologischem Sein30 positiv bedingungslose Hingabe zu: Selbstfreiheit, Freiheit für Gott, Gottesliebe. »Jesus ist nicht ›selbstlos‹. Denn gerade so ist er vielmehr im höchsten Grade er selbst!« (Barth, KD III/2, 257) So verstanden gibt bereits die Lehre von der Anhypostasie der Sündlosigkeit Jesu Christi Ausdruck.31

»Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich«, indem er im Menschen Jesus Christus Gottesliebe heraufführte, die ihrerseits das Ende der menschlichen Feindschaft und also Versöhnung bedeutete. Als maßgeblich für den Begriff der »Offenbarung« kommt ausschließlich die Vorgabe dieses Austragungsortes der Versöhnung in Betracht, dieser Lichtung zum ewigen Leben, der Lichtung der Bewandtnis Gottes: seiner »Menschenfreundlichkeit« (Tit 3,4), seiner Liebe (Joh 3,16).

7. Die Bewandtnis der Welt, in Christus


Wir versuchen eine Übertragung der christologischen Figur der An- und Enhypostasie des Seins Jesu Christi mit Rückgriff auf einige Texte Bonhoeffers.32 Seine deutlich in diese Richtung weisenden, situativ gedachten, vorwiegend freilich ethisch orientierten Überlegungen sollen, hier nun in dogmatisch-theologischer Absicht, ein wenig fortgeführt, nämlich eben auf diese Lehre abgebildet werden.33

Zunächst die christologische Konstitution eines Wirklichkeitsbegriffs im Sinne von An- und Enhypostasie: »Die Welt«, so Bonhoeffer in den Entwürfen zur Ethik, »hat keine eigene von der Offenbarung in Christus unabhängige Wirklichkeit.«34 Als gänzlich unselbständig, anhypostatisch, muss »die Wirklichkeit der bestehenden Welt« angesehen werden, weil sie, enhypostatisch, »allein durch die Wirklichkeit Gottes Wirklichkeit hat.«35 Sie findet sich in ihn und seine Bindungs- und Versöhnungskraft »hineingezogen«.36 Ihr Sein, Existenz und Beschaffenheit, ihre Gegebenheitsform – als für die Versöhnung gegeben – wird ihr gewährt: »Die Welt gehört zu Christus und nur in Christus ist sie, was sie ist.«37 »In ihm [sc. Christus] hat alles seinen Bestand (Kol 1,16).«38 Dabei spielt das Wissen darum, spielen Bewusstseinsstellungen des Menschen keine Rolle: »Die Welt steht in Beziehung auf Christus, ob sie es weiß oder nicht.«39

Als entscheidend erweist sich dabei der Rückgriff auf die Zweinaturenlehre: »daß die Wirklichkeit zuerst und zuletzt nicht ein Neutrum, sondern der Wirkliche, nämlich der menschgewordene Gott ist. Alles Faktische erfährt von dem Wirklichen, dessen Name Jesus Christus heißt, seine letzte Begründung und seine letzte Aufhebung, seine Rechtfertigung und seinen letzten Widerspruch, sein letztes Ja und sein letztes Nein.«40 Vom Sein Jesu Christi her, der seinerseits auf die Welt eingeht in Wort und Tat und Leiden, auf ihr für Zeit und Ewigkeit seinerseits insistiert, kommt der Welt zu, was sie ist: Notwendigkeit, Wirklichkeit, Möglichkeit hinsichtlich der in deren Raum stattfindenden Versöhnung. Ohne ihn bliebe alles verborgen, unbekannt, abgewendet, könnte nur furchtbar, un­versöhnlich, von ihm gesprochen werden, wäre der Mensch nicht »ernstgenommen«.41 Was ist, offenbart sich in seiner Bewandtnis: in dem, was und wie es ist, nämlich als für die Versöhnung be­stimmt, durch Christus. Er schenkt den »klugen« und zugleich »einfältigen«, den »befreiten Blick« – der, so können wir verstehen, nichts mehr von jenem anmaßenden »Herblick« vor-stellender Subjektivität hat: »Klug ist, wer die Wirklichkeit sieht, wie sie ist, wer auf den Grund der Dinge sieht. Klug ist darum allein, wer die Wirklichkeit in Gott sieht. Erkenntnis der Wirklichkeit ist … das Erschauen des Wesens der Dinge. … Der befreite Blick auf Gott und die Wirklichkeit, wie sie in Gott allein Bestand hat, vereinigt Einfalt und Klugheit.« 42

Die Welt findet enhypostatisches Sein und Offenkundigkeit, Phänomenalität, also in einer konkreten Person, einem Lebendigen– der, Schöpfer des Lebens, mit der Versöhnung überhaupt erst Leben verleiht, also »Einheit«43, »Ursprung und Wesen und Ziel«44 alles Wirklichen. Bonhoeffer formuliert generell, indem er Bultmanns Übersetzung von Joh 1,4 anführt: »Was da geworden ist – in dem war Er das Leben«.45 Von einer »ursprünglichen, wesenhaften und zielhaften Bestimmung aller Dinge, Zustände, Werte durch Christus (Joh 1,4), den menschgewordenen Gott«46 darf die Rede sein.47

