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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1033–1044

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Johannes Wallmann

Titel/Untertitel:

Der Vater des Neuprotestantismus
Der Ertrag des Gedenkens zum 300-jährigen Todestag Philipp Jakob Speners

Wer in Berlin das etwas künstlich wiederaufgebaute Nikolaiviertel durchstreift, findet an den Osttürmen der Nikolaikirche Gedenktafeln für Paul Gerhardt und Johann Crüger, die in dieser neben der Marienkirche ältesten Kirche als Prediger und als Kantor wirkten, aber er sieht keine Gedenktafel für Philipp Jakob Spener, der von 1691 bis zu seinem Tod am 5. Februar 1705 Propst von Berlin und Pfarrer an der Nikolaikirche war. Wenige Kundige wissen, dass man über den niedrigen, schmalen Zaun klettern und über den Rasen an der Nordseite der Kirche entlanggehen muss, um an der Außenmauer des Chores in Stirnhöhe neben einigen verwitterten Grabplatten eine gusseiserne Tafel zu finden, die den Namen und die Geburts- und Todesdaten Speners festhält. Am unteren Rand die Jahreszahl 1835. Zu seinem 200. Geburtstag angebracht, Zeugnis für das älteste Spenerjubiläum.

An den 100. Todestag Speners 1805 war nirgendwo gedacht worden.1 Dass man des 200. Geburtstages in Berlin und daneben in Straßburg und seinem Geburtsort Rappoltsweiler mit feierlichen Gottesdiensten gedachte, ging auf die 1828 erschienene Spenerbiographie von Wilhelm Hoßbach zurück, der nach den Freiheitskriegen erstmals die Öffentlichkeit auf den in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg in einer ähnlichen Wiederaufbauzeit wirkenden Reformer der evangelischen Kirche aufmerksam machen wollte. Der mit Schleiermacher befreundete Hoßbach hatte bereits nach dem Ende der Befreiungskriege eine Biographie von Johann Valentin Andreä geschrieben, weil er es für notwendig hielt, einer so wunderbar bewegten Zeit wie der gegenwärtigen »an einem großen geschichtlichen Bild zu zeigen, auf welchen Punkt sie vornehmlich die neu erwachte und drängende Kraft zu richten hat.« 2 Nach seiner Andreäbiographie, die in der DDR noch einmal nachgedruckt worden ist,3 machte sich Hoßbach an die umfassendere Arbeit einer Spenerbiographie, in deren Vorwort er schrieb: »Be­sonders aber ist die gegenwärtige Zeit in gar vielen Beziehungen derjenigen, in welcher Spener lebte und wirkte, so ähnlich, ... daß man sich fast wundern muß, wie noch niemand mit einer historischen Darstellung der damaligen theologischen und kirchlichen Verhältnisse unserer Zeit einen Spiegel gegeben hat, in welchem sie sich selber beschauen kann«. 4 Als nach Hoßbachs frühem Tod eine zweite Auflage veranstaltet wurde, schrieb der Herausgeber: »Es ist nicht ohne Bedeutung, daß ein so inniger Freund und Geistesgenosse Schleiermachers, wie Hoßbach war, zuerst und mit so güns­tigem Erfolge ein Bild Speners und seiner Zeit aufgestellet hat«.5 Wilhelm Hoßbach (1784–1846) gehörte in Berlin zu Schleiermachers engstem Freundeskreis, war Pfarrer an der Neuen Kirche am Gendarmenmarkt und hielt 1835 die Trauerrede am Grab Wilhelm von Humboldts.6 Von einem warmen Gefühl für den Pietismus erfüllt, sah er in Spener einen Vorgänger Schleiermachers, über den sein Sohn Theodor, ein Protagonist des Protestantenvereins, später eine Biographie schrieb. Doch es erhob sich keine an Schleier­macher anschließende allgemeine Erneuerungsbewegung in der evangelischen Kirche, sondern eine ihn zur Aufklärung rechnende Reaktion, »an welcher der Pietismus, aber in seiner späteren Gestalt als eine einseitige Richtung und Partei in der evangelischen Kirche, wesentlichen Antheil hat«, wie es im Anhang zur Zweitauflage von Hoßbachs Spenerbuch heißt.7 Natürlich zeigte sich außerhalb der liberalen Theologie wenig Interesse an einem Vorgänger Schleiermachers. Erst allmählich ist innerhalb der Erweckungsbewegung das Interesse an Spener erwacht und er als Begründer des Pietismus wieder zu den hohen Ehren emporgestiegen, in denen ihn der hallische und der württembergische Pietismus und die Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jh. gehalten hatten. Im konfessionellen Lu­thertum blieb man weithin in Distanz zu Spener.

Den Ertrag des 200. Todestages 1905 hat Paul Grünberg, der durch ein von der Straßburger Theologischen Fakultät beim ersten Spenerjubiläum ausgesetztes Preisausschreiben zu seiner ersten Beschäftigung mit Spener veranlasst wurde, in seiner mit enormem Fleiß zusammengetragenen dreibändigen Spenermono­graphie eingehend dargestellt.8 Ähnlich wie Hoßbach würdigte Grünberg Spener nicht als den Begründer des Pietismus, sondern rühmte ihn in einer ganzen Reihe von Punkten als bedeutenden Re­former des kirchlichen Lebens. Doch konnte er nicht daran vorbeigehen, dass Spener inzwischen von erheblichen Teilen der theologischen Wissenschaft als Begründer des Pietismus angesehen wurde. Absicht seines großen Spenerwerks war eine doppelte: Ne­ben der Zurückweisung des scharfen Urteils Albrecht Ritschls über den Pietismus lag ihm daran, »das traditionelle und in mancher Beziehung zu günstige Urteil über Spener einer gründlichen Revision zu unterziehen«. 9

