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Ausgabe:

Oktober/2008

Spalte:

1019–1034

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lutz Friedrichs

Titel/Untertitel:

Intensiv und unverbindlich

Praktisch-theologische Beobachtungen und Überlegungen zu neuen Gottesdienstformen

I. Ausgangslage


In der liturgischen Landschaft ist zurzeit viel in Bewegung. Dazu tragen auch neue Gottesdienstformen bei. Sie finden anhaltend starkes Interesse in den Kirchengemeinden. Aber auch kirchenleitend wird ihnen mehr und mehr Gewicht beigemessen. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung hingegen steht weitgehend noch aus.1

Neue Gottesdienstformen hatten sich bereits in den 1960er Jahren entwickelt. Für sie hatte sich rasch der Begriff »Gottesdienst in neuer Gestalt« eingebürgert. In den 1990er Jahren begann dann in Deutschland erneut eine bis heute nicht abgeschlossene Suchbewegung, ohne dass sich bisher eine einheitliche Begrifflichkeit hat durchsetzen können. So wird von »neuen«, »anderen« oder »alternativen« Formen ebenso gesprochen wie von »Zweitgottesdiensten« oder »Zielgruppengottesdiensten«.

Neue Gottesdienstformen lassen sich auch im Bereich der Kasualien und der Feste im Kirchenjahr feststellen. Es gibt eine aufschlussreiche Diskussion um »neue Kasualien«2 wie auch ein Suchen nach neuen, stärker zivilreligiös verstandenen Festen.3 Die Herausforderungen, die damit verbunden sind, sind auch deshalb brisant, weil sie, wie etwa in der Frage einer Theologie der Religionen, ein stärkeres Miteinander der theologischen Disziplinen als bisher erfordern.4

Dieses Feld wird hier nicht weiter bearbeitet. Vielmehr sind die folgenden Überlegungen auf Formen des Gottesdienstes fo­kussiert, die ihrem Selbstverständnis nach »anders« sind, sich an »Kirchendistanzierte« wenden und besondere Aufmerksamkeit wecken.5 Ihr Anderssein definiert sich über die Suche nach Alternativen zum ästhetischen und kommunikativen Stil des Sonntagmorgengottesdienstes mit seinen agendarischen Schlüsselsymbolen Bibel, Gesangbuch und Kanzelpredigt. Demgegenüber wird – durchaus provokativ für eine auf »traditionelle Gottesdienstformen«6 bezogene Liturgik – Gottesdienst als spirituelles Angebot verstanden und konzipiert.

II. Annäherung


Die evangelischen Kirchen in Westfalen und im Rheinland haben unter der Adresse »www.gottesdienstatlas.de« ein Netzwerk neuer Gottesdienstformen aufgebaut. Hatten die »Gottesdienste in neuer Gestalt« noch damit rechnen müssen, auf – wie Ernst Käsemann es im Vorwort zum Werkbuch »Für den Gottesdienst« 1968 for­muliert– »Erschrecken« zu stoßen,7 zeigen sich die Landeskirchen heute tendenziell offener und versuchen,8 Gottesdienste dieser Art zu fördern.

Der Gottesdienstatlas weist sieben Modelle auf: 1. Gottesdienste für bestimmte Altersgruppen, 2. Gottesdienste für Familien, 3. Gottesdienste für Männer/Frauen, 4. Gottesdienste für Menschen mit Behinderungen, 5. Gottesdienste für Kirchendistanzierte, 6. Gottesdienste an besonderen Orten und 7. Gottesdienste mit besonderen Akzenten (Tanz, Musik, Meditation). Nicht jedes Modell ist neu. So ist der Familiengottesdienst diejenige Form, die sich aus der Reformbewegung seit den 1960er Jahren heute am stärksten hat etablieren können. 9 Deutlich gibt der Atlas zu erkennen, dass sich die gegenwärtige Gottesdienstkultur über eine zunehmende Ausdifferenzierung von Zielgruppenangeboten weiter pluralisiert. Dabei kommt den Modellen, die sich an »Kirchendistanzierte« richten, eine besondere Rolle zu. Sie markieren, auch quer zu den verschiedenen anderen Modellen – die mehr idealtypisch als trennscharf unterschieden sind –, die Hoffnung, neue Formen des Gottesdienstes jenseits »binnenkirchlicher« Muster und Festlegungen finden zu können – Formen, die offen sind für Menschen, die Mitglied der Kirche sind, aber in ihrer Spiritualität Wege auch »jenseits der Agende« (Mildenberger/Ratzmann) gehen wollen. Darin liegt die Berechtigung, sich mit diesen Formen schwerpunktmäßig zu befassen, auch wenn damit die Frage des theologisch Neuen noch nicht entschieden ist (siehe unten).

Unter der Rubrik »Gottesdienste für Kirchendistanzierte« nennt der Gottesdienstatlas Modelle wie: »Talk to heaven: Der garantiert andere Gottesdienst«; »Die Blaue Stunde«; »GoSpecial«; »Thomasmesse«; »Atempause«, oder »Kreuzundquer – der andere Gottesdienst«. Schon diese Namen signalisieren das Andere dieser Gottesdienste, ihren Anspruch auf Modernität und Marktorientiertheit. Sie nehmen Impulse aus der Ökumene auf, insbesondere aus Finnland (Thomasmesse), den USA und England (GoSpecial), und zeigen sich offen für Formen postkonfessioneller Spiritualität (Nachteulen, siehe unten). Darin deutet sich das weite, unterschiedliche Zielsetzungen verfolgende Spektrum an: Verstehen sich Thomasmesse und Nachteulen als Formen urbaner christlicher Spiritualität, verfolgen Gottesdienstmodelle wie GoSpecial explizit mis­sionarische Ziele und sind deshalb in ein spezifisches Gemeinde aufbaukonzept integriert. Sie werden als moderne Formen der Evangelisation angesehen (so Christian Schwark). Wäre dem so, wäre das Konzept des missionarischen Gemeindeaufbaus der 1980er Jahre inzwischen in eine liturgische Phase übergegangen.10

Oft sind diese anderen Gottesdienstformen kleine Events, Veranstaltungen mit primär populärer Musik, Theaterstück oder Filmausschnitt. Sie nehmen Bezug auf den kulturellen Erwartungshorizont einer Generation, die stark von der Popkultur ge­prägt ist und für die offene Formen der Beteiligung am got­tesdienstlichen Geschehen – dialogisch, meditativ oder diskursiv ak­zentuiert – selbstverständlich sind. Auch wenn es die Projekte selbst so nicht benennen, können sie als »Liturgien der Lebensmitte« verstanden werden.

III. Umbrüche


Mit Blick auf die Umbrüche in der gegenwärtigen Gottesdienstkultur seien zwei Phänomene hervorgehoben, die ein tiefergehendes Verständnis neuer Gottesdienstformen im sozialwissenschaftlichen Sinn erlauben. Auf der Metaebene zeigen sie, dass liturgische Arbeit in Praxis und Theorie angemessen nur unter Berücksichtigung der sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen religiös-ritueller Kommunikation erfolgen kann.

1. Umbrüche in der Sonntagskultur


Umbrüche in der gegenwärtigen Sonntagskultur sind vielfältig. Hinsichtlich des Gottesdienstes ist ein Phänomen aufschlussreich, das der katholische Religionssoziologe Michael N. Ebertz unter dem Stichwort »Wochenenddramaturgien« anschaulich herausarbeitet.11 Die kirchliche Binnensicht, so Ebertz, unterstelle das Konstrukt eines Normalsonntags. Das aber sei unrealistisch, weil sich nicht nur der Sonntag in seiner gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung gewandelt, sondern auch die Dramaturgie des Wochen­endes vervielfältigt habe.

Auf der Basis einer Sekundäranalyse der Sinusstudie rekonstruiert Ebertz neun milieuspezifische Wochenenddramaturgien. Sie reichen vom Wochenende der »Traditionsverwurzelten« über das der »Bürgerlichen Mitte« bis hin zu den »Postmateriellen«. Ist für die Traditionsverwurzelten »der Sonntag der ›Tag des Herrn‹ und Kirche heimatliche Volkskirche« (17), so ist der Familiengottesdienst der Bürgerlichen Mitte »liebstes Kind – mit dem Kind in der Mitte der Gemeinde, doch bitte nicht an jedem Sonntag.« (18) Das postmaterielle Milieu hingegen »hat zum Leitbild die Kirche als Projekt« (19). Es prallt »häufig an der kleinbürgerlichen Milieugrenze der meisten Kirchengemeinden ab« (20).

