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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

259-284

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ruben Zimmermann

Titel/Untertitel:

Jenseits von Indikativ und Imperativ

I. Entwurf einer ðimpliziten EthikÐ des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes*

Seit Bultmanns einflussreichem Aufsatz »Das Problem der Ethik bei Paulus« (1924)1 wurde die paulinische Ethik2 im Schema von ðIndikativ und ImperativÐ zu erfassen versucht. Das geforderte Handeln des Menschen (Imperativ) basiere demnach auf dem Heilshandeln Gottes am Menschen (Indikativ). »Der Indikativ begründet den Im perativ.«3 Auch wenn die Zuordnung von Indikativ und Imperativ nicht mehr als das zentrale Problem der paulinischen Ethik be trachtet werden kann,4 ist die Kurzformel doch als Begründungsmuster bis in die Gegenwart hinein maßgeblich.5

Der vorliegende Beitrag möchte nach einer kurzen Erläuterung der Genese dieser Begrifflichkeit und ihrer Modifikation in der Forschung die inzwischen von unterschiedlicher Seite vorgebrachte Kritik bündeln und zuspitzen (1.). In einem zweiten Schritt sollen alternative Zugänge zur paulinischen Ethik skizziert werden, die allerdings je auf eigene Weise begrenzt bleiben (2.). Der radikalen Konsequenz, nicht nur auf das Indikativ-Imperativ-Schema, sondern gleich gänzlich auf die Erhebung jeder ðEthikÐ des Paulus im Sinne einer reflektierten Handlungsbegründung zu verzichten, möchte ich im dritten Teil die These einer ðimpliziten EthikÐ entgegenstellen (3.). Einzelne Aspekte eines solchen Zugangs sollen dann abschließend am Beispiel des 1. Korintherbriefs vertieft werden (4.).

1. Das Indikativ-Imperativ-Schema und seine Kritik

1.1 Das Problem und Bultmanns ðLösungÐ

In den Briefen des Paulus gibt es zahlreiche Aussagen, die von der Heiligung und der neuen Schöpfung des gerechtfertigten Menschen sprechen (z. B. 1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 5,17; Gal 6,15), von der Be freiung des Menschen aus der Macht der Sünde (Röm 6,1 ff.) und seinem Leben »in Christus« bzw. dem Wandel im Geist. Daneben finden sich aber auch Aussagen, die zum Kampf gegen die Sünde auffordern, die ­ gelegentlich sogar mit Hinweis auf das Gericht ­ an ein bestimmtes Verhalten appellieren und zum Handeln mahnen (Röm 6,1­7; 8,1­17; 1Kor 6,9­11; Gal 5,13­25; 1Thess 4,3 u. a.). Der Zusage des Heilshandelns Gottes wird somit die Aufforderung zum menschlichen Handeln an die Seite gestellt. Vielfach werden diese zwei Aussagenkreise auch in der Makrostruktur der paulinischen Briefe wiedererkannt, indem man z. B. im Röm, Gal oder 1Thess nach einem theologisch-dogmatischen Teil einen paränetischen Briefabschnitt differenziert. Doch ebenso begegnen beide Aussagen auch auf engstem Raum, wie etwa in dem in unserem Zusammenhang häufig zitierten Vers Gal 5,25: å ™áµ ¼ µ , ¼ µ d Ô ¯áµ .6

Dass die paulinischen Briefe in hohem Maße ein bestimmtes Verhalten einfordern,7 wurde vor allem vor dem Hintergrund der paulinischen Rechtfertigungslehre ­ bzw. ihrer Entfaltung in der deutschsprachigen lutherisch geprägten Paulusforschung ­ zum theologischen Problem: Wenn die Heilszusage bedingungslos, gerade ohne menschliches (Zu-)Tun gilt, warum bedarf es dann überhaupt noch ethischer Forderungen? Ist Gerechtigkeit und Heiligkeit nun eine Gabe Gottes (1Kor 6,11) oder eine von Gott an den Menschen gestellte Aufgabe (1Thess 4,3 f.)? Wenn Gott wirklich Wollen und Vollbringen bewirkt (Phil 2,13), warum müssen die Glaubenden dann noch um ihr Heil bangen (Phil 2,12)? Wenn die Gnade Gottes das ganze Leben bestimmt (2Kor 1,12), warum muss man der Rettung dann noch nachjagen (Phil 3,12­14) oder dafür kämpfen (2Kor 6,7; 10,4)? Wurden die Glaubenden nur ðauf BewährungÐ in die Freiheit entlassen und müssen sie die Neuheit des neuen Seins erst noch durch ein entsprechendes Handeln verwirklichen oder gar »vollenden« (2Kor 7,1)? Wenn der Mensch synergistisch dem Heilshandeln Gottes nachhelfen muss, wie ist es dann um den Wert und die Wirklichkeit des göttlichen Heils bestellt? Stehen folglich soteriolo gische und paränetische Aussagen, Heilszusage und moralische Forderungen, Dogmatik und Ethik der Paulusbriefe in einem un vereinbaren Widerspruch?

