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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

88–90

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Hüffmeier, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit. The Church of Jesus Christ. The Contribution of the Reformation towards Ecumenical Dialogue on Church Unity. Im Auftrag des Exekutivausschusses für die Leuenberger Kirchengemeinschaft hrsg. – Ders.: Sakramente, Amt, Ordination. Sacraments, Ministry, Ordination.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lembeck 1995. 131 S. 8° = Leuenberger Texte, 1. DM 9,80. ISBN 3-87476-305-6.
Frankfurt/M.: Lembeck 1995. 122 S. 8° = Leuenberger Texte, 2. ISBN 3-87476-306-4.

Rezensent:

Lars Thunberg

Die Leuenberger Kirchengemeinschaft, die auf der Leuenberger Konkordie von 1993 aufgebaut ist, umfaßt lutherische, reformierte und unierte Kirchen in Europa, die sich auf eine Kanzel-, Sakraments- und Amtsgemeinschaft verpflichtet sehen. Die lutherischen Volkskirchen des Nordens haben aus kirchenrechtlichen Gründen nicht ohne Vorbehalte beitreten können, aber sie waren an den Lehrgesprächen von Anfang an aktiv beteiligt.

Inhalt des Heftes 1 der "Leuenberger Texte" ist ein ekklesiologischer Text, von einer Untergruppe ausgearbeitet, den sich die Vollversammlung der beteiligten Kirchen in Wien-Lainz im Mai 1994 zu eigen gemacht hat. Über die Kirche hatte die Leuenberger Konkordie sehr wenig zu sagen. Allenfalls kann man auf Paragraph 2 verweisen, wo CA VII vorausgesetzt ist. Dort wurde festgestellt, daß Übereinstimmung in "der rechten Lehre des Evangeliums" und in "der rechten Verwaltung der Sakramente" nicht nur notwendig, sondern auch ausreichend ist, und daß die Kirche allein auf Jesus Christus gegründet ist. Indessen war es ganz klar, daß eben die Ekklesiologie Gegenstand der weiteren Lehrgespräche sein müßte, in denen man zwar nicht über diese Definition hinausgehen, sie aber weiter interpretieren und er-klären müsse. Nützliche Distinktionen werden markiert: Man unterscheidet zwischen Grund, Gestalt und Bestimmung der Kirche. Grund ist das Handeln Gottes durch Christus, die Bestimmung ist, das Evangelium weiterzutragen. Die Gestalt der Kirche aber ist vielfältig, und hier offenbart sich natürlich eine große Schwierigkeit, weil die beteiligten Kirchen so verschiedene Kirchenkonstitutionen haben. Man betont, daß diese Vielfalt nicht unbegrenzt sein kann. Auf der anderen Seite wird klar gemacht, daß eben diese Unterscheidung zwischen Grund und Gestalt der Kirche an sich die Kirchengemeinschaft ermöglicht hat.

Eine andere wichtige Distinktion ist die zwischen den zwei "Redeweisen", nämlich zwischen Kirche als Gegenstand des Glaubens und Kirche als sichtbarer Gemeinschaft. Hier könnte man auf CA VIII verweisen, tut es aber nicht. Die Frage ist, in welcher Hinsicht auch die geglaubte Kirche sichtbar wird. In der reformierten Tradition zählen ja Kirchenzucht und Glaubensgehorsam zu den Kennzeichen der Kirchen, aber in der Konkordie bleiben sie unerwähnt. Auch bei Luther (in seiner Schrift "Von den Konziliis und Kirchen") sind weitere "Kennzeichen" gegeben. Unter der Überschrift "Identität und Relevanz" versucht der Text, sich diesen Fragen zu nähern. "Zeugnis und Dienst" markieren Identität und Relevanz, und darum schenkt man in den sogenannten drei "Tampere-Thesen" den Fragen von allgemeinem Priestertum, ordiniertem Amt und Leitungsdienst (episkopé), die hier zitiert werden, große Aufmerksamkeit. Als Konsequenz dieser Thesen wird im Text festgehalten, daß die Unterschiede zwischen den beteiligten Kirchen in dieser Hinsicht nicht den Grund, sondern (nur) die Gestalt der Kirche betreffen. Daß das ordinierte Amt doch von Christus selbst eingestiftet ist, wird betont, und nur das "Wer?" und das "Wie?" gehören zur legitimen Vielfalt. Wie sich die spätere anglikanisch-lutherische "Porvoo-Übereinkunft" dazu verhält, ist nicht ganz klar.

Im Text 2 dieser Leuenberger Reihe werden die erwähnten Tampere-Thesen noch einmal wiedergegeben. Sie stammen aus der Regionalgruppe "Kopenhagen" und werden mit den Thesen von Neuendettelsau (auch von 1986) konfrontiert, die von der Regionalgruppe "Südosteuropa" stammen. Es ist einleuchtend, daß die Wiener Vollversammlung die letztgenannten als "Basis und Hilfe" für kommende ökumenische Gespräche bezeichnete, während die Tampere-Thesen nur als "hilfreicher Impuls" zur Weiterarbeit entgegengenommen wurden.