Angesichts solcher milieuspezifischen Wochenenddramaturgien kann es nicht überraschen, dass es nur eine Minderheit der evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder ist, die den Gottesdienst zum Bestandteil ihres Wochenendes macht. Unter modernen Bedingungen auf seine religiöse Funktion reduziert,12 wird der Gottesdienst am Sonntagmorgen auch von den eher traditionell orientierten Mitgliedern immer stärker von »einer norm- und einer überzeugungsbezogenen Grammatik auf eine ›erfahrungs- und erlebnisbezogene Plausibilität‹ umgestellt.«13 Neue Gottesdienstformen stellen sich dieser Herausforderung und bieten deshalb Gottesdienste zu einer anderen Zeit an: Sie finden vor allem am Sonntagabend als dem Übergang vom Wochenende zur Arbeitswoche statt. Sie können damit nicht alle Milieus erreichen, nehmen aber Umbrüche im Zeittakt als Herausforderung wahr und tragen auf ihre Weise zur notwendigen Pluralisierung der Gottesdienstkultur bei.14

2. Umbrüche im Verständnis von Gemeinde und Gottesdienst


Neue Gottesdienstformen sind nicht nur von der Zeit, sondern auch vom »Ort« her anders. Sie zeigen sich als liturgisches Angebot, das nicht nur über konfessionelle, sondern auch über Gemeindegrenzen hinweg wahrgenommen wird. Insofern kann man sagen, dass mit ihnen die Region als kirchliches Netzwerk für Menschen in den Blick kommt, die sich nicht ortsgebunden »beheimaten« möchten, sondern ihrer Mobilität entsprechend Formen der Ge­meinschaft auf Zeit suchen. Es sei noch einmal in diesem Sinn Mi­chael Ebertz zitiert: »Unter den Bedingungen individueller Wahl möglichkeiten, mobiler Vergesellschaftung und massenmedialer Kommunikation entstehen soziale Netzwerke und Milieus, die von festen räumlichen Bezügen entkoppelt sind. Und so ist es eben auch schon länger zu beobachten, dass Menschen sich nicht so sehr an irgendwelchen territorialen Grenzziehungen orientieren, sondern sich Räume suchen oder selber schaffen, in denen sie Be­ziehungsreichtum erfahren können.«15 Dafür sind neue Gottesdienstformen ein sprechendes Beispiel.

IV. Rückblick


Die »Gottesdienste in neuer Gestalt« begannen Anfang der 1960er Jahre mit »Jazzgottesdiensten« im Kino. Ein wesentlicher Impuls für die besonders von Jugendlichen getragene Aufbruchbewegung war das Leiden an der restaurativen Atmosphäre in der Kirche und ihren Gottesdiensten. Eindrücklich beschreibt Ernst Käsemann die Situation: »Die um uns versinkende bürgerlich-bäuerliche Gesellschaft, der wir seit dem Mittelalter aufs engste verbunden waren, reißt auch die kirchlichen Traditionen, Gepflogenheiten und Er­scheinungsformen notwendig in ihre Strudel. Eine Zeit lang hat in begrenzten Räumen die bekennende Gemeinde des Kirchenkampfes nochmals ihre Glieder zu sammeln und zu aktivieren vermocht. Sie hat das zweifelhafte ›Wunder‹ des deutschen Aufbaus und des plötzlich anbrechenden Wohlstands fast nirgendwo überstanden. Schon allein dieser Sachverhalt dürfte beweisen, dass in ihr nicht Erneuerung, sondern Beharrlichkeit und der Wille zur Restauration beherrschend waren und sich vererbten. Halte, was du hast, ist die Losung wie im politischen, so im kirchlichen Be­reich.« 16

Es war an der Zeit, diese Atmosphäre aufzubrechen. Vermittelt über den Kirchentag als Forum liturgischer Experimente ist eine einflussreiche, zuletzt in eine »Abendmahlsbewegung«17 gipfelnde Reformbewegung entstanden, die sich selbst jedoch nicht als »Li­turgische Bewegung« begriff – vermutlich, weil die ihr nahestehende sog. »jüngere« Liturgische Bewegung ihr als nicht mehr erschien als der problematische Versuch, »mit guten alten Formen wenigstens zu überwintern«18. Demgegenüber galt es, Formen zu finden, in und mit denen die »Schizophrenie« zwischen Gottesdienst am Sonntag und »Leben im Alltag« überwunden werden könne (ebd.).

Das Ziel der folgenden Skizze ist,19 neue Gottesdienstformen heute auf dem Hintergrund ihrer Vorgeschichte besser zu verstehen. Ich konzentriere mich auf die Anfänge in den 1960er Jahren und will durch einen Vergleich wesentlicher Grundanliegen versuchen, das Profil neuer Formen heute zu schärfen. Was ich hier nicht leisten kann, ist, historische Entwicklungslinien aufzuzeigen.20

Wer die Berichte über die Anfänge der »Gottesdienste in neuer Gestalt« liest, mag erstaunt sein über die zahlreichen Gemeinsamkeiten mit den neuen Formen heute: Sie sind intensiv vorbereitet, verwenden vielfältige kulturelle Stilelemente, finden im Kino, in der Kirche oder an anderen Orten statt, verwenden Bilder zur Ge­staltung von Bildmeditationen, machen intensiv Werbung und sehen einen wesentlichen Gewinn für das Gottesdienstteam selbst. Mit Blick auf einen »Jazzgottesdienst« aus der Anfangszeit ist zu lesen: »Die etwa 60 jungen Menschen, die in den verschiedensten Funk tionen im Gottesdienst-Team mitarbeiteten, hatten durch den Um­gang mit der ›Sache‹ selbst einen inneren Gewinn«:21 Sie hatten nicht nur Gelegenheit, ihre Kritik am herkömmlichen Gottesdienst zum Ausdruck zu bringen – ihr Unbehagen und ihre Kritik an der »Verurteilung zur Passivität im Gottesdienst«, an der »Unangreifbarkeit des Pfarrers«, an dem »musealen Stil der Sprache in Liedern, Predigt und Gebeten« und an der »häufigen Simplifizierung, wenn nicht sogar … Fehlen des Wirklichkeitsbezugs und (der) … mangelnden Lebensorientierung im Gottesdienst und durch ihn« 22. Vielmehr hatten sie auch die Möglichkeit, in der Vorbereitung konstruktiv an einzelnen liturgischen Stücken zu arbeiten, sie zu verstehen und über eine neue, meist elementare Form nachzudenken. Die Gemeinsamkeiten mit den neuen Gottesdienst­formen heute bestehen so nicht nur in einzelnen Stilelementen, sondern grundsätzlich in der ungeheuer starken Intensivierung partizipatorischer Arbeit am und im Gottesdienst mit dem Interesse, diesen im Sinn einer »öffentlichen Reizung zum Glauben« (Martin Luther) – auf diese Vorstellung wird immer wieder Bezug ge­nommen – zu gestalten.

In diesem Sinn entwickeln sich im Lauf der Zeit verschiedene Formen nebeneinander, ohne den Anspruch zu haben, »die« neue Form zu sein: der Familiengottesdienst, das Politische Nachtgebet, der Kommentargottesdienst, die Thema-Gottesdienste und der Thematische Dialog-Gottesdienst. Bei Differenzen in Form und Zielsetzung im Einzelnen ist allen die thematische Ausrichtung, politisches Bewusstsein, das Bemühen, von der »Einweg-Kommunikation des Predigtgottesdienstes loszukommen, und eine Auflockerung erstarrter Formen« 23 gemeinsam.