Den 250. Geburtstag Speners 1985 beging die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus mit einer Internationalen Tagung in Berlin-Weißensee, neben der auch auf verschiedenen kleineren Tagungen Speners gedacht wurde.10 Martin Brecht würdigte in seinem Tagungsbeitrag, »daß Spener der eigentliche Be­gründer des lutherischen Pietismus war, der wichtigsten evange­lischen Reformbewegung nach der Reformation in Deutschland«.11 Die Rede von Spener als dem Begründer des Pietismus hat Brecht seitdem nicht wiederholt. Sie ist in der Pietismuskommission in­zwischen in Abgang gekommen, nachdem diese eine vierbändige »Geschichte des Pietismus« herausgegeben hat, in der Spener bruchlos in die Geschichte einer von Johann Arndt im frühen 17. Jh. begründeten Frömmigkeitsbewegung eingereiht und nur noch als eine zentrale Gestalt dieser Frömmigkeitsbewegung im letzten Drittel des Jahrhunderts angesehen und Schleiermacher übrigens aus dem erweiterten Pietismusbegriff ausgeschlossen wird. Außerdem ist die als Flaggschiff der Kommission geplante und lange Jahre mit großem Einsatz kirchlicher Mittel geförderte große wissenschaftliche Ausgabe der Werke Speners gescheitert (nicht zuletzt dadurch, dass ihr Erich Beyreuther durch eine um­fangreiche Reprintausgabe im Olms Verlag Hildesheim zuvorkam). Es verwundert deshalb nicht, dass Initiator und Hauptveranstalter des zentralen Gedenkens zum Spenerjubiläum von 2005 nicht die Pietismuskommission, sondern wieder, wie bei den Jubiläen der letzten beiden Jahrhunderte, eine Theologische Fakultät gewesen ist, diesmal nicht wie 1905 die Theologische Fakultät Straßburg, aus der der junge Spener hervorging, sondern die Theologische Fakultät von Berlin, der Stadt seines letzten Wirkens.

Von dieser Tagung wird unter I. berichtet. Auch die Straßburger Theologen haben 2005 auf einem Symposion Speners ge­dacht, wo­rauf unter II. hingewiesen wird. Über die in den Franckeschen Stiftungen Halle gezeigte Ausstellung zum Spenerjubiläum, aus der ein bemerkenswerter Katalog hervorgegangen ist, soll un­ter III. berichtet werden. Ausstellungen und Ausstellungskataloge, Ta­gun­gen und Gedenkfeiern, Aufsätze und Broschüren sind die Medien, die ein Jubiläumsjahr hervorbringt und die, wenn sie ge­druckt vorliegen, die Erinnerung an den Jubilar pflegen und wei­terentwickeln. Es waren zu viele, als dass sie alle erfasst und er­wähnt werden könnten. Insbesondere muss auf die Nennung von Spenerartikeln in den regionalen Kirchenzeitungen verzichtet werden. Unter IV. sollen einige literarische Erträge, die nicht im Zusammenhang mit den genannten Tagungen oder Ausstellungen stehen, aber im Jahr des Spenerjubiläums erschienen sind, er­wähnt werden. Bei Veröffentlichungen, die eine eigene Rezension erhalten werden, begnüge ich mich mit der einfachen Nennung des Titels.

I.


Von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin wurde in Verbindung mit der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und der Akademie der Berlin-Brandenburgischen Kirche aus Anlass des 300. Todestages ein wissenschaftliches Symposium unter dem Motto »Philipp Jakob Spener – Begründer des Pietismus und protestantischer Kirchenvater« veranstaltet, das am 4. und 5. Februar 2005 in den Räumen der Akademie in der Berliner Friedrichstadtkirche stattfand. Die von der Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg geplante und organisierte Ta­gung schloss am Todestag Speners ab mit einem abendlichen Konzert in der Nikolaikirche, in dem selten gehörte Lieder von Spener und seinem unmittelbaren Freundeskreis von der Lautten Compagney gesungen und auf historischen Instrumenten dargebracht wurden. Am folgenden Tag fand, wiederum in der Nikolaikirche, ein Gottesdienst statt, an dem leitende Geistliche der vier Wirkungsregionen Speners beteiligt waren: Marc Lienhard, früher Kirchenpräsident der elsässischen Kirche, Kirchenpräsident Peter Steinacker aus Hessen-Nassau, Bischof Jochen Bohl aus Sachsen und Bischof Wolfgang Huber aus Berlin-Brandenburg. Die wissenschaftlichen Beiträge des Symposiums, die jetzt vorliegen, können als der Hauptertrag des Jubiläumsjahres angesehen werden.12

Vier Referate über die vier Regionen oder Orte von Speners Wirken – Elsass, Frankfurt am Main, Dresden und Berlin – stehen am Anfang. Marc Lienhard, »Spener und das Elsaß« (17–34), wendet sich, da die Jugend- und Studienzeit Speners im Elsass hinreichend erforscht ist, den Beziehungen Speners zum Elsass nach seinem Fortgang von Straßburg nach Frankfurt zu, außerdem seinem Fortwirken im Elsass nach seinem Tod. Dafür werden die bisher erschienenen Bände der neuen Ausgabe der Frankfurter und der Dresdner Briefe Speners sorgsam auf seine Beziehungen in erster Linie zur Straßburger Universität, daneben zu elsässischen Verwandten und Bekannten durchgesehen. Besonders das Verhältnis des Frankfurter Seniors zu den Straßburger Theologen Sebastian Schmidt und Balthasar Bebel wird nach seinen Briefen dargestellt. Ergänzend werden, etwa zu Speners Haltung zur Besetzung Straßburgs 1681 durch Ludwig XIV., die gedruckten Spenerschen Briefsammlungen herangezogen. Was das Fortwirken im Elsass betrifft, war es im 18. Jh. gering, während sich die Straßburger Fakultät in­tensiv mit Zinzendorf auseinandersetzte. Im frühen 19. Jh. erwachte unter dem Eindruck des Spenerbuchs von Hoßbach im Elsass erstmals das Gedenken an ihn, und man enthüllte 1835 in Rappoltsweiler (Ribeauvillé) eine Gedenktafel. Die Straßburger Fakultät schrieb einen Preis für eine wissenschaftliche Abhandlung über Spener aus, eben jene, die dem jungen Paul Grünberg den Anstoß zu seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Leben und Werk Speners gab. Die pietistisch gefärbte elsässische Erweckungsbewegung dagegen zeigte kein besonderes Interesse an Spener. Dass eine Spener-Statue am Giebel des in den 80er Jahren des 19. Jh.s errichteten Universitätsgebäudes neben Schleiermacher und Lessing ge­stellt wurde, zeigt, dass er als bedeutender Theologe, nicht als Be­gründer des Pietismus verehrt wurde.