Zu Beginn des 20. Jh.s wurde diese offensichtliche Spannung zwischen Soteriologie und Ethik als Widerspruch beschrieben. A.Schweitzer konstatierte, dass sich »die Erlösung und die Ethik zueinander wie zwei Straßen (verhalten), von denen die eine bis zu einer Schlucht und die andere von dieser Schlucht an weiter führt. Es fehlt aber die Brücke, um von der einen auf die andere zu gelangen.«8 Auch Paul Wernle und Hans Windisch hatten in ihren Arbeiten zur paulinischen Anthropologie und Hamartiologie eine regelrechte Antinomie zweier Aussagenkreise bei Paulus herausgearbeitet. Windisch schreibt: »Paulus stellt, verschiedenen Einflüssen der Erfahrung und der Praxis folgend, eigentlich Unvereinbares zusammen. Von der mysteriös gewirkten Entsündigung, von dem mystischen Leben mit Christus, das den Menschen für die Reize der Sünde unempfänglich und stumpf gemacht hat, zu der Verpflichtung, den sündigen Begierden den Gehorsam aufzusagen, ist für das logische und psychologische Denken ein gangbarer Weg nicht vorhanden.«9

Hier setzt die Arbeit von Bultmann an, der die genannten Aussagenkreise erstmals mit den Begriffen »Indikativ« und »Imperativ« belegt hat.10 In Auseinandersetzung mit den vorgängigen Positionen von Wernle, Holtzmann und Baur sowie der stoischen Ethik und hellenistischen Mystik11 versucht er eine Lösung im Horizont seiner existenzialen Glaubenslehre und Anthropologie. Er nimmt zwar den Gedanken der Antinomie und Widersprüchlichkeit auf, verknüpft aber beide Bereiche zu einer paradoxen Einheit. »Die Ge rechtigkeit oder Sündlosigkeit ist also ­ höchst paradox ­ keine Veränderung der sittlichen Qualität des Menschen, sie ist weder etwas am Menschen Wahrnehmbares noch etwas von ihm Erlebbares im Sinne der Mystik; sie kann eben nur geglaubt werden.«12

ðIndikativÐ und ðImperativÐ können folglich für Bultmann als »sich widersprechende und gleichwohl zusammengehörige Aussagen«13, d. h. als sachlich notwendige Antinomie zur Beschreibung der Seinsweise des Gerechtfertigten bestimmt werden. Das geforderte Handeln des Menschen (Imperativ) ist unter der Perspektive des Glaubens selbst ein Teil des Heilshandelns Gottes am Menschen (Indikativ). »Ist aber das ganze Sein des Gerechtfertigten durch die ¯¿ bestimmt, so auch der Imperativ, unter dem er steht. Š Wie also die im Imperativ sich aussprechende sittliche Forderung für ihn Gottes Gebot ist, so ist die der Forderung entsprechende Haltung des Gehorsams zugleich Gabe Gottes, gewirkt durch das ¼ Ü µ , ohne daß die Forderung dadurch ihren imperativischen Cha rakter verliert. Die Paradoxie ist also für den Glauben voll verständlich: å ™áµ ¼ µ , ¼ µ d Ô ¯áµ .«14