Wo aber sind Differenzen auszumachen? Sie werden sichtbar, wenn Gerhard Schnath als Protagonist der »Gottesdienste in neuer Gestalt« den Begriff »Jazzgottesdienst« in programmatischer Ab­sicht kritisch hinterfragt: »Denen, die diese Gottesdienste miteinander erarbeiten, vorbereiten und feiern, geht es nicht um Jazz in der Kirche, sondern um die Einbeziehung eines musikalischen Stils, der unserer Wirklichkeit entspricht; wie es sich überhaupt um den Versuch handelt, Erkenntnisse der gegenwärtigen Theo­logie hinsichtlich der Verkündigung in angemessener Form zur Sprache zu bringen und zu verwirklichen.« 24 – Es sind drei Aspekte, die diesen Satz programmatisch werden lassen:

1. Gottesdienste müssen kulturelle Stile einbeziehen, »die unserer Wirklichkeit entsprechen«.

Deutlich wird, dass Gottesdienst sich kulturell öffnen muss, um sich aus seiner binnenliturgischen Selbstisolation zu befreien. Formal betrachtet ist damit eine grundlegende Gemeinsamkeit mit den neuen Gottesdienstformen heute gegeben. Differenzen aber deuten sich – inhaltlich – darin an, dass »Wirklichkeit« einer spezifisch theologischen, nämlich inkarnatorischen In­terpretation unterzogen wird. Pointiert kann Hans-Helmut Knipping in diesem Sinn sagen: »In der Durchbrechung des sakralen Raums bekommt der Gottesdienst die Weltlichkeit, die ihm zusteht und vor der sich Gott selber nicht gescheut hat.«25 Unter diesem Vorzeichen entwickelt sich eine diskur­sive Kultur des Gottesdienstes, in dem »informiert«, »kommentiert« und »dis­kutiert« werden soll, die in der »Sendung« in die Welt gipfelt.26

2. Gottesdienste müssen »Erkenntnisse der gegenwärtigen Theologie zur Sprache bringen«.

Karl Ferdinand Müller hat bereits 1968 gesehen, dass sich mit diesem theologischen Programm nicht nur eine Konzentration auf die Verkündigung verband, sondern auch ein entschieden-leidenschaftlicher »Aufbruch aus der Unverbindlichkeit«27. »Der Gottesdienst«, so Knipping in diesem Ton der Entschiedenheit, »ist nicht die Leiter, auf der ich aus dem grauen Alltag in höhere Sphären steige. Er erinnert mich daran, dass Christus einst in die Welt hinabstieg und ich hinter ihm her muss, obwohl ich gern flüchten möchte.«28

3. Gottesdienste sind auf Verkündigung zentriert.

»Gottesdienste in neuer Gestalt« sind, auch das hat Müller präzise be­schrieben, Verkündigungsgottesdienste – Gottesdienste, in denen die Verkündigung als »Zentralkraft« wirkt und darauf zielt, herkömmliche liturgische Elemente so zu transformieren, dass sie verständlich werden. Was das bedeutet, wird exemplarisch an den biblischen Lesungen deutlich: »Wenn von der Verkündigung umfassend und bestimmend gedacht wird und die ›Predigt‹ als langgestreckte Handlung verstanden wird, müssen sich auch die Lesungen dem ›Predigttext‹ oder ›Predigtthema‹ als Kontext unterordnen. Das hat zur Folge, dass dort, wo das Messschema beibehalten wird, die vorgesehenen Le­sungen oftmals durch andere ersetzt werden … oder die Lesetexte neu ausgewählt werden. So werden die Lesungen zum Comes (Begleiter) oder Kontrapunkt der Predigt. Sie verlieren ihr Eigengewicht und ihre Eigenbedeutung und werden ein Integral des ganzen Verkündigungsaktes.« 29

In neuen Gottesdienstformen heute, die als Neuentdeckung des Predigtgottesdienstes lesbar sind (siehe unten), wird zwar versucht, traditionelle li­turgische Stücke auch für die verständlich werden zu lassen, die gottesdienstlich nicht geübt sind. Aber nicht selten wird ganz auf sie verzichtet. An ihre Stelle treten religiöse Sinntexte, Gedichte oder Theaterstücke.

Hinsichtlich einer Einschätzung des Gesamtphänomens der »Gottesdienste in neuer Gestalt« will ich zwei weiterführende Aspekte aus der Diskussion damals hervorheben.

Zunächst ist die Bilanz aufschlussreich, die Herbert Lindner 1977 auf dem Hintergrund der Gottesdienstumfrage der VELKD zieht. Lindners Analyse bestätigt den Eindruck, dass ein wesentlicher Ertrag dieser Reformbewegung in der Intensivierung teambezogener partizipatorischer gottesdienstlicher Arbeit liege: »Während die Zahlen des agendarischen Gottesdienstes zurückgegangen sind, Reformen keine spektakuläre Wende herbeiführen konnten, haben sich mehr Gemeindeglieder als je zuvor aktiv an der Gestaltung von Gottesdiensten beteiligt.« 30 Lindner sieht darin– nicht zu Unrecht – das Zukunftspotential der Kirche (für die 1980er Jahre).

Sodann möchte ich an Werner Jetters Hinweis erinnern, dass die Frage neuer Gottesdienste »nicht in erster Linie eine Frage der Formen« sei, sondern »der Haltung und Einstellung, mit der die Formen gebraucht werden.«31 Entscheidend sei, Gottesdienst konsequent als Angebot zu verstehen – und sich dabei nicht über das damit verbundene Dilemma hinwegtäuschen zu lassen: Halte die Kirche am Anspruch des Sonntagmorgengottesdienstes als »Zentralveranstaltung« fest, zementiere sie damit »eine fiktiv gewordene Atmosphäre« (ebd.). Mache sie aber »ihren Gottesdienst zum reinen Angebot, dann scheint alles dem subjektiven Bedürfnis und dem bloßen Belieben überlassen.« (Ebd.) Trotz dieses Dilemmas votiert Jetter klar für »den zweiten Weg …, also den Gottesdienst ganz vorrangig und entscheidend als Angebot verstehen und gestalten [zu] müssen.« (Ebd.) Angesichts der gesellschaftlichen und kulturellen Gesamtlage bleibe der Kirche keine andere Wahl.

V. Modelle


Mit den neuen Gottesdienstformen hat sich die Kirche auf diesen zweiten Weg gemacht. An drei Grundmodellen, die überregional bekannt geworden sind und Typisches zu erkennen geben, will ich zeigen, was deren spezifisches Profil ist.32

GoSpecial ist Mitte der 1990er Jahre entstanden. Es ist ein Projekt der Andreasgemeinde in Niederhöchstadt. Der Gottesdienst be­ginnt mit Pop-Musik und einer unterhaltsamen Moderation. Konstitutiv ist ein Theaterstück: Es soll Fragen aus der Alltagswelt aufgreifen, die in der Predigt aufgenommen und beantwortet werden. Die Predigt selbst wird von einem Bistrotisch aus gehalten. Sie dauert bis zu 25 Minuten. Der Prediger – Predigerinnen sind selten– trägt keinen Talar. Er beendet seine Rede mit »Danke, dass Sie mir zugehört haben«. In einem Kreuzverhör muss er sich dann den Rückfragen aus dem »Publikum« stellen. Dieses hat Gelegenheit, bei Musik nach der Predigt Fragen zu notieren, die von einem Moderator gesammelt und dem Prediger vorgelegt werden. Innerhalb einer Minute muss er auf die Fragen antworten. Schon diese knappe Skizze lässt das besondere Profil erkennen: GoSpecial steht für ein diskursiv-orientierendes Modell.

Einen deutlich anderen Akzent setzen die Nachteulen. Auch sie, ein Projekt der Ludwigsburger Friedenskirche, sind Mitte der 1990er Jahre entstanden. Die Musik ist anspruchsvoll und professionell (Klavier, Oboe und Cello). Der Gottesdienst beginnt mit einer kleinen Geschichte oder einem Gedicht: Ein überraschendes Mo­ment soll für das Thema öffnen und eine »erste Berührung« mit einer Welt eröffnen, die anders sein will als die Welt der »Stresshektik« draußen. Es folgen Meditation und Entspannungsübung. Re­ligion soll körperlich erlebbar werden. Sie ist mystisch ausgerichtet, konfessionell offen, also mehr Suchbewegung als Bekenntnis. Es folgt die Predigt, die »Rede vom Leben« genannt wird. Sie nimmt Fragen der Lebensmitte auf, Sinnfragen verschiedener Art, populärwissenschaftlich informativ, nicht unter 30 und nicht über 45 Minuten. Auch hier keine Kanzel, auch hier kein Talar. Anders als bei GoSpecial aber ist die gottesdienstliche Gemeinde nicht so sehr Publikum als vielmehr »Gemeinde auf Zeit«: Es gibt gemeinsam gesungene, professionell angeleitete Lieder, es gibt auch eine – rituelle – Segensgemeinschaft am Schluss des Gottesdienstes. Die Nachteulen lassen sich als Modell expressiver Sinnsuche verstehen.