Andreas Deppermann behandelt unter dem Titel »Spener, Jo­hann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus in Frankfurt am Main« (35–52) die 20-jährige Amtszeit in Frankfurt, die eigentliche Geburtsstunde des Spenerschen Pietismus. Erst die neuere Spenerforschung hat ans Licht gebracht, was früher nur in Ansätzen erkannt wurde, weil Spener selbst in seinen für die pietistische Historiographie maßgebenden Rückblicken davon kaum gesprochen hat: In den Anfängen des Pietismus muss neben Spener ein zweiter Mann genannt werden, nämlich der Jurist Johann Jakob Schütz (1640–1690), durch den Spener die Anregung für das 1670 gegründete Collegium pietatis bekommen hat und der sich später mit einem Kreis seiner Freunde von der Kirche trennte und zum Begründer des radikalen, separatistischen Pietismus wurde. Deppermann, der den umfangreichen handschriftlichen Nachlass von Schütz in der Senckenbergschen Bibliothek in Frankfurt am Main ausgewertet hat, gründet seine Darstellung auf sein bereits vorliegendes Buch, das neben dem Spenerbuch von Wallmann hinfort als grundlegend für unsere Kenntnis der Anfänge des Pietismus zu gelten hat. 13 In der durch das Lesen der Bibel nach der Anleitung des Mystikers Johann Tauler ausgelösten Erweckung von Schütz sieht Deppermann die Anfänge des Frankfurter Pietismus, der zur Bildung frommer Gemeinschaften führte. In der chiliastischen Zu­kunftshoffnung kam Schütz Spener einige Jahre zuvor. In einem reichen, bis zu William Penn und den Quäkern in Nordamerika reichenden Netz von Beziehungen zeigt sich ein erstaunlich buntes und weites Bild, das auf die bisher weithin im Dunkeln liegenden Anfänge des Pietismus ganz neues Licht wirft.

»Spener in Kursachsen« (53–69), unter diesem Titel wird von Günter Wartenberg die fünfjährige Zeit Speners als kursächsischer Oberhofprediger in Dresden, auf der damals höchsten geistlichen Stelle im protestantischen Deutschland, behandelt, für die erst die Briefe der ersten anderthalb Jahre ediert sind. Wartenberg be­schreibt kundig die Situation in Kursachsen und den Territorien der Nebenlinien in Merseburg, Zeitz und Weißenfels nach 1648, wendet sich dann der Berufung Speners nach Dresden zu, informiert über Speners Wirken in Dresden, wo dieser kein Collegium pietatis gründete, sondern sich der katechetischen Unterweisung und der Ausbildung der Theologen zuwandte, während er die Tä­tigkeit im Oberkonsistorium nicht liebte. Wartenberg zieht am Ende die Bilanz, dass die fünfjährige Tätigkeit Speners, wenn sie auch verglichen mit seiner späteren Wirksamkeit in Berlin erfolglos blieb, doch nicht unterschätzt werden darf. Der Hinweis, dass die Wirkungen Speners am kursächsischen Hof noch wenig er­forscht sind, sollte als Anregung verstanden werden, der Hauptquelle für Speners damalige Zeit, dem in Leipzig liegenden Briefwechsel Speners mit Adam Rechenberg, Aufmerksamkeit zu schenken. Er sollte wie der Briefwechsel Spener-Francke in die Edition der Briefe Speners aufgenommen werden.

Der Berliner Historiker Gerd Heinrich widmet unter der Überschrift »Spener in Berlin und Brandenburg. Pietismus und Staatsgesellschaft unter dem ersten König in Preußen« (71–87) dem historischen Umfeld, der Dynastie und der höfischen Welt, in der Spener in Berlin wirkte, besondere Aufmerksamkeit. Während man üblicherweise der Regierungszeit Friedrich I. keine besondere Bedeutung beimisst gegenüber der für das Verhältnis von Preußentum und Pietismus entscheidenden Zeit seines 1713 auf den Thron kommenden Sohnes, zeigt Heinrich, dass die Jahrzehnte vor dem Regierungsantritt des Soldatenkönigs, in die Speners Wirken fällt, eine nicht unwichtige Übergangszeit beginnender Toleranz sind. Speners Einfluss spielte in diesen für Preußen wichtigen Jahren eine maßgebliche Rolle. Heinrich kritisiert das ältere, von Carl Hinrichs gemalte – und zuweilen noch bei Kirchenhistorikern anzutreffende – Bild eines typologischen Gegensatzes zwischen dem weltzu­gewandten Tatmenschen Francke und dem weltfernen Mystiker Spener als unzutreffend, ihm fehle das geschichtliche Verständnis für die 90er Jahren (a. a. O., 84). Heinrich spricht von dem »politischen Spener«, der hinter Francke stand und nicht nur als Korres­pondenzvater, sondern durch seine Unangreifbarkeit, seine Hofnähe und sein Zusammenwirken mit den Geheimen Räten Fran­ckes Wirken abschirmte und ihm den Raum für eine gedeihliche Tätigkeit in Halle erst ermöglichte.

Eine vorzügliche Ergänzung für die Berliner Zeit ist der Beitrag von Udo Sträter: »Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke« (89–104). Die gerade im Erscheinen begriffene Edition des Briefwechsels zwischen Spener und Franke auswertend14 korrigiert Sträter das herkömmliche Bild, dass Spener unmittelbar nach seiner Ankunft in Berlin die theologische Fakultät der neugegründeten Universität Halle mit seinen pietistischen Freunden Francke und Breithaupt zu einer Bastion des Pietismus ausbauen konnte. So richtig das ex eventu erscheint – in der Anfangszeit wollten die reformierten Hofgeistlichen und Minister keine Bastion des Pietismus schaffen, sondern als Gegengewicht gegen das kursächsische Luthertum Wittenbergs und Leipzigs eine friedfertige, zur konfessionellen Toleranz fähige Universität nach dem Muster der synkretistischen Universität Helmstedt, weshalb sie zu Professoren Gelehrte wie Christian Thomasius und den aus Jena kommenden Johann Wilhelm Baier beriefen, der nach kurzer Zeit Halle wieder verließ, weil dort die Konkordienformel nicht gelten sollte. Die Berufung von Breithaupt auf eine theologische Professur lässt sich nach Sträter eher durch seine Helmstedter Herkunft als durch seine Nähe zu Spener erklären. Auch Francke war in seinen frühen Jahren noch kein Pietist Spenerscher Prägung, sondern verfolgte in seiner Gemeinde eine rigorose Kirchenzucht, die eher puritanisch als pietistisch genannt werden kann. Theologisch kam es wegen Franckes chiliastischer Anschauungen und seines Eintretens für die geistbegabten Enthusiasten der 90er Jahre zu scharfen, fast zum Bruch führenden Spannungen mit Spener. Der in den 90er Jahren, in denen die Existenz des halleschen Pietismus auf dem Spiele stand und Francke zeitweilig nach Calbe versetzt werden sollte, phasenweise sehr dichte Briefwechsel zeigt, dass Spener Erhebliches aufbieten musst, um in geduldiger, mühsamer Einflussnahme Francke zu bewegen, »strategisch zu denken und auf dem politischen Klavier zu spielen«.