Als Konsequenz ergibt sich: Die scheinbar unmittelbar zugänglichen Phänomene, die von Barth genannte »Mauer andersartiger Wirklichkeit«, vermeintlich axiomatisch, die von Bonhoeffer aufgeführten trügerischen »Unmittelbarkeiten der Welt«, haben in Wahrheit im Sein Jesu Christi enhypostastische Existenz, Grund und Stand und Lichtung. An sich aber kommt ihnen – was keineswegs ein Mangel ist48 – ontologische Unselbständigkeit zu. Die Gegebenheiten der Welt finden das Einheit und Sinn ihres Daseins konstituierende Zentrum, Substanz und Wesen und in diesem Sinne ihre spezifische Würde in der Offenbarung. Jesus Christus, selber heilige, verbindliche Klarheit und Lichtung, lebendige Un­verborgenheit, aber auch definitive Verbergung, vermittelt Be­wandtnis und Phänomenalität – nämlich Belebung zu irdisch-geschichtlichem und umso mehr zu ewigem Leben. Er ist es – nicht der menschliche »Herblick« –, der darbietet und freigibt und präsentiert, was ist.49 Sämtliches verhält sich relativ auf ihn. Er ist die Verbindlichkeit des Wirklichen (Eph 1,10). Als apriorisch erweist sich, in einfacher Folgerichtigkeit, ausschließlich sein Horizontentwurf, die in seiner Person und seinem Geschick gegebene universale Szene und Bezugsmitte – der Vorentwurf einer allem zuvorkommenden und alles einberaumenden, freigebenden, in ihm anschaulichen und real anwesenden, je hier und jetzt wirksamen Versöhnung. Im Voraus rückt sie Sämtliches in die Maßgabe der Gnade: in das unendliche, bejahende Vorurteil, von dem Gott selbst sich von Anbeginn bestimmt (Röm 11,5). »Sein«, in diesem Sinne ontologisch unselbständig, ist von Gnaden des erwählenden, die Welt zur Versöhnung mit sich bestimmenden Gottes. 50

8. Das Gegebene, bejaht


Wir versuchen weitere Schritte der Bestimmung. Die Person Jesu Christi, sagen wir mit Bonhoeffer, ist die Szene, der Austragungsort des Seins, Offenbarungsraum von Gott und Welt – aber, deutlicher noch, Szene der Versöhnung: des Heils (und auch des Unheils). Bonhoeffers Gedanke »Alles hat in Ihm Bestand« ist umso mehr auf Heil und Unheil zu beziehen.51

Das Wirkliche enhypostasiert in der Person Jesu Christi als dem Heil der Welt, der verkörperten Versöhnung – in einem seinerseits Entgegenkommenden und Einberaumenden. Die Welt lebt aus der– in und als Jesus Christus offenbaren – ewigen Bejahung. Vehemente Bejahung, in seiner Person (2Kor 1,19), tritt nicht nur mit seiner Gegenwart ein, tritt vielmehr auch zu Tage, geht auf in das Offene, teilt sich mit und setzt sich durch. Von einer Enhypostase aller Gegebenheiten in dieser unbegreiflichen Güte darf die Rede sein. »Offenbarung« ist Erscheinung eines Unfasslichen. Denn auf dem Grund des Wirklichen, als Ziel der Dinge findet sich die Veröffentlichung einer Bejahung über alle Maßen, das Ja vom Anfang (Joh 1,1), hervorgetreten im fremden Licht des dritten Tages. »Sein« wäre nicht ohne sie, wäre nichts – ist an sich anhypostatisch. Was da geworden ist – in dem ist Er das Ja. Von der Auferstehung Jesu Christi her, von seiner Konfrontation mit dem Nichts her, ist der Satz Hiob 26,7 zu verstehen: »Er hängt die Erde über dem Nichts auf!« Von Bejahung für Zeit und Ewigkeit ist die Welt getragen. Nur ihretwegen kann alles gegenwärtig sein. Ihre Enhypostasie ist beständiges Geschehen und je neuer, initialer Vollzug: ist gerichtet auf einen seinerseits als tätig Anwesenden, auf die aktive, souveräne, umfassende göttliche Bejahung – die, »nicht von dieser Welt« (Joh 18,36), doch von sich aus der Welt widerfährt, auf den Menschen zuhält, sich ihm erweist und offenlegt. Durchaus ist der Vollzugscharakter der Offenbarung hervorzuheben, eine Anflutung von Licht, ein großes Drama der Tiefe, ein Auftreffen, geradezu ein Kampf.

Wiederum ist derselbe Akzent wie oben zu setzen: Diese Bejahung, die andringt, die den Menschen überhaupt erst belebt, ist darum so unangreifbar, weil er an ihrem Zustandekommen und ihrer Aufrechterhaltung ganz unbeteiligt ist, sie zu keinem Teil in seine Verfügung übergeht und er sie infolgedessen nicht durch Voreingenommenheit und Befangenheit von sich selbst beeinträchtigen oder ihr mit sich selbst, seinen phänomenalen und tribunalen Anmaßungen, Abbruch zu tun oder sie verschwinden zu machen imstande ist. Im Geltungsbereich ihrer Rückbindungskraft befindet er sich außerhalb der Reichweite seiner eigenen Horizontentwürfe. Das große bejahende Lebensgefühl herbeizuführen, die Wahrheitsliebe, überhaupt »Wahrnehmung«, die dieses Wort verdient, 52 ist der Mensch außerstande. Die in seinem Raum möglichen Bejahungen, weil lediglich selbstreflexiv, sind nicht nur sämtlich zu kurzatmig, verkehren sich vielmehr, weil grundlos, Mal um Mal über kurz oder lang ins Gegenteil, in endlose Reisen in die eigene Fremdheit, die schlechte Offenheit. Doch ist gar nicht nötig, dass er Bejahung selber herbeiführt (oder ersatzweise herbeibehauptet). Das Entscheidende geschieht für ihn, doch ohne seine unmittelbare Beteiligung – umso mehr ohne seinen »Her-blick«. Nicht er, der phänomenale und tribunale Idiot im wörtlichen Sinne, stellt mit seinem Sein Ort und Szene dafür bereit, wird vielmehr in diese Lichtung – in gute Offenheit –, in diese Gegebenheitsform von Gott und Welt und insofern in unverhoffte Selbstfreiheit hineingezogen und einberaumt – die Reise nicht in die nichtige eigene, sondern in die fremde Fremdheit, die der machtvollen, begrenzenden Bejahung, in die Versöhnung.