Einen noch anderen Akzent setzen die ökumenischen Thomasmessen. Mit Recht kann gefragt werden, ob sie überhaupt dem Spektrum alternativer Gottesdienste zuzurechnen sind. Thomasmessen sind ein Phänomen an der Grenze, ihre Form ist eine Mischung aus traditionellen und modernen liturgischen Elementen. So wird beispielsweise an der Tradition der biblischen Lesungen festgehalten, aber im Anschluss an die Predigt werden liturgische Stationen angeboten, die dem modernen Bedürfnis nach individueller Spiritualität Raum geben. Thomasmessen zeigen zwar von Stadt zu Stadt unterschiedliches Profil, stehen aber insgesamt für ein rituell-vergewisserndes Modell liturgischer Kommunikation.

Worin besteht nun das Neue dieser Modelle? Es besteht nur in einem oberflächlichen Sinn in neuen Gestaltungselementen wie etwa dem Kreuzverhör (GoSpecial), der Yoga-Übung (Nachteulen) oder den verschiedenen Stationen im Kirchenraum (Thomasmesse). In einem tieferen Sinn besteht das Neue darin, dass mit Blick auf die Zielgruppe, nämlich Menschen im Alter zwischen 30 und 50 Jahren (»Lebensmitte«), die Form nicht von der Tradition, sondern von den Bedürfnissen der Zielgruppe her gestaltet wird. Nur so ist zu verstehen, dass auf die agendarischen Schlüsselsymbole Bibel, Gesangbuch, Kanzel und Talar zumeist verzichtet wird. Dieser Verzicht soll Niedrigschwelligkeit und Offenheit in religiösen Fragen signalisieren. Der herkömmliche Gottesdienst steht für das »agendarische« – das kirchenoffizielle – Muster von Spiritualität. Demgegenüber wird nach Formen gesucht, die keine spezifische Got­teserfahrung voraussetzen und als Angebot verstanden werden können, sich Gott suchend anzunähern. Nicht zufällig entdecken diese Gottesdienste in aufklärerischer Tradition die Themapredigt neu. 33

Dabei zeigt sich ein enges Zusammenspiel zwischen Gottesdienst und Predigt. Die Liturgie ist nicht nur Rahmen, sondern konstitutiv für die religiöse Rede: Sie bahnt, in je spezifischer Weise, das Hören an und eröffnet den Raum ihrer individuellen Verarbeitung, entweder eher meditativ (Nachteulen) oder eher diskursiv (GoSpecial). In dieser Hinsicht können die neuen Gottesdienstformen als Neuentdeckung des Predigtgottesdienstes verstanden werden. Das Neue ist nicht nur das Zusammenspiel an sich, sondern – anders als bei den »Gottesdiensten in neuer Gestalt« – sein spezifischer Sinn: Es sollen Räume geschaffen werden, die eine in­dividuelle Partizipation und ein religiös-spirituelles Erleben er­möglichen. In diesem Sinn tritt an die Stelle institutioneller religiöser Kommunikation der Anspruch persönlicher Authentizität und Überzeugungskraft als Plausibilitätshorizont christlicher Verkündigung. 34 Das Modell GoSpecial gibt das besonders deutlich zu erkennen. Wenn der Prediger ins Kreuzverhör genommen wird, dann bedeutet dies: Nicht Amt und Institution, sondern die persönliche Überzeugungskraft »sichert« – srechakttheoretisch formuliert – das Vertrauen in die Botschaft ab.

VI. Theologie


Es fällt auf, dass neue Gottesdienstformen in ihren konzeptionellen Selbstbeschreibungen auf den Begriff der Spiritualität rekurrieren. Er steht nicht nur als »Signalwort für innerkirchliche Erneue­rungsbemühungen«35, sondern auch für eine offene Form christlich-religiöser Praxis: »Spiritualität ist genau der Begriff, der das Bedürfnis nach Traditionsanschluss aufnimmt, ohne auf eine be­stimmte Tradition festzulegen. Besondere Bedeutung gewinnt dabei das Erfahrungsorientierte im Spiritualitätsbegriff. Wo Ob­jektives Geltung verliert, wird Sicherheit im subjektiven Empfinden erfahren.«36

Die Verwendung des Begriffs und der Idee der Spiritualität in den einzelnen Modellen wäre eine eigene Untersuchung wert. Es kämen dann auch notwendige Differenzierungen in den Blick. Dennoch lassen sich hinsichtlich des theologischen Profils neuer Gottesdienstformen drei Grundzüge benennen:

1. Neue Gottesdienstformen verstehen Gottesdienst wesentlich als Ort einer offenen »Gottesbegegnung«37 – durchaus im Sinn einer unverbindlich bleibenden Suche nach einer »den grauen Alltag hinter sich lassenden Sphäre« (Knipping, siehe oben). Das wird nicht nur daran erkennbar, dass in der Regel kein Glaubensbekenntnis gesprochen wird. Auffallend ist auch, dass der Treffpunkt im Anschluss an den Gottesdienst nicht, wie noch bei den »Gottesdiens­ten in neuer Gestalt«, Ort einer tiefgehenden theologischen »Gesamtdiskussion«38 ist, sondern Ort einer unverbindlich bleibenden Kommunikation.

2. Neue Gottesdienstformen verstehen die Art der Gottesbegegnung – mit Ausnahme insbesondere der evangelistischen Modelle– unmittelbar, das bedeutet christologisch nicht vermittelt. Jesus Christus kommt nicht, wie insbesondere ein Blick auf die Theologie der Fürbittgebete zeigt, als »Mittler« ins Spiel, sondern im Sinn der Vorbild-Christologie als Beispiel der »›besten‹ Gottesbegegnungsgeschichte«39. Das ist sicher auch eine wesentliche Ursache dafür, dass das Abendmahl nur ausnahmsweise gefeiert wird: Es ist nur in der Thomasmesse konstitutiv, in anderen Formen – wie den Nachteulen – wird es gelegentlich oder gar nicht gefeiert.

3. Bereits für die »Gottesdienste in neuer Gestalt« gilt, dass in ihnen der »Mensch stärker in den Mittelpunkt tritt«40. Diese an­thropologische Wende zeigt sich bei neuen Formen heute insofern verschärft, als sie sich als Rituale für eine offene, nicht selten neoromantisch-mystisch sich verstehende Form christlicher Spiritualität verstehen,41 der kirchenoffiziell bisher nur ungenügend Raum gegeben wurde. Sie knüpfen damit – eher unbewusst und unreflektiert – an einen wesentlichen Aspekt der »älteren« Liturgischen Bewegung an, »widersprechen« aber deren Suche nach einer möglichst »objektiven« liturgischen Form.42

VII. »Aufbruch der Engagierten«


Neue Gottesdienstformen richten sich ausdrücklich an »Kirchendistanzierte«. Deshalb ist nach dem Zusammenhang zwischen Gottesdienst und Kirchendistanz zu fragen. Ich fasse dazu zu­nächst die Ergebnisse der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsstudie der EKD in drei Punkten zusammen.

Es kann erstens von einer »positiven Entwicklung im Verbundenheitsgefühl«43 ausgegangen werden: Die evangelischen Kirchenmitglieder fühlen sich zu 37 % »sehr« oder »ziemlich« verbunden, 37 % noch »etwas verbunden«. Zweitens sind Kasualien der wesentliche Grund für Kirchenmitgliedschaft: Menschen sind mehrheitlich Mitglied der Kirche, weil sie an den Wendepunkten ihres Lebens mit dem Segen der Kirche begleitet werden möchten. Was sie mehrheitlich nicht wollen, ist, sich aktiv am Leben der Kirchengemeinde zu beteiligen. Drittens gibt es einen deutlichen Zu­sammenhang zwischen Kirchgang und aktiver Gemeindearbeit. »Man kann sagen, wer relativ häufig zum Gottesdienst geht, engagiert sich in der Regel auch sonst in der Gemeinde« (23, etwa 80 %). Dennoch muss differenziert werden: Gottesdienstgemeinde und aktive Kirchengemeinde sind »nicht ganz identisch« (ebd.). So muss auch von einer Kirchenverbundenheit ausgegangen werden, die sich nicht in einer regelmäßigen Teilnahme am Sonntagmorgengottesdienst ausdrückt. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die, die sich »kaum« mit ihrer Kirche verbunden fühlen und »nur selten« in den Gottesdienst am Sonntagmorgen gehen, in der Regel Kirche als eine konventionelle erwarten (22). Damit ist fraglich, ob Kirchen­dis­tanzierte wirklich andere als die konventionellen Formen des Gottesdienstes suchen.