So verschieden die Beiträge für die Wirkungsregionen Speners ausfallen, teils die Person und das Wirken Speners, teils seine Freunde und sein Umfeld betreffend, so bereichernd sind sie doch für unser bisheriges Bild. Das gilt auch für die übrigen Beiträge des Symposiums, die sich nicht an den Lebensphasen, sondern an verschiedenen Relationen orientieren. Nimmt der Beitrag von Sträter ein Detail des Verhältnisses von Spener und August Hermann Francke zum Gegenstand einer genauen Untersuchung, so be­leuchtet Dietrich Meyers Beitrag »Spener, Graf Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine« (105–122) sein Thema umfassend ohne Beschränkung auf eine bestimmte Zeit. Zinzendorfs Nähe zu Spener und seine durchgehende Berufung auf ihn – vor allem hinsichtlich des ecclesiola-Gedankens – wie seine gelegentliche Kritik an dessen scholastischer Lehrweise werden hervorgehoben. Dass Zinzendorf Speners Patenkind war, wie der Graf gern behauptete, war ein Wunschbild, das von den Quellen widerlegt wird. Zinzendorf und noch mehr die Brüdergemeine beriefen sich, je mehr die Herrnhuter sich vom späteren halleschen Pietismus distanzierten, auf Spener als das Maß eines gesunden Pietismus.

Zwei Beiträge verfolgen die Wirkungsgeschichte Speners in außerdeutschen Regionen. Pentti Laasonen (Helsinki), der in der »Geschichte des Pietismus« den Pietismus in Finnland dargestellt hat, erweitert den Gesichtskreis und stellt, spezifiziert auf »Spener und die Nordischen Länder« (123–133), die Wirkungsgeschichte in Skandinavien dar, wo Schriften von Spener in Übersetzungen er­schienen. Carter Lindberg (Boston) geht in seinem Beitrag »Spener and North America« (135–158), dem umfangreichsten des Bandes, den bisher kaum erforschten Wirkungen Speners in Nordamerika von den Anfängen bis zur Gegenwart nach, sucht nach Übersetzungen Spenerscher Schriften oder nach ihn erwähnenden Werken. Dass es 1900 eine Übersetzung der Pia Desideria ins Norwegische durch eine norwegische lutherische Synode der USA gegeben hat, ist wirklich eine Überraschung. Die Spenerforschung hatte davon bisher keine Kenntnis.

Martin Brecht erörtert das schon häufig verhandelte Thema »Speners Verhältnis zu Martin Luther« (187–204). Er nennt zunächst diejenigen, die sich zuvor mit dieser Frage beschäftigt haben (Martin Schmidt, Johannes Wallmann u. a.), erwähnt aber mit keinem Wort Kurt Aland, der in der Festschrift für ihn selbst am ausführlichsten zum Thema das Wort ergriffen hat. Brecht beschränkt sich dann darauf, Speners überwiegend positive Berufungen auf Luther als den Reformator der kirchlichen Lehre gegenüber Rom darzustellen, und berührt die Punkte, wo Spener sich für seine pietistischen Neuerungen auf Luthers bezieht, nicht oder nur am Rande. So bleibt die Bedeutung von Luthers Vorrede zur deutschen Messe für den Begriff der ecclesiola in ecclesia unerwähnt. Der Widerspruch in der Eschatologie wird nur beiläufig genannt. Das Thema »Spener und Luther«, von Brecht als komplex bezeichnet, lässt also Platz für weitere Untersuchungen, die an diese das gesamte Schrifttum Speners auswertende Darstellung anschließen können.

Von Christian Bunners stammt der Beitrag »Philipp Jakob Spener und die Kirchenmusik« (241–265). Während Bunners in Band 4 der »Geschichte des Pietismus« zum Thema Kirchenmusik Spener nur kurz behandelt hat, werden jetzt die von Paul Grünberg zu­sammengestellten Äußerungen Speners dazu, besonders zum Geist­lichen Lied, sorgsam und mit breiten Quellenbelegen zusammengestellt. Ergänzend könnte die aus der neuen Briefausgabe be­kannt­gewordene distanzierte Haltung zur Kirchenmusik erwähnt werden, die Spener gelegentlich der kurzfristigen Anstellung von Johann Philipp Krieger in Frankfurt am Main zu erkennen gegeben hat. 15

Zwei Beiträge fallen aus der üblichen Betrachtung, nach der Spener mit dem Pietismus in Verbindung gebracht wird, heraus. Albrecht Beutel setzt »Spener und die Aufklärung« (205–226) in Beziehung. Auch wenn Spener zu Recht »Vater des Pietismus« ge­nannt werde, sei er doch auch eine »Brücke zur Aufklärung«. An Emanuel Hirsch anschließend, auf den Spener »fast wie ein moderner Mensch« wirkte, arbeitet Beutel vor allem in einem Vergleich mit Johann Joachim Spalding die in der Forschung seit Ritschl wiederholt gesehenen, aber nie in Zusammenhang gebrachten aufklärerischen Züge bei Spener (Perfektibilitätsgedanke, Zukunftshoffnung etc.) heraus. »Zusammen mit Spalding gehört er zu den klassischen Gründerfiguren neuzeitlicher Theologie« (226).