9. Das Widrige, verborgen


Heil und Unheil subsistieren in Jesus Christus, Bejahung und Verneinung. Er ist die große Anwesenheits-Situation, lebendige Lichtung unfasslicher Bejahung, aber auch die Verbergung des Ab­gründigen – die Szene der herrlichen Anwesenheit Gottes, aber in bestimmter Hinsicht auch die seiner Abwesenheit. Schreckenstiefen tun sich auf. »Die Stunde ist da« (Joh 17,1). Die Gottesfinsternis, die Gottverlassenheit am Kreuz von Golgatha – das damit Gemeinte ist das dem Menschen zutiefst Unverständliche, das Unfassliche. Es lässt sich gedanklich nicht, doch umso weniger existentiell ermessen.

Im Gekreuzigten ist, in ihm subsistiert auch das Finstere, das Böse. Es reicht in ihn hinein – eine Initiation des grundlos Bösen in ihm. Das Böse an sich hat keine Substanz, keine Hypostase, ist grundlos, in diesem Sinne Inbegriff des Absoluten, grenzenlos, losgelassen von allem und auf alles.53 Gleichwohl kommt ihm entsetzliche, unerklärliche Realität zu. Was hinsichtlich Jesu Christi nicht gedacht werden kann, anhypostastisches Sein der menschlichen Natur in geschichtlicher Realität ohne enhypostatisches Sein im Logos, beim Bösen ist dies der Fall: grundlose Existenz in geschichtlicher Realität. In tatsächlicher Verdammnis, im Vollzug der Hölle auf Erden, in der Gottverlassenheit eines einzigen Augenblicks menschlicher Existenz, fände es Grund: hypostatisches Sein. Ebendiese widrige, nichtige Realität, das Unfassliche, findet tatsächlich Hypostase und Exekution – enhypostasiert im Gekreuzigten. Er nimmt das Unheil, den Fluch, auf sich, die Verneinung, das alles exekutierende Nichts. Ausschließlich ist das Widersacherische dann seine »Sache«. Er nimmt es in Verwahrung.

Insofern aber wendet er das Unheil vom Menschen ab, lenkt es ab, auf sich, entrückt es dem Menschen ein für allemal. Fremd ist sein Werk, unnahbar in dem, was er fortrückt und für immer verbirgt. Über das, was niemanden mehr etwas angeht, wacht die Heiligkeit Jesu Christi. Der Mensch hat damit nicht das Geringste mehr zu tun. Das Unheil, die Hölle auf Erden, ist keine dem Menschen zugängliche Erscheinung, kein Phänomen. Als dessen Austragungs- oder Exekutionsort kommt der Mensch nicht mehr in Frage. Die heilige Unnahbarkeit Christi schirmt die Verdammnis ab, mit verbergender Kraft – darum seine Distanz, seine Strenge, sogar seine Härte. Sie hat einen guten Sinn. Von der Passion Christi aus wird erst der liebevolle Sinn der Rede von der Heiligkeit er­ kennbar. Machtvoll und für immer verbindlich bewahrt und schützt sie den Menschen, hält ihn fern und bedeckt ihm die Augen, schafft Distanz, rückt nämlich den Schrecken weg, in die schlechthinnige Abwesenheit – als eine ausschließlich dem Ge­kreuzigten zustoßende Erscheinung. Der Szene der Auferstehung des Christus revelatus entspricht die Situation des unbekannten Jesus, des Christus absconditus, abgewandt, ganz in Finsternis ge­taucht, unnahbar. Der Mensch kann ihn dorthin, in das Niemandsland, das Nichtsland, den abgründigen, höllischen Kreuzesschatten, nicht einmal mit seinen Augen begleiten. Der Schrecken bleibt ihm entzogen. Die »Liebe Gottes zur Welt zieht sich nicht aus der Wirklichkeit zurück …, sondern sie erfährt und erleidet die Wirklichkeit der Welt aufs härteste. Am Leibe Christi tobt sich die Welt aus«, schreibt Bonhoeffer. 54 Die exekutierte Begegnung mit dem absolut Bösen, die Verdammnis, die dem Gekreuzigten widerfährt, bleibt dem Menschen definitiv erspart. Es bleibt das für ewig Verborgene, die unaufhörliche Ferne und Unzugänglichkeit, das infernum absconditum. Der Gekreuzigte kehrt es vom Menschen fort. Christi liebevolle Heiligkeit wacht darüber – mit unnachgiebiger Strenge. Sie lässt den Menschen leben. Ein großes Verschonen.

Wie enhypostasiert das Unheil im Sein Christi? Als abwesendes, genauer: als besiegtes ist es bei ihm anwesend (die Wundmale des Auferstandenen manifestieren es). Insofern offenbart der auferstandene Gekreuzigte die Anwesenheit Gottes, aber auch, in anderer Weise, die Gottverlassenheit, die Abwesenheit Gottes, die Verdammnis: nämlich als im Gekreuzigten verborgen, als besiegt und darum ihrerseits für den Menschen schlechthin abwesend, vom Gekreuzigten getragen, in seinen Leib und seine Seele eingeschrieben, verschlungen in sein Sein, in sein machtvolles Leben (Mt 28,18). »Der Tod ist verschlungen in den Sieg« (1Kor 15,55). Die Hölle ist besiegt – weiß der Glaubende, der in die Lichtung Christi Hineingenommene. »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?«

Der Auferstandene existiert den Sieg. Er ist Schauplatz, Freigabe und immerwährende Szene des Sieges: der Herrlichkeit Gottes und des abgewendeten Unheils, insofern auch Szene der Verbergung. Eine benennbare, definitive Verschwiegenheit ist in ihn hineingelegt. Was da geworden ist – in dem ist Er die jeweils notwendige Verbergung des Entsetzlichen. In ihm ereignet sich deshalb Fülle und Unüberholbarkeit der Offenbarung.