Deutlich wird, dass Kirchendistanziertheit differenziert ge­dacht werden muss. Die neuen Gottesdienstformen dagegen gehen von einer allgemeinen Kirchendistanziertheit aus44 und verstehen darunter offensichtlich eine Distanz zum kerngemeindlichen Muster kirchlichen Christentums. Eine solche Distanz ist aber nicht Kirchendistanz, sondern nur Distanz zu einer bestimmten Ausprägung kirchlichen Christentums. Weiterführend wäre hier ein Ansatz, der gar nicht von Kern, Rand und Distanz spricht, sondern bereit ist, das Phänomen kirchlichen Christentums nach un­terschiedlichen Formen der Partizipation differenziert zu betrachten, ohne damit Wertungen etwa im Sinn von Kern als eigentliches und Rand als uneigentliches Christentum vorzunehmen.

Lässt man sich dennoch auf das Kriterium »Teilnahme am Sonntagmorgengottesdienst« ein, kann nur festgestellt werden, dass das Ziel, Menschen anzusprechen, die nur selten oder nie kommen, allenfalls ansatzweise eingelöst wird.45 Bereits ältere empirische Studien raten zur Vorsicht und lassen vermuten, dass sich das »missionarische« Potential neuer Formen primär in einem »Aufbruch der Engagierten« zeigt.46

Unter diesem Titel hat jüngst Michael Nüchtern eine empirische Studie über »Zweitgottesdienste« in der Badischen Landeskirche kommentiert. Diese hatte 2004 beim Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung an der Universität Greifswald eine Studie zu neuen Gottesdiensten in Auftrag gegeben. Ziel der Untersuchung war, zu klären, ob und wie neue Gottesdienstformen ihr Ziel, Kirchendistanzierte anzusprechen, auch tatsächlich erreichen.

Mit dem Titel »Aufbruch der Engagierten« wird deutlich, dass diese Gottesdienste tatsächlich etwas in Bewegung setzen. Sie leben stark von dem Aufbruch und dem Engagement der Ehrenamtlichen, die sich mit ihrer Kirche »ausgesprochen verbunden (ca. 91%) (fühlen). Sie gehören objektiv betrachtet selbst zur ›Kerngemeinde‹. Über 80 % gehen nach Selbstaussage ›(fast) jeden Sonntag‹ oder ›ab und zu‹ in den traditionellen Gottesdienst. … Sie fühlen sich in ihrem Team und mit ihrer Arbeit ausgesprochen wohl. Als Gründe für ihr Engagement nennen sie vor allem die Möglichkeit, eigene Gaben einzubringen (über 70 %) und die Tatsache, dass viele Menschen zum traditionellen Gottesdienst keinen Zugang finden (66,88 %). … Als typisch moderne Ehrenamtliche sehen sie in dem Engagement also vor allem auch einen Gewinn für sich selbst.«47

In der Frage, ob die, die diese Gottesdienste besuchen, tatsächlich als kirchendistanziert eingeschätzt werden können, differieren das Greifswalder Institut und Nüchterns Kommentar. Wie auch immer die Zahlen interpretiert werden, es kann gesagt werden, dass sich die Teilnehmenden zu 75 % der Kirche »sehr« oder »ziemlich verbunden«, nur etwa 5 % »kaum« oder »überhaupt nicht verbunden« fühlen. Werden diese Zahlen in ein Verhältnis gesetzt zu denen aus der aktuellen Mitgliedschaftsstudie der EKD, muss man mit Nüchtern sagen: Die, die diese Gottesdienste besuchen, zeigen einen deutlich höheren Grad der Verbundenheit als der Durchschnitt der Kirchenmitglieder: »Nach der EKD-Untersuchung sind es (nur) 37 % der Kirchenmitglieder (West), welche dieselbe starke Verbundenheit wie die Besucher der ›Zweitgottes­diens­te‹ äußern. … Dem faktischen Befund kontrastiert in auffäl­liger Weise die Einschätzung des Organisationsteams, durch die Gottesdienste ›Distanzierte‹ erreichen zu wollen. Tatsächlich entsprechen die Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes, was Kirchenverbundenheit und Mitgliedschaftsform betrifft, auf etwas ›niedrigerem‹ Niveau den Veranstaltern. Dem entspricht auch die Teilnahme der Zweitgottesdienstbesucher am gemeindlichen Le­ben. Fast 60 % von ihnen geben an, den traditionellen Gottesdienst ›(fast) jeden Sonntag‹ oder ›ab und zu‹ zu besuchen, nur etwas über 15 % ›seltener‹ oder ›nie‹. Weniger als 5 % nehmen sonst ›nie‹ an kirchlichen Veranstaltungen teil.« (89)

VIII. Fragen und Perspektiven


Die Rekonstruktion der »Gottesdienste in neuer Gestalt« hat deutlich erkennen lassen, dass »Umbruchszeiten … an Gottesdienstformen nicht spurlos vorbei«48 gehen. Waren die »Gottesdienste in neuer Gestalt« vor allem ein gesellschaftskritischer Aufbruch der Jugend in die Welt, so sind die neuen Formen heute ein sinnsuchender Aufbruch von Menschen der Lebensmitte in die Spiri­tualität: Nicht die Weltlichkeit der Liturgie und die Frage der Veränderbarkeit der Welt ist ihr Fokus, sondern die Erlebbarkeit christlicher Religion und ihr »Ertrag« für die eigene religiöse Sinnsuche. Mit drei Stichworten will ich Fragen und Perspektiven benennen.

1. Stärken und Schwächen


Ein Vergleich der neuen Gottesdienstformen mit den »Gottesdiens­ten in neuer Gestalt« ist aufschlussreich hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen. Ihre Stärke ist, neuen, kirchlich bisher nur unzureichend Raum gegebenen spirituellen Bedürfnissen einen liturgischen Ort zu geben. Ihre Schwäche ist, dass sie den Zusammenhang von Gottesdienst und Alltag für ihre Zeit nicht angemessen um­setzen oder umzusetzen versuchen. Damit droht ein zentrales bib­lisches Kriterium für ein theologisch angemessenes Gottesdienstverständnis verloren zu gehen: der – kultkritische – Zusam­menhang zwischen Gottesdienst als »Veranstaltung« und »Lebensgottesdienst« (siehe Röm 12). Überdeutlich wird diese Gefahr an der Frage des Dankopfers (Kollekte). Nahmen die »Jazzgottesdienste« der 1960er Jahre dieses Opfer in solidarischer Absicht mit den Armen der Welt sehr ernst,49 so spielt es im Spiegel der vorliegenden Praxismaterialien – mit Ausnahmen – oft eine marginale Rolle oder kann bezeichnenderweise sogar ausschließlich für die eigene Projektarbeit bestimmt sein.50 Auch wenn der Zusammenhang zwischen Gottesdienst als Veranstaltung und Lebensgottesdienst heute anders, nicht so direkt wie im herkömmlichen Modell ge­dacht werden muss – und dafür neue Modelle zu entwickeln wären –, fragt sich, ob nicht Ernst Käsemanns Kritik an den »introvertierten Gemeinden« seiner Zeit unter veränderten Bedingungen neu an Aktualität gewinnt.

Theologisch auffallend ist, dass sich – im Gegenüber zu den 1960er Jahren – »die« Theologie des Gottesdienstes im Spiegel neuer Formen nicht nur pluralisiert, sondern auch weitgehend vom universitären Zusammenhang, wie er einst exemplarisch im Engagement des Neutestamentlers Käsemann zum Ausdruck kam, abgelöst hat. Offensichtlich gibt es derzeit kaum Brücken zwischen universitärer Theologie und gottesdienstlicher Praxis, so dass auch– was beunruhigend ist – Fragen wie die nach einer lebensweltlich bedeutsam werdenden christologischen Dimension des Gottesdienstes unbearbeitet bleiben.