Wilhelm Gräb geht es in seinem Beitrag »Spener und der Neuprotestantismus« (227–240) weniger um eine Zuordnung Speners zum Neuprotestantismus als um das Urteil des Neuprotestantis­mus über Spener. Dafür geht er den Äußerungen von Ernst Troeltsch nach, für den Spener noch zum Altprotestantismus ge­hört, aber mit seinem Eintreten für Toleranz und Glaubensfreiheit – nicht so sehr mit seiner innergeschichtlichen Zukunftshoffnung, die der Neuprotestantismus nicht gesehen hat – neben Leibniz den Weg aus der mittelalterlichen Kultur am entschiedensten eingeschlagen hat.

Am Anfang des Bandes steht der für eine breitere Öffentlichkeit bestimmte Abendvortrag »Philipp Jakob Spener – Leben, Werk, Be­deutung« (1–16), den Martin Friedrich am ersten Tag des Symposiums in der Nikolaikirche hielt. Als einziger Beiträger des Sym­posiums nimmt Friedrich ausführlicher zu der in der Pietismusforschung seit einiger Zeit strittigen Frage nach der Bedeutung Speners Stellung. Deutliche Kritik an der mit Johann Arndt beginnenden neuen »Geschichte des Pietismus« übend urteilt er: »Wenn der Pietismus eine Reformbewegung ist und nicht bloß eine Frömmigkeitsrichtung ... dann beginnt der Pietismus mit Philipp Jakob Spener« (4). Andererseits will Friedrich Speners Bedeutung nicht auf den Pietismus beschränken, sondern das Wort vom »Vater des Neuprotestantismus« unterstreichen, das von kirchengeschichtlicher Seite gelegentlich einmal ausgesprochen wurde. 16

Vielleicht kann man es als einen Gewinn des Berliner Spenersymposiums bezeichnen, dass das gewählte Motto »Philipp Jakob Spener – Begründer des Pietismus und protestantischer Kirchenvater« sich gerade in dieser Doppelung bewährt hat. Dass Spener neben seiner Bedeutung als Begründer des Pietismus auch in seiner Bedeutung für den gesamten Protestantismus gewürdigt werden muss, hatte Emanuel Hirsch, in dessen Theologiegeschichte Spener eine hervorragende Rolle spielt, überzeugend herausgestellt, wenn er am Ende seiner Analyse der Grundlegung der pietistischen Theologie durch Spener das Fazit zog, »daß er auf jeden Fall für das deutsche evangelische Christentum der ist, in dem sich die Wende von der altprotestantischen zur neuprotestantischen Epoche vollzieht«. 17 So ist es kein Zufall, dass es eben gerade die liberale Theologie war, die Spener im 19. Jh. wiederentdeckt hat. Indem das Berliner Symposium auch dieser Spur nachgegangen ist, hat es einen wichtigen Beitrag ebenso zur Pietismusforschung wie zur Ge­schichte der protestantischen Theologie überhaupt geleistet.

II.


Reich ist der literarische Ertrag des Jubiläumsjahres auch in Frankreich, wo die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Straßburg am 9. März 2005 ebenfalls ein Spenersymposion abgehalten hat. Das ist insofern nicht erstaunlich, als nicht nur Spener selbst, sondern auch die wissenschaftliche Erforschung von Leben und Werk Speners im Elsass ihre Heimat hat. Ruht doch die Spenerforschung bis heute auf dem in jahrzehntelangen Forschungen ge­radezu monoman den Spuren Speners nachgehenden Werk eines schon genannten elsässischen Theologen, des in Brieg/Schlesien ge­borenen, zunächst im elsässischen Alteckendorf, seit 1891 in Straßburg wirkenden Pfarrers Paul Grünberg, dessen dreibändige Monographie »Philipp Jakob Spener« (Göttingen 1893–1906, Neudruck 1988) durch die aus immenser Sammelleidenschaft zusam­mengetragenen Listen, zunächst zu den Werken Speners selbst, die bei Grünberg 344 Nummern zählen, sodann zu der vom Anfang des 17. Jh.s bis zum Jubiläumsjahr 1905 reichenden Spener betreffenden Literatur, noch heute unentbehrlich ist. Der umfangreichs­te Beitrag zum Symposion ist Marc Lienhards Forschungsbericht »Spener et le Piétisme d’après les recherches récentes« 18. Lienhard stellt in den Mittelpunkt einen sehr sorgsamen Überblick über die Punkte in der Biographie Speners, an denen das Buch von Johannes Wallmann »Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus« über Grünberg und die bisherige Forschung hinausgeht – ein Vergleich, wie es ihn sonst nicht gibt. Neben einer beträchtlichen Reihe von Einzelheiten (Schulbesuch in Colmar, Studienbeginn in Straßburg, Studium in Basel, Berufung nach Frankfurt usw.) weist Lienhard besonders darauf hin, dass im Unterschied zu Grünberg, der die negativen Seiten an Speners Charakter (seine Ängstlichkeit, Zögerlichkeit) hervorhob, um dem seiner Meinung nach zu günstigen Urteil über Spener in der Forschung entgegenzuwirken, 19 womit er in der deutschen Forschung bis in jüngste Zeit Nachfolger ge­funden hat, Wallmann das Urteil der Zeitgenossen, die in ihm einen zweiten Luther sahen, hervorhebt und ein positiveres Bild von seinem Charakter zeichnet.20 Vorangestellt hat Lienhard diesem Bericht über den Ertrag der neueren deutschen Spener­for­schung einen Abschnitt, in dem er über die umstrittene Definition des Begriffs Pietismus berichtet, sei es, dass der Begriff vor allem in Frankreich von germanistischer Seite als unpräzise und unnütz abgelehnt wird, sei es, dass er über den üblichen Sinn ausgeweitet wird auf eine bis in die Gegenwart reichende Bewegung, wie es die neue »Geschichte des Pietismus« tut, oder dass er als typologischer Begriff für eine jederzeit zu findende Frömmigkeit aufgefasst wird, wie es bei Peter Schicketanz geschieht. Lienhard informiert über die zwischen Hartmut Lehmann, der für einen weiten Pietismusbegriff votiert, und Johannes Wallmann, der den herkömmlich in der Forschung gebrauchten Begriff bevorzugt, in jüngster Zeit geführte Debatte, nicht ohne anzumerken, dass die neue »Geschichte des Pietismus« konzeptionell dem weiten Begriff folgt, die einzelnen Beiträge aber in der Mehrzahl beim engeren Begriff bleiben.