10. Angeschaut


Ein letzter Schritt der Bestimmung in diesem Zusammenhang. Wo erscheint die Lichtung, die »Menschenfreundlichkeit Gottes« (Tit 3,4)? In Christus, im Evangelium vor Augen gemalt (Gal 3,1). Die Szene der vollkommenen Klarheit: das Antlitz Christi. Die »Klarheit des Herrn« zeigt Gesicht im anschaulichsten Geheimnis, das sich in der Welt ausfindig machen lässt, im Evangeliumsantlitz Christi. Mit größter Genauigkeit vermag der christliche Glaube also zu sagen, wo diese Lichtung der Welt zum ewigen Leben anzutreffen ist, wo sie geschieht. Er findet – in ganz unverhoffter Freude – die Lichtung, den φωτισμὸς τοῦ εὐαγγελίου τῆς δόξης τοῦ Χρισ­τοῦ (2Kor 4,4) auf dem Angesicht des auferstandenen Gekreuzigten. In unerhörter Synopse spricht Paulus vom φωτισμός »zur Er­kenntnis der Herrlichkeit Gottes«: »in dem Angesicht Jesu Christi« (2Kor 4,6). Als Anwesenheitsform tritt dort an den Tag, auf ein Gesicht genommen ist: die δόξα. Die unendliche, selige und überströmende Herrlichkeit zeigt Gesicht: das Porträt der Freiheit und der Liebe – die Lichtung des Seins in diesem Antlitz. »Ich suche, Herr, dein Antlitz« (Ps 27,8) – dieses Antlitz, vollständig von der Liebe gewirkt, den Blick, der den reichen Jüngling trifft (Mk 10,21), den Herblick des Heilandsrufs (Mt 11,28). Der auferstandene Gekreuzigte gibt der Versöhnung für immer das Gesicht.

Das »Angesicht« indes, merkt Kornelis Heiko Miskotte sehr schön an, »ist mehr als die Präsenz an sich, es ist die erkannte Präsenz, die nicht bloß faktische, sondern existentielle Gemeinschaft.«55 Als eine ursprüngliche Anwesenheitsform bietet es früh den großen szenischen, dramatischen Ort. Infolgedessen findet sich die lebenslange, unstillbare Leidenschaft jedes Menschen zum menschlichen Gesicht.

11. In Verwahrung genommen


Rechnung tragen kann dem skizzierten Verständnis von Offenbarung eine im Ganzen szenisch orientierte Theologie, ausgehend von Licht und Finsternis der Urszenen Karfreitag, Ostern und Pfingsten. Die Umbelichtung, von der sie weiß – die im Gesichtskreis Jesu Christi als des externen, aber in der Finsternis scheinenden Lichtes der Welt vor sich geht –, legt dann offen, dass es der Selbstausrufung des Menschen wegen des Evangeliums und der Selbstbegeisterung (seiner Selbstbesoffenheit56) wegen des Heiligen Geistes nicht bedarf, ja beides das Selbst verdirbt. »Vorstellung« und »menschlicher Herblick« und »die Welt als Bild«57 und angemaßte Wirklichkeitsgewalt können angesichts unerschöpflicher Wirklichkeitsgewährung ein Ende finden. Der Mensch muss nicht blasphemisch versuchen, Gott auf sich zu beziehen, um ihn zu sich »als den maßgebenden Bereich zurückzuzwingen«. De facto tötet er sich damit für ihn ab. Vielmehr stellt der Herblick Jesu Christi – seinerseits Bezugsmitte, subjectum und ὑποκείμενον, Vollzugs- und Streitort der Wahrheit – ihn vor sich, darf er sich mit allem Seienden als den Angeschauten vorfinden, als den Wahrgenommenen, seinerseits »verortet«, seinerseits im Blickfeld Christi, als den überhaupt erst zu Tage und ans Licht und aus tiefer Zeitverschiebung und Geistesabwesenheit in Anwesenheit und Geistesgegenwart und insofern in Gewissheit Gebrachten. Immer schon war die Ge­genwart zerbrochen. Der seines Wahrgenommenwerdens Gewisse, der Selbstfreie, ist der endlich Anwesende, der im Anfang und da-mit im jeweiligen Heute und dessen Bewandtnis ankommende »Mensch im Lichte des Lebens« (Barth, KD IV/3, 553–571) – zurückgebracht auf den Wellenkamm des Augenblicks.

In einem streng aposteriorisch von der Offenbarung ausgehenden, nicht subjektivistisch hysterisierten, nicht-anachronistischen Denken stellt sich die Frage also durchaus anders als nach dem Maßstab jener phänomenalen und tribunalen incurvatio. Nicht mehr wird Gott qua Phänomenologie verhört und daraufhin in Anklage versetzt, weil er sich nicht als bei mir anwesend überzeugend erweist, und nicht wird – im Überhandnehmen der Theodizee-Frage – Klage geführt über seine immer wieder das Entsetzliche heraufführende Abwesenheit im Weltgeschehen. Was mich stürzen lässt, ist in Wahrheit der Versuch, mich selbst absolut abwesend zu setzen. Nicht seine, sondern meine Abwesenheit und Diastase, das Heraufbeschwören des Niemands- und Nichtslandes der Sünde, die versuchte Gottesabsolution, der Gottesanachronismus, aus dem heraus ich agiere, Gott verdunkele und ihn für mich ab­töte, ist das Merkmal dieser furchtbaren Dislozierung und Disjunktion von Gott und Mensch.