2. Produktive Projektion


Die Zielsetzung, Gottesdienste für Kirchendistanzierte anbieten zu wollen, erweist sich mit Blick auf die, die tatsächlich kommen, als Projektion. Offensichtlich verhält es sich so, dass die, die der Kirche nahe sind, ihre spirituellen Bedürfnisse auf eine Fläche des Fremden projizieren, um sich selbst näherzukommen. Sie erreichen da­mit zwar nicht ihr eigentliches missionarisches Anliegen. Dennoch sind ihre Projekte und Projektionen durchaus produktiv. Sie brechen nicht nur die binnenkerngemeindliche Sicht auf Fragen des Gottesdienstes auf, sondern geben dem gottesdienstlichen Le­ben insgesamt, indem sie die Spiritualitätsbedürfnisse der Kirchenverbundenen differenziert aufnehmen, eine neue Ausstrahlungskraft.

In diesem Sinn ist etwa zu fragen, wo und wie dem grundlegenden Bedürfnis nach religiös-christlicher Orientierung in der Kirche heute Raum gegeben wird. Die Frage entzündet sich an dem hohen Interesse an Themenpredigten. Selbstkritisch ist zu fragen, ob es der Sonntagspredigt heute gelingt, die Kommunikation des Evangeliums hinreichend lebenserhellend und lebensdienlich auszurichten.

3. Was ist neu?


Die neuen Gottesdienstformen sind nicht nur von der Zeit (sonntagabends), sondern auch von ihrem Selbstverständnis her anders als der herkömmliche Gottesdienst am Sonntagmorgen: Sie verstehen sich als Angebote für Menschen, die sich nicht ortsgebunden beheimaten möchten, und spiegeln darin etwas vom sozialen Wandel in der Kirche. Für die Praxis bedeutet das, dass solche Formen jenseits gemeindlichen Kirchturmdenkens initiiert sein wollen. Sie bedürfen einer gemeinsamen Planung auf Ebene des Kirchenkreises oder der kirchlichen Region.

Gottesdienste für »Kirchendistanzierte« ziehen die Aufmerksamkeit stark auf sich und wecken oft missionarische Hoffnungen der Kirchengemeinden – es muss jedoch gesehen werden, dass mit ihnen noch nicht entschieden ist, was in einem theologischen Sinn neu, was innovativ ist.51 In einem gewissen Sinn verdecken sie so­gar theologisch Innovatives. Zu denken ist hier an feministische,52 diakonisch-integrative53 oder solche Projekte, die mit einem dezidiert gesellschaftskritischen Anliegen versuchen, die »gegenkulturellen« Impulse der biblischen Tradition liturgisch umzusetzen, wie das Wilhelmshavener Projekt »Passionspunkte«54.

Fazit


Wie bei den »Gottesdiensten in neuer Gestalt« liegt die Herausforderung der neuen Gottesdienste nicht primär in neuen Gestaltungselementen, sondern im Anstoß, neu über die Praxis und Theo­rie des Gottesdienstes in seinem Zeitbezug nachzudenken. Dabei wird der Blick insbesondere auf die Frage gelenkt, inwiefern es der evangelischen Gottesdienstkultur gelingt, den Anspruch auf Öf­fentlichkeit ihrer religiös-christlichen Sinnkommunikation ein­zulösen, also ihren Anspruch, mit Form und Inhalt über die eigenen Kirchenmauern hinweg zugänglich zu sein. Das, was alternative Gottesdienstformen ausdrücklich erheben – den Bezug zu Kirchendistanzierten –, erweist sich in diesem Sinn als Grundanforderung jeder Form des Gottesdienstes.

Mit den »Gottesdiensten in neuer Gestalt« teilen die neuen Formen heute die Intensivierung einer auf Partizipation zielenden gottesdienstlichen Praxis. Sie erinnern, indem sie wesentlich von Ehrenamtlichen getragen werden und verständlich sein wollen, an biblische Grundanliegen des Gottesdienstes. Partizipation ist, in ökumenischer Übereinstimmung mit der grundlegenden Reformidee des Vatikanum II hinsichtlich der Messe, der zentrale Reform­impuls der Bewegungen seit den 1960er und 1990er Jahren. 55 Ihn, wie die aktuelle Diskussion um die Rückkehr zur tridentinischen Messform es will, rückgängig zu machen, wirkt nicht nur anachronistisch, sondern ist auch theologisch inakzeptabel. Demgegenüber gilt, liturgische Beteiligung künftig differenziert zu denken und damit gegen Missverständnisse zu schützen, als bestehe sie wesentlich schon darin, »aktiv« etwa im Sinn des Schreibens von Gebetszettelchen sein zu müssen.56

Gegenüber den »Gottesdiensten in neuer Gestalt« zeigt sich der Angebotscharakter der neuen Gottesdienstformen heute den Bedingungen gesellschaftlicher und kultureller Pluralisierung entsprechend verschärft. Sie verstehen sich marktförmig als Angebot gottesdienstlicher Gemeinschaft, das den »Gruppencharakter des kirchlichen Beteiligungsmilieus«57 hinter sich lässt und Formen liturgischer Vergemeinschaftung sucht, die nicht mehr von vorgegebener, sondern wählbarer Sozialität ausgehen. Ihr Profil kann pointiert als intensiv und unverbindlich beschrieben werden: Sie bieten jenseits von Gemeindezugehörigkeit und Konfession eine Form liturgischer Gemeinschaft für Menschen an, »die einen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Gottesdienst suchen und sozusagen im Vorbeigehen daran teilnehmen wollen.« 58

Dieses Vorbeigehen hat seine eigene Logik und Tiefe, die es theo­logisch zu würdigen gilt. Es kann als eine religiöse Suchbewegung nach dem aufgefasst werden, was den christlichen Glauben heute ausmacht – eine Suchbewegung, in der aus einer Distanz heraus gleichsam im Medium des Liturgischen Annäherungen an das »eigene Fremde« und oder »fremde Eigene« der christlichen Religion gesucht wird.59 Zwar liefert sich die Kirche damit ein Stück weit dem (»neuen« kapitalistischen) Zeitgeist des »Unverbindlichen« aus.60 Aber es gilt zu sehen, dass sich die Situation insgesamt als Dilemma zeigt, weil eine Kirche, die sich zur Lebenswelt öffnen will, nicht anders kann, als eben mit den Gesetzen der Lebenswelt mitzugehen. Täte sie es nicht, würde sie sich mehr und mehr selbst marginalisieren. Umso mehr tritt die Aufgabe hervor, in und trotz des lebensweltlichen Bezugs auch im gottesdienstlichen Handeln einen der biblisch-christlichen Botschaft entsprechenden Kontrapunkt zu setzen. Zu fragen bleibt, ob dies den neuen Gottesdienstformen hinreichend gelingt.

Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass ein Gottesdienst nicht alles leisten kann oder muss. So steht der herkömmliche Gottesdienst am Sonntagmorgen eher für Verlässlichkeit, die neuen Formen stehen hingegen eher für religiöse Suchbewegungen. In dieser Weise ergänzt sich das Feld im Sinn einer spannungsreich-lebendigen Gottesdienstgesamtkultur – und darin ist das le­gitime Anliegen zu sehen, beides nebeneinander zu fördern, um auch voneinander lernen zu können.

Angesichts der grundlegenden theologischen Fragen ist nicht nur eine weiterreichende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit neuen Formen des Gottesdienstes erforderlich, sondern auch das Erarbeiten von Praxishandreichungen, die Gottesdienst-Teams in den Gemeinden zu einer theologisch reflektierten gottesdienstlichen Praxis anleiten.

Summary


This article surveys various new (protestant) forms of worship which arose in Germany in the late 20th century and endeavours to explore their theological profile. They are »intensive« – in common preparation – and »non-committal« – with regard to the worshipping community. The new forms of worship, which are influences by ecumenical insights from Helsinki/Finland or Willow Creek/ USA, serve the needs of those people who search for God beyond traditional patterns of worship. Compared to the forms of worship which blossomed in the early 1960s their intention is not political but religious and focussed on spiritual practice. They prove to be the liturgical expression of religious individualization: Liturgy becomes a marketable resource. Up to now this phenomenon and its theological challenges have not been adequately considered by liturgical studies.