Weitere Studien Lienhards gelten der Rezeption Speners nach seinem Tod im Elsass21 und der Aufnahme Spenerscher Predigten bei Oberlin, die anhand eines aus dem Besitz Oberlins stammenden und mit Bemerkungen und Unterstreichungen versehenen Spenerschen Predigtbandes gründlich untersucht wird.22

Matthieu Arnold beschäftigt sich, angeregt durch Ute Men­necke-Hausteins Untersuchung über die Trostbriefe Luthers, mit den Trostbriefen Speners.23 Forschungsgeschichtlich ist dieser Beitrag interessant, weil hier zum ersten Mal die neue Ausgabe der Briefe Speners, und zwar die ersten drei Bänden der Frankfurter Briefe und der erste Band der Dresdner Briefe, als Quelle herangezogen werden, um die Briefe aus zwei verschiedenen Lebensphasen miteinander und mit den Trostbriefen Luthers zu vergleichen. Arnold ordnet die Trostbriefe Speners wie diejenigen Luthers in vier Gruppen: 1. Vorbereitung auf den nahen Tod. 2. Kondolenz bei einem Todesfall. 3. Trost in körperlichen Leiden. 4. Trost in geistigen Anfechtungen. Dabei werden einige Briefe gründlich untersucht, andere nur summarisch genannt. Der Vergleich zwischen den beiden Lebensphasen Speners wie der weithin Kontinuität, aber auch Differenzen feststellende Vergleich mit den Trostbriefen Luthers schlägt methodisch neue Wege in der Spenerforschung ein, die Interesse auch in der deutschen Forschung verdienen.

Matthäus Wassermann untersucht Speners Verständnis der Theologie, seine Kritik am Studium der Theologie und die Vorschläge zu seiner Reform nach den Pia Desideria, den in den Theologischen Bedenken gedruckten Ratschlägen zum Theologiestudium und den Überlegungen zur Reform des Theologiestudiums in De impedimentis studii theologici von 1690, wobei er sich hauptsächlich an Grünberg und Martin Brecht orientiert.24

Gustave Koch betrachtet das Pfarrerbild von Speners wenig bekanntem Schwager Johann Ulrich Wild auf Grund dessen Esslinger Antrittspredigt von 1677,25 konnte aber leider noch nicht die in Band 1 der Dresdner Briefe greifbare Korrespondenz zwischen Spener und Wild benutzen.

III.


Großen Zulauf fand die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen »Hoffnung besserer Zeiten. Philipp Jakob Spener und die Geschichte des Pietismus« in Halle, die im Zusammenwirken mit dem Interdisziplinären Institut für Pietismusforschung an der Martin-Luther-Universität veranstaltet wurde.26 Der mit zahlreichen Abbildungen versehene Katalog hat neben dem Berliner Symposium den wohl wichtigsten Beitrag zum Spenerjubiläum geleis­tet. Er enthält außer einem Kapitel über Spener von Wallmann Kapitel über die Geschichte des Pietismus im weiteren Sinn, über Francke, Zinzendorf und den württembergischen Pietismus, aber auch solche über die Mission, die Erweckungsbewegung und den Neupietismus bis zur Gegenwart. Die Ausstellung hatte besondere Bedeutung wegen selten zu sehender Kunstwerke aus Speners Zeit. Aus dem Historischen Museum in Frankfurt am Main war eine Reproduktion des Altarbildes von Matthäus Merian d. J. aus der Frankfurter Barfüßerkirche entliehen mit der von Spener in mehreren Predigten wegen calvinistischer Auffassung kritisierten Szene der Auferstehung Christi (Katalog 1.3.5). Aus Bad Homburg waren Porträts des Spenerfreundes Johann Jakob Schütz (1.3.16) und seiner Gemahlin zu sehen (das Bild der Spenerfreundin und langjährigen Korrespondentin Elisabeth Kißner hatte die Marienkirche zu Berlin im Spenerjubiläum aus Frankfurt für eine kleine Präsentation entliehen). Höhepunkt der Ausstellung, im Katalog im Kapitel »Der Einfluß des Pietismus auf Architektur und bildende Künste« von dem Breslauer Kunsthistoriker Jan Harasimovicz kundig behandelt, war der Zyklus von 80 (ursprünglich 83) Bildern aus der Frankfurter Katharinenkirche, die 1680 zu Speners Zeit bei der Restaurierung und Umgestaltung des mittelalterlichen, geosteten Baus zu einer zentralen Predigtkirche an den Brüstungen der zwei Emporen an der der Kanzel gegenüberliegenden Längsseite angebracht worden waren und von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs glücklicherweise verschont geblieben sind (heute sind in der nicht als Zentralbau wiederaufgebauten Katharinenkirche nur einige Bilder an der Brüstung der Orgelempore zu sehen, die übrigen sind magaziniert). Die untere Reihe des Zyklus stellt alttestamentliche Szenen nach der bebilderten Bibel von Matthäus Me­rian dar. Vorbilder für die obere Reihe sind Emb­leme aus der Rigaer Ausgabe von Arndts Wahrem Christentum von 1678–79, der ersten von dem Spenerfreund Johann Fischer mit Bildern versehenen Ausgabe des bekannten Erbauungsbuches, die Allegorien fußen auf dem Geistlichen Danckaltar des Rostocker Theologen Heinrich Müller, erschienen Frankfurt am Main 1670. Spener selbst ist unter den alttestamentlichen Szenen als Prophet Hosea (7.1.23), Heinrich Müller als Prophet Zephania (7.1.31) dargestellt. Der Katalog enthält ein vollständiges Verzeichnis der Bilder und dazu zahlreiche Abbildungen. Wie man hört, werden sich Kunsthistoriker mit diesen nur für kurze Zeit gezeigten Bildern, dem wohl um­fangreichsten biblischen Bilderzyklus aus der kirchlichen Kunst des 17. Jh.s, noch eingehend beschäftigen.

IV.