Unbeirrt in den Maßstäben ist demgegenüber die Offenbarung in Anspruch zu nehmen, die immer wieder gänzlich unausgestandene, fremde österlich-pfingstliche Situation, die große, anfängliche neutestamentliche Szene, die von Gott selbst inszenierte »Ge­schichte von Liebe und Finsternis« (Amos Oz) – die, als fremde Fremdheit, als versöhnte Fremdheit, in nichts dem gleichkommt, was je und irgendwo auf der Welt erwartet werden kann, deren Bindungs- und Versöhnungskraft aber das menschliche Dasein und das Sein in seiner Gesamtheit, zuletzt nach Heil und Unheil, in Verwahrung nimmt. Nicht ohne die durch sie eröffnete menschliche Gewissheit als Selbstfreiheit, aber keineswegs mit ihr als Kriterium, ist Offenbarung von Jesus Christus aus zu denken: als Gottes eigene, unversehens, von heute auf morgen situativ eintretende Wahrheit (Gal 4,4), die sich ihrerseits frei mit uns und dann uns mit sich in ein Verhältnis setzt. Das Lichtungsgefüge souveräner Offenbarung – um am Anfang anzukommen – geht der christlichen Theo­logie voraus, begleitet sie, deutet schließlich nach vorn.

Summary


Heideggers’ theory of subjectivism criticizes modern consciousness for its arrogant claim to be the stage and venue of all phenom­ena. Recent theological attempts to analyze the concept of revelation in terms of »interpretation« and »perception« suffer from the same misconception. In contrast Trowitzsch follows Barth and Bonhoeffer in describing the human nature of Jesus Christ in terms of the Christological doctrine of an- and enhypostasis as the dif­ferentiated space of revelation, which as such includes human participation in the event of revelation.

Fussnoten:

1) F. Kafka, Drucke zu Lebzeiten, hrsg. v. W. Kittler, H.-G. Koch, G. Neumann, Frankfurt a. M. 1994 (Schriften, Tagebücher. Kritische Ausgabe, hrsg. v. J. Born u. a.), 261.
2) D. Bonhoeffer, Schöpfung und Fall (= Dietrich Bonhoeffer Werke 3), hrsg. v. M. Rüter und I. Tödt, Gütersloh 2002, 28. Ähnlich in einer Meditation zu Joh 1 bei W. Mostert (Erfahrung als Kriterium der Theologie. Theologische Bro­cken aus drei Jahrzehnten 1966–1995, hrsg. v. K. A. Bauer, P. Koller, Chr. Möller, H. Weinacht, Zürich 2008, 15).
3) D. Bonhoeffer, Ethik (= DBW 6), hrsg. v. I. Tödt, H. E. Tödt, E. Feil und C. Green, München 1992, 302 f.
4) So G. Klein, Vernehmen statt Erklären. Aufsätze zur neutestamentlichen Theologie, hrsg. v. Th. Hübner, Rheinbach 2008, 87; Hervorh. M. T.
5) KD I/2, 63. Die »tausend Rücksichten der Wahrhaftigkeit«, von denen Barth spricht, werden mittlerweile verstärkt eingeklagt, hinsichtlich der Autonomie der Subjektivität, der Kultur etc. Leitend scheint dabei das seltsame Vorurteil, die gegenwärtige Subjektivität, Kultur etc. seien akut von einer theologischen (kirchlichen?) Überfremdung bedroht, der gemäß theologischer »Absolutismus« die größte Gefahr darstelle. Die tatsächlichen Absolutismen und Fundamentalismen der Zeit, ihre Riten, Gottheiten, Anrufungen, bleiben auf diese Weise unbehelligt.
6) Ebd. Dieselbe Umkehrung bei Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 62006 [1962], 109. – I. U. Dalferth (Theologischer Realismus und realistische Theologie bei Karl Barth, EvTh 46 [1986], 402–422; dort 409–413) hat das »Verhältnis zwischen eschatologischer Realität und weltlicher Realitätserfahrung«, wie es Barth erscheint, als orientiert am »christologischen Modell der unio hypostatica« (409 f.) verstanden. Der Gedanke soll später noch einmal aufgenommen werden.
7) G. Wenz (Offenbarung. Problemhorizonte moderner evangelischer Theo­logie [= Studium Systematische Theologie 2], Göttingen 2005, 7; vgl. 17) sieht – zu Recht, aber ohne kritische Distanz zum Befund – »Subjektivität« als »Epochenindex der Neuzeit«. Fraglich sei lediglich ihr sehr unterschiedlich angesetzter Status.
8) E. Jüngel (Barth-Studien, Gütersloh 1982, 48) hat Barths Theologie vor dem Hintergrund dieser Konstellation beschrieben: »In bewußter Antithese zur neuzeitlichen philosophischen und theologischen Subjekt- und Bewußtseins-Orientierung wird [sc. bei Barth] die ontologische Priorität einer zu behauptenden ontischen Necessität und Rationalität vor der ihr entsprechenden noetischen Necessität und Rationalität vorausgesetzt und in der mit Gott identischen Wahrheit festgemacht.«
9) Kein Anlass besteht, das Denken Heideggers (etwa seine szenische Wahrheitstheorie oder seine Neuzeittheorie) mit Geringschätzung zu bedenken und hinter sich zu lassen. M. E. liegt Besseres nicht vor. Wem an kritischem Abstand zu den Standards der Moderne liegt, hat immer noch mit Heidegger zu tun.
10) M. Heidegger, Holzwege (= GA 5), hrsg. v. Fr.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1977, 88. Eingehend wird der Gedanke im Zusatz 9 zum Beitrag Die Zeit des Weltbildes (98–103) entwickelt.
11) Heidegger, Holzwege, 91 (Hervorh. M. T.).
12) M. Heidegger, Wegmarken (= GA 9), hrsg. v. Fr.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1976, 331.
13) Die neuzeitliche Umorientierung von der Wahrheit zur Gewissheit hat Heidegger vielfach beschrieben. Vgl. nur, als besonders prägnant, M. Heidegger, Nietzsche. Zweiter Band (= GA 6.2), hrsg. v. B. Schillbach, Frankfurt a. M. 1997, 421–429.
14) Heidegger, Nietzsche. Zweiter Band, 24.
15) Heidegger, Holzwege, 81.
16) M. Heidegger, Der Satz vom Grund (= GA 10), hrsg. v. P. Jaeger, Frankfurt a. M. 1997, 195.
17) A. a. O., 45.
18) A. a. O., 99.
19) Ein auf seine Weise großartiger Beleg sind Sätze der Berliner Antrittsvorlesung Hegels (Vorlesungsmanuskripte II [1816–1831], Gesammelte Werke 18, hrsg. v. W. Jaeschke, Hamburg 1995, 18): »Von der Grösse und Macht des Geistes kann er [sc. der Mensch] nicht groß genug denken; das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Muthe des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm aufthun, und seinen Reichthum und seine Tieffen ihm vor Augen legen und zum Genuße bringen.«
20) Vor diesem Hintergrund scheint die Notwendigkeit, vor allem »Selb­stand« und »Selbständigkeit« des Menschen zu gewährleisten, weniger dringend als das Erfordernis, dass er aus der Verstiegenheit dieser Subjektivität herabzusteigen veranlasst wird (vgl. Heidegger, Wegmarken, 352).
21) Vgl. M. Beintker, Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt. Theo­logische Erkundungen, Tübingen 1998, 25 f.28.30.35.60.103.160 f.
22) So ein m. E. einigermaßen verzweifeltes Axiom bei H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984, 155. – Zur neuzeitlichen Selbstkritik der natürlichen Vernunft vgl. E. Herms, Art. Offenbarung V. Theologiegeschichte und Dogmatik, TRE 25, Berlin-New York 1995, 146–210; dort 176–178. Herms schreibt: »Zur Einsicht in ihre eigene Nichtabsolutheit gelangt die natürliche Vernunft im 18. Jh. selbst auf dem Wege ihrer kritischen Selbstbesinnung.« (176) Ist freilich diese Einsicht in dieser Weise hinreichend gewonnen worden? Hinsichtlich des sich auch der Vernunft initial und fundamentalistisch einschreibenden Bösen so­wie der sie tragenden notwendigen Bejahung konnte das m. E. eben nicht ge­schehen. Ohne beide Bestimmungen ist aber »Nichtabsolutheit« nicht zu denken. Die Figur der »Selbstbesinnung« lässt bei sich bleiben. Immer bleibe ich, wie ironisch auch immer, »im Vollbesitz meiner Zweifel« (Peter Rühmkorf).