Hier liegt ein Konflikt verborgen, der damit zu tun hat, daß im Norden Europas starke Volkskirchen mit episkopaler Struktur dominieren, während die meisten reformatorischen Kirchen im südlichen Europa eigentlich Minoritätskirchen sind, deren Kirchenstruktur immer gegen katholische Ansprüche verteidigt werden muß.

Die anderen Texte des zweiten Heftes betreffen Taufe und Abendmahl. Auch hier ist auffallend, daß man sich nicht über die Kompromißgrenzen hinaus bewegt, die von der Konkordie gezogen wurden. Andernfalls hätte man in den weiteren Lehrgesprächen die Gelegenheit wahrnehmen können, die in der Konkordie überwundenen konfessionellen Gegensätze als fruchtbaren Ausgangspunkt einer tieferen theologischen Durchdringung der legitimen Ansätze der Vergangenheit zu nutzen.

Den Text über Lehre und Praxis der Taufe hat sich die Wiener Vollversammlung zu eigen gemacht. Er stammt aus der Regionalgruppe "Südeuropa". Auch der Text über Lehre und Praxis des Abendmahls gehört zum Arbeitsgebiet dieser Regionalgruppe und wurde in Wien von der Vollversammlung angenommen.

Auf Einzelheiten beider Texte kann ich hier nicht eingehen. Generell möchte ich aber hervorheben, daß mindestens lutherischerseits eine Spannung besteht zwischen den zwei möglichen Positionen, entweder die Sakramente als sichtbare Verkündigung oder die Predigt als sakramentales Kerygma anzusehen, was aber nur schwach spürbar ist. Im Text über die Taufe werden zwei Paragraphen der Konkordie (13, 14) einleitend zitiert. Darin wird unterstrichen, daß Christus in Verkündigung, Taufe und Abendmahl anwesend und die Taufe unwiderruflich ist. Das gefühlsgeladene Verhältnis zwischen Taufe als persönlichem Initiationsritus und als Zeichen der Kirchenzugehörigkeit wird dort und in dem heutigen Text nur andeutungsweise behandelt. In der Regionalgruppe "Kopenhagen" war dieses Problem gravierender. Überhaupt wird die Situation der sich in einem radikalen Umstellungsprozeß befindenden reformatorischen Volkskirchen zu wenig bedacht. Die Taufe als Grundlage des allgemeinen Priestertums wird aber unterstrichen sowie die Frage der Zulassung zum Abendmahl, und es ist ein klarer Vorteil des Textes, daß man auf die Fragen von Taufaufschub, Ablehnung der Taufe und Darbringung und Segnung der Kinder (Fragen, die für die Freikirchen von fundamentaler Bedeutung sind) eingeht.

Im Text über das Abendmahl werden verschiedene Paragraphen der Konkordie als Grundlage zitiert und nicht positiv in Frage gestellt. Hier hätte z. B. die heikle Frage, inwieweit das Abendmahl nicht nur eine gemeinschaftsstärkende Mahlzeit in der Anwesenheit des Herrn, sondern auch ein auf die Welt hin gerichtetes Zeugnis des Glaubens ist, in das die Suchenden auch hineingenommen werden, mindestens andeutungsweise erörtert werden sollen. Auch diese Frage ist für die Volkskirchen aktueller als für die südeuropäischen Minoritätskirchen. In ihnen ist auch das Öffentlichkeitsprinzip des gottesdienstlichen Wesens von Bedeutung.

Grundelemente der eucharistischen Liturgie werden erwähnt, aber es ist auffallend, wie kurz und unpräzise die Liste ist, wenn man sie mit dem Limatext vergleicht. Zum Schluß muß man sich also fragen, ob nicht die privilegierte Position der Regionalgruppe "Südeuropa" es mit sich gebracht hat, daß die nordischen lutherischen Volkskirchen und andere, die sich in einer gleichen Situation befinden, sich eher der Porvoo-Position anschließen, auch wenn dies zur Folge hat, daß die Frage der apostolischen Sukzession, auch in einem eher technisch manifestierten Sinn, bewußter in den Vordergrund der Diskussion rückt. Und das nicht, um die reformatorischen Minoritätskirchen beiseite zu lassen, sondern um das Gewicht des gesamten reformatorischen Erbes in ganz Europa besser zum Ausdruck zu bringen. Das, was die Leuenberger Kirchen mit den Anglikanern gemeinsam haben, ein klares reformatorisches Fundament, ist nämlich ökumenisch und theologisch von größter Bedeutung in der heutigen ekklesio-politischen Lage.