Ein interessanter Beitrag zum Jubiläumsjahr aus außertheologischer Perspektive liegt vor in dem Aufsatz von Ludwig Biewer: »Philipp Jakob Spener als Heraldiker«27. Biewer, führender deutscher Heraldiker und Leiter des Politischen Archivs des Auswär­tigen Amtes, stellt mit Befriedigung fest, dass in die Klage, die anlässlich des 200. Todestages und des 350. Geburtstages Speners erhoben wurde, dass dessen bedeutendes Wirken als Heraldiker und Genealoge verschwiegen werde, in diesem Jahr nicht eingestimmt zu werden brauche, da nun auch auf diese Seite des Theologen, wenn auch nur am Rande, verwiesen werde. Fachkundig be­spricht und erläutert Bie­wer Speners heraldische Werke, vor allem das monumentale »Opus heraldicum«. Besonders hebt er hervor, dass Spener in heraldischen Dingen Berater von Kurfürst Friedrich III./König Friedrich I. war, für welche Tätigkeit ihm eine besondere Pension von 300 Talern im Jahr zugesagt wurde. So war Spener maßgeblich an der Gestaltung des königlichen preußischen Wappens von 1701 beteiligt, was leider in der Ausstellung und in dem Katalog zur Ausstellung des Geheimen Staatsarchivs »Via Regia. Preußens Weg zur Krone« (1998) nicht erwähnt worden sei. An der vom König gegründeten Ritterakademie, die in Speners Todesjahr 1705 entstand, aber kurz nach dem Regierungsantritt von Friedrich Wilhelm I. 1713 wieder aufgelöst wurde, war auch ein Lehrstuhl für Heraldik eingerichtet, den Speners Sohn Christian Maximilian Spener (1678–1714) erhielt.

Weitere zu meiner Kenntnis gekommene Aufsätze können hier nicht einzeln besprochen werden.28 Veröffentlichungen, die an­sonsten im Umkreis des Jubiläumsjahres erschienen, können nur kurz genannt werden und bedürfen ausführlicher Besprechung. Von der historisch-kritischen Ausgabe der Briefe Speners, von der mittlerweile auch die Reihe der Dresdner Briefe eröffnet wurde,29 erschien 2005 der vierte Band der Frankfurter Reihe, der die Briefe der Jahre 1679–1680 umfasst.30 Ihm folgte in derselben Edition der Sonderband, der den gesamten Briefwechsel zwischen Spener und August Hermann Francke 1689–1704 enthält.31 Eigens zum Jubiläumsjahr erschien eine deutsch-lateinische Ausgabe der Pia Desideria.32 Es handelt sich aber entgegen der Angabe auf dem Titelblatt nicht um einen Separatdruck aus der Studienausgabe Kurt Alands, sondern um einen an mehreren Stellen veränderten, also selbständigen Druck. – Johannes Wallmanns 1990 im Göttinger Handbuch »Die Kirche in ihrer Geschichte« erschienene Ge­samt­darstellung des Pietismus kam im Jubiläumsjahr in einer überarbeiteten und bibliographisch auf den neuesten Stand ge­brachten zweiten Auflage als Taschenbuch heraus. 33 – Eine sehr sorgsam ge­fertigte Darstellung, die umfassend Speners Eschatologie von den Anfängen bis zur vollständigen Ausbildung untersucht, auch erstmals die Streitigkeiten zwischen Spener und der Spätorthodoxie behandelt, legte Heike Krauter-Dierolf vor.34

Wohl mehr zufällig als beabsichtigt erschien zum Jubiläumsjahr im angelsächsischen Raum, wo bereits 1983 Peter C. Erb eine von Spener bis zu Zinzendorf reichende Quellensammlung »Pietists. Selected Writings« publiziert hatte,35 in der Reihe »The Great Theo­logians« ein Sammelband mit einer Reihe von Lebensbildern »The Pietist Theologians«. In diesem Band, der mit einem Beitrag über Johann Arndt von Wallmann beginnt und bis zu John Wesley reicht, sind Leben und Werk Speners von James K. Stein, der vor einigen Jahren die erste amerikanische Spenermonographie ge­schrieben hat, dargestellt.36 Von diesem Werk ist eine koreanische Übersetzung in Vorbereitung. Bedenkt man, dass die Pia Desideria Speners erst in den letzten Jahrzehnten in eine Vielzahl euro­päischer und außereuropäischer Sprachen übersetzt wurden, so kann man be­haupten, dass in diesem Jubiläumsjahr erstmals die ökumenische, ja globale Bedeutung Speners bewusst geworden ist.

Summary


The article provides a retrospective summary of the scientific yield of the anniversary year announced to commemorate the 300th anniversary of the death of Philipp Jakob Spener (1635–1705). Starting with Spener’s first anniversary year in 1835, which was brought about by the two-volume Spener biography written by Wilhelm Hoßbach, a close friend of Schleiermacher, the article shows that the image perceived of Spener has changed several times since this time.

The main part of the article deals with a report about the international symposium arranged by the theological faculty of the Humboldt University of Berlin in 2005 and with the presentations held at this symposium which are now available in printed form. In a second part the article deals with the literary fruit of the 2005 Spener anniversary in Alsatia, the land in which Spener was born and which is the traditional location of Spener’s anniversaries. Another part of the article deals with the exhibition organized by the Fran­cke Foundations in Halle in commemoration of Spener, which is mainly of art-historical value. The final part of the article lists other scientific papers on Spener published in 2005.

Fussnoten:

1) P. Grünberg, Philipp Jakob Spener, Bd. 3, Göttingen 1906, 42: »der 100jährige Todestag Speners ging 1805 völlig unbeachtet vorüber.«
2) W. Hoßbach, Johann Valentin Andreae und sein Zeitalter, Berlin 1819. Vorrede vom 3.12.1819 an Friedrich Lücke/Bonn, VII.
3) W. Hoßbach, Johann Valentin Andreä. Fotomechanischer Neudruck der Original-Ausgabe Berlin 1819. Leipzig: Zentralantiquariat der DDR 1978.
4) W. Hoßbach, Philipp Jakob Spener und seine Zeit, 2. Bde., Berlin 1828, Vorwort, XI.
5) W. Hoßbach, Philipp Jakob Spener und seine Zeit, 2. Aufl. mit Vorwort und Anhang von Gustav Schweder, II, 358 (Anhang).
6) W. Hoßbach, Worte am Grabe Wilhelms von Humboldt, am 12. April 1835 gesprochen, Berlin 1835.
7) A. a. O. (wie Anm. 5), II, 358.
8) Paul Grünberg, Die Spener-Gedenkfeier am 5. Februar 1905, in: Ders., Phi­lipp Jakob Spener, Bd. 3, Göttingen 1906, Anhang, 188–204.
9) Grünberg, Philipp Jakob Spener, Bd. 3, Göttingen 1906, 154.
10) Die Vorträge der Berliner Spenertagung von 1985 sind abgedruckt in: Pietismus und Neuzeit 12, Schwerpunkt Philipp Jakob Spener, 1986. In meinem dort gehaltenen Vortrag »Geistliche Erneuerung der Kirche nach Philipp Jakob Spener« (a. a. O., 12–37. Wiederabgedruckt in: Wallmann, Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, 220–248.423) nenne ich die Orte einer Reihe weiterer Tagungen (in Dillenburg u. a.).
11) M. Brecht, Philipp Jakob Spener und die Reform des Theologiestudiums, Pietismus und Neuzeit 12, 1986, (94–108), 94.
12) Dorothea Wendebourg (Hrsg.), Philipp Jakob Spener – Leben, Werk, Be­deutung. Bilanz der Forschung nach 300 Jahren. Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag Tübingen (Hallesche Forschungen Bd. 23) 2007.
13) Andreas Deppermann, Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 2002.
14) S. u. Anm. 31.
15) Briefe aus der Frankfurter Zeit, Bd. 3: 1677–1678, 2000, 331.
16) Friedrich bezieht sich auf die Spenerdarstellung von Wallmann in: Klaus Scholder und Dieter Kleinmann, Protestantische Profile, Königstein 1983, (157–171), 171.
17) E. Hirsch, Geschichte der neueren evangelischen Theologie im Zusam­menhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, II, 1951, 154 f.
18) Marc Lienhard, Spener et le Piétisme d’après les recherches récentes, Positions luthériennes 86, 2005, 117–143.
19) Vgl. Grünbergs Auskunft über die Intention seines Werks, Bd. 3, 154.
20) Vgl. Lienhards Hinweis auf meine Kritik an der Spenerdarstellung von Peter Schicketanz, 119, Anm. 9.
21) Marc Lienhard, La Réception de Spener en Alsace, Positions luthériennes 53, 2005, 219–230.
22) Marc Lienhard, Oberlin, lecteur des prédications de Spener, a. a. O., 209–217.
23) Matthieu Arnold, Philippe Jacques Spener d’après sa correspondance: Ses lettres de réconfort, a. a. O., 145–170.
24) Matthäus Wassermann, La Formation du théologien d’après Philippe Jacques Spener: sa critique des études de théologie et ses propositions de réforme, a.a. O., 171–198.
25) Gustave Koch, L’image du pasteur chez Jean Ulrich Wild, beau frère de Spener, a. a. O., 199–208.
26) Hoffnung besserer Zeiten. Philipp Jakob Spener (1635–1705) und die Ge­schichte des Pietismus (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 15). Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen in Zusammenarbeit mit dem Interdis­ziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vom 29.Mai bis zum 23. Oktober 2005.
27) Ludwig Biewer, Philipp Jakob Spener als Heraldiker. Ein kleiner Beitrag zu dem 300. Todestag eines großen Theologen. Der Herold, Vierteljahresschrift für Heraldik, Genealogie und verwandte Wissenschaften, Bd. 16, 48. Jg. 2005, 17–18.
28) Dietrich Blaufuß, »Pietismus [...] est impius?« Philipp Jakob Speners Abwehr des Heterodoxieverdachts. Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg 39, 2005, 285–303; Martin Brecht, Philipp Jakob Spener und der südwestdeutsche Pietismus. BPfKG 72, 2005, 33–47; Claudia Drese, Der Berliner Beicht- stuhlstreit oder Philipp Jakob Spener zwischen allen Stühlen? PuN 31, 2005, 60–97; Anne Lagny, La sanctification du dimanche dans la correspondance entre Philipp Jacob Spener et Sebastian Schmidt 1669–1670, Anglophonia. French Journal of English Studies 7, 2005, 307–314; Christoph Morgner, Philipp Jakob Spener und sein Reformprogramm. Eine Orientierung. ThBeitr. 36, 2005, 315–326; Hans J. Urban, Philipp Jakob Spener. Zum dreihundertsten Todestag. ThRv 101, 2005, 179–180; Klaus vom Orde, Philipp Jakobs Speners »Pia Desideria«. Glaube, Liebe und Hoffnung als Leitworte für die Hoffnung auf Gemeindeerneuerung. ThBeitr. 36, 2005, 327–341; Claus Schwambach, Philipp Jakob Spener – pai do pietismo protestante. Vox scripturae 13, 2005, 9–51.
29) Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Dresdner Zeit 1686–1691, Bd. 1: 1686–1687, hrsg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Martin Friedrich, Klaus vom Orde und Peter Blastenbrei, Tübingen 2003. 822 S.
30) Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686, Bd. 4: 1679–1680, hrsg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Martin Fried­rich und Peter Blastenbrei, Tübingen 2005. 822 S.
31) Philipp Jakob Spener, Briefwechsel mit August Hermann Francke 1689–1704, hrsg. v. Johannes Wallmann und Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Ve­ro­nika Albrecht-Birkner, Tübingen 2005. 891 S.
32) Philipp Jakob Spener, Pia Desideria. Deutsch-lateinische Studienausgabe. Hrsg. von Beate Köster (Spener Sonderausgabe. Aus: Die Werke Philipp Jakob Speners, Studienausgabe. In Verbindung mit Beate Köster hrsg. von Kurt Aland (†), Band I, Die Grundschriften, Teil 1, Gießen 1996, 85–257), Brunnen Verlag Gießen 2005. 188 S. Diese Edition wird im nächsten Band von »Pietismus und Neuzeit« von mir besprochen werden.
33) Johannes Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 2005 (UTB 2598).
34) Heike Krauter-Dierolf, Die Eschatologie Philipp Jakob Speners, Tübingen 2005 (BHTh 131). 376 S.
35) Peter C. Erb, Pietists. Selected Writings (The Classics of Western Spiritual­ity), New York 1983.
36) Carter Lindberg (Hrsg.), The Pietist Theologians. An Introduction to Theo­l­ogy in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, Oxford 2005.