Fussnoten:

1) Herbst, Michael: Neue Gottesdienste braucht das Land, in: BThZ 17 (2000), 155–176; Mildenberger, Irene/Ratzmann, Wolfgang (Hrsg.): Jenseits der Agende. Reflexion und Dokumentation alternativer Gottesdienste, Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 10, Leipzig 2003; Müller, Konrad/Grethlein, Chris­tian: Auf der Suche nach neuen Formen, in: Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 883–899; Grethlein, Christian/Ruddat, Günter: Gottesdienst – ein Re­formprojekt, in: Dies. (Hrsg.): Liturgisches Kompendium, Göttingen 2003, 13–41; Kunz, Ralf: Der neue Gottesdienst. Ein Plädoyer für den liturgischen Wildwuchs, Zürich 2006; Schwark, Christian: Gottesdienst für Kirchendistanzierte. Konzepte und Perspektiven, Wuppertal 2006. – Erste Ansätze einer praktisch-theologischen Reflexion finden sich in Sammelbänden für die kirchliche Praxis: Bundschuh-Schramm, Christiane: Kreativ – kommunikativ – kundenorientiert. Was die neuen Gottesdienstformen ausmacht, in: Dies./u. a. (Hrsg.): Eine Zeit zum Suchen. Neue Gottesdienstformen, Ostfildern 2003, 285–295; Bitter, Stephan/Meyer-Blanck, Michael: Unser Gottesdienst – eine kulturelle Gelegenheit, in: Dies. (Hrsg.): Gottesdienst – Eine kulturelle Gelegenheit. Zehn besondere Gottesdienste für die Gemeindepraxis, Rheinbach 2005, 7–24; Fried­richs, Lutz: Alternative Gottesdienste: Praktisch-theologische Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Alternative Gottesdienste, Hannover 2007, 9–32.
2) Albrecht, Christian: Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen, Tübingen 2006; Grethlein, Christian: Grundinformation Kasualien, Göttingen 2007; Friedrichs, Lutz: Kasualpraxis in der Spätmoderne. Studien zu einer Praktischen Theologie der Übergänge, Leipzig 2008.
3) Klie, Thomas (Hrsg.): Valentin, Halloween & Co. Zivilreligiöse Feste in der Gemeindepraxis, Leipzig 2006. Zu den vielfältigen Versuchen »präkate­chumenaler« Gottesdienste in der katholischen Kirche siehe: Nagel, Eduard: Eucharistische und nicht-eucharistische Formen des Gottesdienstes heute. Veränderungen in der römisch-katholischen Gottesdienstlandschaft, in: Mildenberger/Ratzmann (Hrsg.) 2003 (Anm. 1), 25–44.
4) Grethlein, Christian: Auf der Suche nach neuen Formen – Neue Ansätze, in: Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 886–899, bes. 897.
5) Unberücksichtigt bleiben in diesem Beitrag auch neue liturgische Formen im Internet, siehe dazu das Themenheft Arbeitsstelle Gottesdienst 1-2007: »Liturgie per Mausklick«.
6) Bieritz, Karl-Heinrich: Art. Liturgie E., in: Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 740.
7) In seiner theologischen Kritik der Gottesdienste in neuer Gestalt spricht dann Peter Brunner tatsächlich davon, dass »die Kirche Gottes« vor diesen Gottesdiensten »erschrecken« müsse, siehe Brunner, Peter: Theologische Grundlagen von »Gottesdiensten in neuer Gestalt«, in: Blankenburg, Walter/u. a. (Hrsg.): Kerygma und Melos, Kassel u. a. 1970, 103–114, 114.
8) Exemplarisch nenne ich § 4 des Kirchengesetzes zur Einführung der Kirchenagende I in der Evangelischen Kirche der Pfalz vom 18. November 2005: »Im Kirchenjahr können agendarisch nicht festgelegte Hauptgottesdienste an bis zu zwölf Sonn- und Feiertagen an einer Predigtstelle gefeiert werden. Die Zustimmung des Presbyteriums ist hierzu erforderlich.« Hinzuweisen ist zudem darauf, dass sich ein Ausschuss der Liturgischen Konferenz unter Leitung von Jochen Arnold, Direktor des Michaelisklosters in Hildesheim, mit dem Thema befasst.
9) Ratzmann, Wolfgang: Familiengottesdienste, in: Handbuch der Liturgik, Göttingen 32003, 820–831.
10) Siehe Herbst 2000 (Anm. 1), 156.
11) Ebertz, Michael N.: Wochenenddramaturgien in sozialen Milieus, in: Fechtner, Kristian/Friedrichs, Lutz (Hrsg.): Normalfall Sonntagsgottesdienst? Gottesdienst und Sonntag im Umbruch, Stuttgart 2008, 14–24.
12) Daiber, Karl-Fritz: Gottesdienst als Mitte – Ende eines Mythos?, in: ZGP 11 (1993), 18–20.
13) Ebertz 2008 (Anm. 11), 15.
14) Die liturgischen Folgen des Umbruchs im Zeittakt hat mehrfach Chris­tian Grethlein analysiert, siehe zuletzt: Grethlein, Christian: Potenziale liturgischer Zeiten heute, in: Fechtner/Friedrichs (Hrsg.) 2008 (Anm. 11), 180–189.
15) Ebertz, Michael N.: Neue Orte braucht die Kirche, in: Lebendige Seelsorge 55 (2004), 7–12.
16) Käsemann, Ernst: Vorwort, in: Trautwein, Dieter/Roessler, Roman: Für den Gottesdienst, Gelnhausen-Berlin 1968, 3.
17) Bieritz, Karl-Heinrich: Art. Liturgische Bewegungen, in: Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 741–743, 742. Bieritz sieht in der Bewegung seit den 1960er Jahren eine »neue Liturgische Bewegung im deutschen Protestantismus« (ebd.). Es wäre ein eigenes Forschungsfeld, nicht nur die Einflüsse dieser Bewegung auf Gemeinden, Kirchenleitungen und Liturgische Kommissionen nachzuzeichnen, sondern auch deren Verhältnis zu der »älteren« und »jüngeren« Liturgischen Bewegung.
18) Schnath, Gerhard: Fantasie für Gott. Gottesdienste in neuer Gestalt, Stuttgart-Berlin 1965, 7. Schnath verweist darauf, dass es – nach der Zeit des Kirchenkampfes – gilt, nicht »auf der vorgegebenen Bahn einfach weiterzu­gehen« (6), sondern sich den »ungelösten und unbewältigten theologischen Fragen« (ebd.) des 19. Jh.s zu stellen. Er beruft sich dabei auf Bonhoeffer, der schrieb: »Ich glaube, die Menschen werden eines Tages aus dem Staunen über die Fruchtbarkeit dieser jetzt vielfach so missachteten und kaum gekannten Zeit nicht herauskommen.« (6).
19) Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der liturgischen Reformbewegungen seit den 1960er Jahren steht noch aus. Es gibt sie bisher nur in Ansätzen, primär von solchen Autoren, die in dieser Zeit selbst in der Reformbewegung engagiert waren: Cornehl, Peter: Art. Gottesdienst VIII, in: TRE 14 (1985), 54–85; Ruddat, Günter: Neue Gottesdienste braucht das Land? Liturgisch-topographische und konzeptionell-handlungsorientierte Überlegungen, in: Mildenberger/Ratzmann (Hrsg.) 2003 (Anm. 1), 45–66.
20) Zu dieser und anderen noch ausstehenden Forschungsaufgaben siehe den instruktiven Band von Hermle, Siegfried/u. a. (Hrsg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007.
21) Im Kino, in: Schnath 1965 (Anm. 18), 29.
22) Im Kino, in: Schnath 1965 (Anm. 18), 25.
23) Fischer, Helmut: Thematischer Dialog-Gottesdienst, Hamburg 1975, 31.
24) Schnath 1965 (Anm. 18), 6.
25) Knipping, Hans-Helmut: Gottesdienst und Wirklichkeit, in: Schnath 1965 (Anm. 18), 51.