23) Vgl. M. Heidegger, Nietzsche. Zweiter Band, 148. – »Schaffen wollt ihr noch die Welt, vor der ihr knien könnt: so ist es eure letzte Hoffnung und Trunkenheit«, bringt Nietzsche in unüberbietbarer Prägnanz den Gedanken auf den Begriff (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 4, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, München 1980, 146).
24) Vgl. z. B. M. Heidegger, Nietzsche. Erster Band (= GA 6.1), hrsg. v. B. Schillbach, Frankfurt a. M. 1996, 438–445.457–464; Heidegger, Nietzsche. Zweiter Band, 60–68.83–94.
25) Heidegger, Holzwege, 259 f.
26) Heidegger, Wegmarken, 349.
27) Häufig erörtert Heidegger das Problem von Vorentwürfen, vorgängigen Bereichsbestimmungen etc., immer wieder auch hinsichtlich der Frage nach dem Heraufkommen der Neuzeit. Die obige Wendung in: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet (= GA 34), hrsg. v. H. Mörchen, Frankfurt a. M. 1988, 61.
28) K. Barth und H. Barth, Zur Lehre vom Heiligen Geist [= Beiheft 1 zu Zwischen den Zeiten], München 1930, 48.
29) Die nach Barth m. E. diese Lehre am sorgfältigsten neu ausbildenden Überlegungen dazu bei W. Pannenberg (Grundzüge der Christologie, Gütersloh 71990, 345–361) und E. Jüngel (Unterwegs zur Sache. Theologische Erörterungen I, Tübingen 32000, 126–144).
30) Jesus Christus, so Bonhoeffer, sei derjenige »Mensch auf Erden, der als einziger keiner Ideologie verfallen ist« (Ethik, 262 f.).
31) Der Sache nach, wenngleich nicht ausdrücklich auf die Anhypostasie-Lehre bezogen, so auch bei Pannenberg (Grundzüge der Christologie, 368). M. W. hat die altprotestantische Orthodoxie die proprietates individuales Christi, Anhypostasie und Sündlosigkeit, nicht ihrerseits miteinander in Beziehung gesetzt oder auseinanderentwickelt. Es scheint mir sinnvoll, das zu versuchen.
32) Bonhoeffer und Barth tragen m. E. am entschiedensten der Notwendigkeit Rechnung, dem neuzeitlichen Subjektivismus eine authentische Offenbarungslehre entgegenzusetzen. Was bei Barth offen zu Tage liegt, ist für Bonhoeffer expliziter noch als bisher geschehen herauszustellen. Darum der Bezug auf seine Überlegungen.
33) In seiner Christologie-Vorlesung von 1933 hat sich Bonhoeffer allerdings, wegen eines dieser Lehre unterstellten Doketismus, gegen die Rede von der Enhypostasie Jesu ausgesprochen (D. Bonhoeffer, Berlin 1932–1933 [= DBW 12], hrsg. v. C. Nicolaisen und E.-A. Scharffenorth, Gütersloh 1997, 318 f.; vgl. 340).
34) Ethik, 43.
35) A. a. O., 39. So auch Barth: »Allem Anderen gegenüber ist Gott einzig als der, der er ist [,] und als das, was er ist, während alles Andere nur durch ihn und also nur in Unselbständigkeit, Abhängigkeit und Uneigentlichkeit und also gerade nicht in Konkurrenz mit ihm ist, was es ist.« (KD II/1, 498).
36) Bonhoeffer, Ethik, 44 (»die ganze Weltwirklichkeit ist bereits in Chris­tus hineingezogen, in ihm zusammengefaßt«).
37) A. a. O., 53 (Hervorh. M. T.).
38) A. a. O., 39.
39) A. a. O., 54.
40) A. a. O., 261; vgl. 68: »… daß die Wirklichkeit nicht auf Prinzipien aufgebaut ist, sondern in dem lebendigen schaffenden Gott ruht.« Zu »Begründung« und »Wesen« vgl. a. a. O., 46.49. »Klug ist, wer die Wirklichkeit sieht, wie sie ist, wer auf den Grund der Dinge sieht. Klug ist darum allein, wer die Wirklichkeit in Gott sieht. Erkenntnis der Wirklichkeit ist nicht dasselbe wie Kenntnis der äußeren Vorgänge, sondern das Erschauen des Wesens der Dinge.« (a. a. O., 67 f.; Hervorh. M. T.).
41) »Gerade in der Erkenntnis, daß alles Geschaffene um Christi willen da ist und in ihm Bestand hat (Kol 1,16 f.), ist die Welt und der Mensch erst ganz ernst genommen.« (a. a. O., 363; vgl. 403.406).
42) A. a. O., 67 f.
43) Vgl. a. a. O., 252. Von einer »Gestalt des Lebens in ihrer Ausrichtung auf das Kommen Christi« schreibt Bonhoeffer, um dann hinzuzufügen: »Löst sich das Leben aber von dieser Gestalt, will es sich frei von ihr bejahen, … dann zerstört es sich selbst bis in die Wurzeln. … Das Leben an sich – im konsequenten Sinne – ist ein Nichts, ein Abgrund, ein Sturz, es ist die Bewegung ohne Ende, ohne Ziel, Bewegung ins Nichts hinein.« (171) Die Selbstbejahung – Sturz in die eigene Fremdheit, in die schlechte Offenheit – vermag keine Bejahung als Begrenzung zu leisten.
44) Vgl. a. a. O., 406; die drei Begriffe bereits in Bonhoeffers Zettelnotizen (Zettelnotizen für eine »Ethik« [= DBW Ergänzungsband zum 6. Band], hrsg. v. I. Tödt, Gütersloh 1993, 85).
45) »Mein Leben ist außerhalb meiner selbst, außerhalb meiner Verfügung, mein Leben ist ein Anderer, ein Fremder, Jesus Christus … Was so von meinem Leben gilt, das gilt von allem Geschaffenen. ›Was da geworden ist – in dem war Er das Leben‹ (Joh 1,4).« (Bonhoeffer, Ethik, 249). Vgl. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, KEK 2, Göttingen 211986, 21 f.
46) Bonhoeffer, Ethik, 259.
47) Eine doppelte ontologische Trias (ursprünglich, wesenhaft, zielhaft; Dinge, Zustände, Werte). Vgl. auch die zusammenfassenden Sätze aus der Ethik (Ethik, 262 f.) Bereits in der Nachfolge (D. Bonhoeffer, Nachfolge [= DBW 4], hrsg. v. M. Kuske und I. Tödt, Gütersloh 32002; vgl. 87–90) hat Bonhoeffer, dort mit Bezug auf die Begriffe der Unmittelbarkeit und der Vermittlung, denselben Gedanken vertreten.
48) Barth (KD I/2, 430 f.) kann es dementsprechend gerade als befreiendes Geschehen bestimmen, »daß uns die Eigenständigkeit unserer Existenz genommen ist«. Denn diese Anhypostasie vollzieht sich um der Enhypostasie willen: »damit unser Menschsein, unser Sein in dieser Natur seine Eigentlichkeit nicht mehr in sich selbst, sondern in ihm [sc. in Christus] habe.«
49) Schon semantisch signalisiert ja »Wahrnehmung« den Bezug auf Wahrheit. Der Ausdruck, zunächst formal gemeint, verschafft sich auf diese Weise einen Bedeutungsgewinn – der allerdings angesichts der fundamentalen, apriorischen Lüge und Fälschung des homo peccator nicht einfach vorauszusetzen ist.
50) Eine der reflektiertesten, eindrücklichsten Gestalten einer sich an der Szene »menschliche Subjektivität« orientierenden Offenbarungstheorie liegt m. E. in den Arbeiten von Herms vor. Charakteristisch etwa die Wendung, dass Offenbarung als sie selbst verfehlt wird, wo ihr »Effekt«, das Zustandekommen von Gewissheit »in ihrer jeweils die Selbstgewißheit einer Person bestimmenden Gestalt« in der »Lebensgegenwart von Personen«, nicht als Vorzeichnung und maßgebliche Konstitutionsbedingung angesetzt wird. »Ausschließlich« in diesem Effekt werde Offenbarung »zum Gegenstand für die Reflexion des Glaubens und der Theologie«. Selber mache sie sich »für den Glaubenden zum Gegenstand als der Grund des Bestimmtseins seiner leibhaften Lebensgegenwart« bzw. »als der Ursprung und das Ziel der ihm selbst gewiß seienden Lebensgegenwart des Glaubenden«. Offenbarung sei dann wesentlich dasjenige, das die »Gestalt« von Erinnerung und Erwartung bestimmt. Entscheidend sei: »das Erschlossensein von leibhaftem Leben für es selbst«, das »für das Personsein des Offenbarungsempfängers überhaupt konstitutive Erschlossensein für sie selbst als sie selbst« (E. Herms, Art. Offenbarung, 199 f.; Hervorh. M. T.). Prinzipiell wird in dieser Figur, mit Heidegger geredet, Wahrheit vorab vom Kriterium der Gewissheit her und Gewissheit wesentlich als Selbstgewissheit, also reflexiv, mit der »Lebensgegenwart« der Personen als Szene, gedacht. Maßgeblich sieht sich »Offenbarung« aus den Bedingungen des Offenbarungsempfängers und seines »Lebens« vorgezeichnet. Herms bezieht sich dementsprechend konsequenterweise mit einiger Emphase auf Bultmann. In der deutschsprachigen Theologie in der ersten Hälfte des 20. Jh.s gebe es einen entscheidenden Konflikt: »Der heimliche Streit geht um die Frage, woher das Verständnis von Offenbarung stammt, das die Überlegungen leitet, aus der Selbstkritik natürlicher Vernunft oder aus dem Verstehen des Evangeliums. Mit kaum bezweifelbarer Zuversicht kann das letztere nur von einer Position behauptet werden, derjenigen R. Bultmanns.« (193) Barths Theologie wird dann m. E. ganz verkannt, wenn sie bei Herms als Entsprechung jener Selbstkritik natürlicher Vernunft dargestellt wird (195 f.).
51) »Bestand« heißt dann freilich Unterschiedliches. Anwesenheitsformen sind zu unterscheiden. Bonhoeffer denkt den an- und enhypostatischen Bezug von Heil und Unheil im Gefüge von Licht und Schatten der Versöhnung (vgl. z. B. Bonhoeffer, Ethik, 40).
52) Auch die eindringlichen Überlegungen Dalferths verraten mit der dort begegnenden Dominanz der Kategorie der »Deutung« und der »Wahrnehmung« die nicht in Frage gestellte neuzeitliche Umorientierung, mit Heidegger gesprochen, von der Wahrheit zur Gewissheit. Charakteristisch die Überschrift der Einleitung zu seinem Buch Gedeutete Gegenwart (Einleitung: »Vom Wahrnehmen Gottes«) sowie dessen Untertitel »Zur Wahrnehmung Gottes in den Erfahrungen der Zeit« (Tübingen 1997). Heideggers in Sein und Zeit vorgetragene existenziale Analytik mit ihrer Bestimmung der Welterschließung »stets am Ort des Daseins« (177) wird übernommen, aber die spätere radikale Selbstkritik Heideggers in der Ausarbeitung seiner Subjektivitätstheorie der Neuzeit nicht mitvollzogen. Nicht einmal die Frage, wenn ich recht sehe, kommt auf. Zu Recht hat Dalferth das Wahrgenommenwerden durch Gott stark betont (vgl. 4.26.31.91 u. ö.). Und »subjektivistische Bedienungsmentalität« (10) wird überaus treffend gezeichnet. Allerdings findet auch bei ihm die Gotteserkenntnis ihre »Pointe« in der Selbsterkenntnis: »Denn ihre Pointe ist, nicht einfach (etwas von oder über) Gott, sondern sich selbst in der Gegenwart Gottes zu erkennen und dies als Wirken Gottes zu verstehen.« (56; Hervorh. M. T.) »Ortung« in diesem Sinne heißt Selbst-Verortung (92.218). Und darum gilt: »Das Selbst ist der Ort, wo sich Wirklichkeit (des anderen und der Anderen) zeigt …« (190). Das Selbst ist gewiss jeweilige, aber jeweils alleinige Szene der Wirklichkeit. Darum die Emphase der Wendung »am Ort des Selbst« (191; dort dreimal). Die Probleme entstehen Dalferth zufolge aus der Pluralität der jeweiligen Größen »Selbst«, der Vielfalt der Perspektiven, liegen aber nicht in der Bestimmung dieses Ortes. Entsprechend wird, unter fragloser Voraussetzung dieser Verortung, der Glaube wesentlich als Deutungsvorgang begriffen: »Er deutet die Lücke als Schöpfung Gottes, genauer als den Ort der schöpferischen Präsenz Gottes.« (192; zur »Lücke« vgl. 26.190 ff.). Wiederum ist dieser Ort, ist diese Szene der Präsenz: die menschliche Wahrnehmung mit deren »Sinnhorizont und Sprachhintergrund« (8; vgl. 90.152). Sie setzt Grundriss, Sichtlinie und Maß – und insofern Nostrifizierung: »Wir erfahren den Widerstand des Wirklichen nie, ohne zu deuten und es uns, wie rudimentär auch immer, durch Deutung und Darstellung zu assimilieren.« (187) Als Satz der Hamartiologie ist das offenbar nicht gemeint. Überhaupt erscheint in den entsprechenden Überlegungen die Rede von der Sünde des Menschen ganz marginal.
53) Der Absolutismus des Bösen ist das Problem, nicht der Absolutismus Gottes – von dem vernünftigerweise ohnehin keine Rede sein kann.
54) Bonhoeffer, Ethik, 69.
55) K. H. Miskotte, Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testaments, München 21963, 392.
56) Sie findet komischerweise auch in der Begegnung mit dem Heiligen Geist nur sich selbst wieder (vgl. Apg 2,13).
57) Vgl. Heidegger, Holzwege, 75–113.