26) Es fällt auf, dass an »unaufgebbaren Stücken des Gottesdienstes« (in: Schnath 1965 [Anm. 18], 26) festgehalten wird. Auch wenn die Frage der Form situativ offen gehalten wird, entsteht eine Art Grundmodell, das Gebet, Lesung, Lied und Verkündigung beibehält. Entdeckt werden verschiedene Möglichkeiten, den Wirklichkeitsbezug des Gottesdienstes stärker hervortreten zu lassen: »So werden zum Beispiel Gemeindeglieder, die die Gegebenheiten heutigen Lebens aus verschiedenen Perspektiven kennen, die Verkündigung mitverantworten müssen. Ein Nachrichten- oder Informationsteil mit Kurzberichten aus Kirche und öffentlichem Leben wird in den Gottesdienst Aufnahme finden können. Das Fürbittengebet wird konkret auf das Umweltgeschehen eingehen. Repräsentation der Wirklichkeit kann im Bild geschehen. Gottesdienste werden wiederholt thematische Ausrichtung auf äußere Anlässe finden« (Roessler, in: Trautwein/Roessler 1968 [Anm. 16] 33).
27) Müller, Karl Ferdinand: Theologische und liturgische Aspekte zu den Gottesdiensten in neuer Gestalt, in: JLH 13 (1968), 54–77, 52. Aus konservativer Sicht hat darum Peter Brunner diesen Gottesdiensten eine missionarische Strategie eigener Art unterstellt, siehe Brunner 1970 (Anm. 7).
28) Knipping, in: Schnath 1965 (Anm. 18), 56.
29) Müller 1968 (Anm. 27), 69.
30) Lindner, Herbert: Keine Chance für Reformen? Konsequenzen für die Gestalt des Gottesdienstes, in: Seitz, Manfred/Mohaupt, Lutz (Hrsg.): Gottesdienst und öffentliche Meinung, Stuttgart u. a. 1977, 199–212, 200.
31) Jetter, Werner: Was wird aus der Kirche? Beobachtungen, Fragen, Vorschläge, Stuttgart-Berlin 1968, 182. Zitate im Folgenden nach dieser Quelle.
32) Siehe genauer: Friedrichs 2007 (Anm. 1). Dort auch Literatur zu den einzelnen Modellen.
33) Siehe dazu genauer Friedrichs, Lutz: Anders predigen. Beobachtungen zur Predigt in alternativen Gottesdiensten, in: Fechtner/Friedrichs (Hrsg.) 2008 (Anm. 11), 167–177.
34) Zu Fragen institutioneller religiöser Sprechakte siehe Daiber, Karl-Fritz: Predigt als religiöse Rede. Homiletische Überlegungen im Anschluss an eine empirische Untersuchung, München 1991, 199–228.258–272.
35) Nüchtern, Michael: Spiritualität auf dem Markt, in: Herbst, Michael (Hrsg.): Spirituelle Aufbrüche. Perspektiven evangelischer Glaubenspraxis, Göttingen 2003, 9–18, 10.
36) Nüchtern 2003 (Anm. 35), 13.
37) Ratzmann, Wolfgang: Annäherungsversuche an das Heilige. Ein Nachwort, in: Mildenberger/Ratzmann (Hrsg.) 2003 (Anm. 1), 217–230, 224.
38) Im Kino, in: Schnath 1965 (Anm. 18), 32.
39) Bundschuh-Schramm 2003 (Anm. 1), 294.
40) Fischer 1975 (Anm. 23), 24.
41) Siehe dazu Engelbrecht, Martin: Die dogmatische Krise des Gottes­diens­tes – Wissenssoziologische Überlegungen zu Dynamiken der evangelischen Gegenwartssituation, in: Fechtner/Friedrichs (Hrsg.) 2008 (Anm. 11), 49–59.
42) Mensching, Gustav: Art. Liturgische Bewegung, RGG2 (1929), 1696–1697, 1696: »Inhaltlich haben bereits Spitta und Smend darauf hingewiesen, dass ein nüchterner Rationalismus, ob er sich nun in orthodoxer oder in liberaler Form zeigt, unfähig zu wirklichem Kultus ist. Auch die ev[angelische] Frömmigkeit hat mystische Elemente nötig.«
43) Kirchenamt der EKD (Hrsg.): Kirche – Horizonte und Lebensrahmen, Hannover 2003, 13. Nachweise im Folgenden nach dieser Quelle.
44) Bundschuh-Schramm (Hrsg.) 2003 (Anm. 1), 291.
45) Friedrichs, Lutz: »Kommen Sie gut nach Hause« – oder: Wie die Schwelle zur Heimat wird. Eine liturgiesoziologische Wahrnehmung alternativer Gottesdienste am Beispiel GoSpecial, in: Mildenberger/Ratzmann (Hrsg.) 2003 (Anm. 1), 113–133.
46) Diese Linie wäre kirchenhistorisch in einer Sichtung der »ernüchternden Bestandsaufnahmen« (Laepple) der Kongresse für Volksmission des 19. Jh.s zu vertiefen, Laepple, Ullrich: Der Faktor »Evangelisation« in der Diakonie nach Wichern (2006), unter: http://www.a-m-d.de/texte/–doc/Wichernvor­trag–Laepple.pdf (Abruf am 02. April 2008). Zu fragen wäre insbesondere, wa­rum sich trotz der vielfachen Ernüchterungen das Muster solcher missiona­rischer Erwartungen bis heute nahezu ungebrochen hält.
47) Nüchtern, Michael: Aufbruch der Engagierten. Kommentar zu einer empirischen Studie über Zweitgottesdienste, in: Arbeitsstelle Gottesdienst 21 (3-2007), 87–89, 87 f. Zitatnachweise im Folgenden nach dieser Quelle. Die Studie ist publiziert unter: Reppenhagen, Martin: »Zweitgottesdienste« in der Evangelischen Landeskirche in Baden, hrsg. vom Evangelischen Oberkirchenrat, Karlsruhe 2007.
48) Jetter 1968 (Anm. 31), 178.
49) Im Kino: Stuttgart-Bad Cannstatt, in: Schnath 1965 (Anm. 18), 29: »Immer wurde zum Opfer für einen konkreten Zweck aufgerufen. Die Opferansage wurde stets durch Dias des betreffenden Projekts illustriert. In einem Fall wurden etwa 2–3 Dias von einer Heil- und Pflegeanstalt der Inneren Mission gezeigt. Gleichzeitig wurde zu einer Besichtigung der Anstalt eingeladen. Dabei wurde der gespendete Beitrag überbracht.« (29)
50) Diese Ausnahmen finden sich vor allem in den Modellen, die ich als »kulturoffen« zu beschreiben versucht habe – im Unterschied zu den »kulturnahen«, siehe Friedrichs 2007 (Anm. 1), 26 f. Siehe aber auch Bundschuh-Schramm (Hrsg.) 2003 (Anm. 1), 57.73.87 und 229.
51) So Grethlein 2003 (Anm. 1), 886 f.
52) Siehe exemplarisch Jost, Renate/Schweiger, Ulrike (Hrsg.): Feministische Impulse für den Gottesdienst, Stuttgart 1996; Lass spüren deine Kraft. Feministische Liturgie. Grundlagen – Argumente – Anregungen, Gütersloh 1997.
53) Siehe Daiber, Karl-Fritz: Integrative Gottesdienste. Pastoralsoziologische Einführung, in: Gottesdienstpraxis B., Gütersloh 2000, 9–18; zur Praxis siehe exemplarisch: Christliche Spiritualität gemeinsam leben und feiern. Praxisbuch zur inklusiven Arbeit in Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2007.
54) In: Friedrichs (Hrsg.) 2007 (Anm. 1), 140–148. Das theologisch Innovative kann hier im Gespräch mit den Theaterwissenschaften auch ästhetisch näher präzisiert werden als einen das eigene Selbstverständnis und liturgische Rollenverständnis flüssig haltenden »Auszug« der Kirche in den öffentlichen Raum.
55) Siehe grundlegend Richter, Klemens/Sternberg, Thomas (Hrsg.): Liturgiereform. Eine bleibende Aufgabe, Münster 2004.
56) Siehe dazu die Dissertation von Katharina Stork-Denker: Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst, Leipzig 2008; dies.: »Beteiligung?« Einsichten und Konsequenzen aus einem Schreibaufruf, in: Arbeitsstelle Gottesdienst 21 (3-2007), 68–74.
57) Bitter/Meyer-Blanck 2005 (Anm. 1), 20.
58) Bundschuh-Schramm 2003 (Anm. 1), 289.
59) Die katholische Liturgik ist hinsichtlich einer solchen theologischen Würdigung der Annäherung aus Distanz offener als die evangelische, siehe dazu: Spital, Hermann Josef: Abendlob im Trierer Dom, in: Kranemann, Benedikt/u. a. (Hrsg.): Die missionarische Dimension der Liturgie Band 2, Stuttgart 1999, 88–93.
60) Siehe dazu die kritische Analyse von Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998.