1.2 Wirkungen und Modifikationen

Mit gutem Recht hat W. Schrage den Ansatz Bultmanns als »epochemachend«15 bezeichnet. Viele Darstellungen paulinischer Ethik und darüber hinaus16 bedienten sich der von ihm eingeführten Kurzformel von ðIndikativ und ImperativÐ und hielten ungeachtet verschiedener Akzentsetzungen und Modifikationen an der prinzipiellen Berechtigung dieses Schemas fest, wie die folgenden Beispiele zeigen.17 Dies schloss nicht Kritik z. B. an seinen spezifisch existenzialphilosophischen Prämissen aus. So hatte bereits 1924 Hans Windisch18 bemängelt, dass Bultmann zu wenig die Geist- und Taufdimension bei der paulinischen Rede vom Heil berücksichtige. Ferner fordere »Paulus mit Nachdruck ein natürlich wahrnehmbares Le ben«, so dass sich Erlösung von Sünde nicht auf innere Glaubenswahrheit beschränken dürfe. Ernst Käsemann hat gegen Bultmann eingewandt, dass der Imperativ als Nachträgliches und Zusätzliches missverstanden werden könne, wenn man im Indikativ ðnurÐ den Grund des Imperativs erkenne. Käsemann spricht deshalb von einer »Dialektik« von Indikativ und Imperativ und versteht die Gottesgerechtigkeit nicht nur als Gabe, sondern als Macht, die un trennbar mit dem Geber verbunden sei.19 Wer in der Gottesherrschaft bleibe, könne auch »Früchte der Gerechtigkeit« (Phil 1,11) bringen, Gottes Gnade führt zum guten Werk (2Kor 9,8: ö Ô à Þ ). Somit ist paulinische Ethik ein Teil der paulinischen Eschatologie. Indikativ und Imperativ sind ­ so entsprechend Ulrich Körtner ­ »die ethische Seite der Polarität von präsentischer und futurischer Eschatologie.«20

Ganz in der Tradition Bultmanns steht die Arbeit von Otto Merk, der die paulinische Ethik als ein »Handeln aus Glauben«21 bestimmt hat und damit ­ wie auch Josef Blank ­ den Akzent auf die Anthropologie legt.22 Der Imperativ sei die Konsequenz des Kerygmas, die paulinische Ethik sei deshalb keine autonome oder finale, sondern eine »konsekutive Ethik«23.

Kurt Niederwimmer hat hingegen betont, dass es beim Indikativ nicht um die Motivierung des Handelns, sondern um eine »radikale Veränderung der Bedingung des Handelns«24 gehe, ein Gedanke, der später von Dieter Zeller aufgegriffen und unter Hinweis auf A. J. Greimas¹ Modalitätentheorie vertieft wird: »Während die Prinzipien und Normen dem Dürfen und Sollen zugeordnet sind und die Motive dem Wollen Anreiz geben, hat es der Indikativ mit dem Können zu tun. Der Imperativ verhält sich dazu wie Verwirk lichung zu Ermöglichung (nicht: Möglichkeit!).«25 Auch Wolfgang Schrage greift in seiner Ethik das Indikativ-Imperativ-Schema auf, betont aber zugleich, dass das Verhältnis »von Indikativ und Imperativ nicht formal, sondern nur von der Christologie her angemessen zu verstehen ist.«24 Das christologische Heilsereignis von Tod und Auferweckung Jesu »begründet nicht nur Rechtfertigung und Versöhnung, sondern durch sie werden die Gerechtfertigten und Versöhnten auch in der konkreten Wirklichkeit ihres Lebens ge prägt«.27 Dabei hebt Schrage das reziproke Ineinander von Indikativ und Imperativ hervor: »Es geht also nicht so sehr um Zuspruch und Anspruch als um den Anspruch des Zuspruchs und den Zuspruch des Anspruchs.«28 Auch Christof Landmesser versucht das durch den Begriff »dialektisch« seines Erachtens nur unzureichend bestimmte Verhältnis zwischen Indikativ und Imperativ präziser zu fassen. Anhand einer Analyse von Phil 1,27­2,18 kommt er zu der Überzeugung, dass für Paulus der Imperativ als ein ðeminentes PerformativÐ in den Indikativ eingezeichnet ist.29 Landmesser tritt damit vor allem einem Missverständnis des Modells entgegen, als könne der Imperativ aus dem Indikativ abgeleitet werden. Vielmehr folge »aus dem Indikativ das Handeln selbst«.30 »Der Imperativ in Phil 1,27a erweist sich somit als ein integraler Bestandteil der Evangeliums predigt Š Für Paulus sind die Konkretionen des Lebens der Chris ten vielmehr in allen Hinsichten von dem Heilshandeln Gottes erfasst.«31 Noch deutlicher kehrt Hans Weder zu Bultmann zurück, indem er einer einseitigen Auslegung des Imperativs auf das Handeln des Menschen widerspricht. »So sehr der Imperativ auch mit der Ethik zu tun hat, so sehr umfasst er mehr als das, indem er zu einem bestimmten Sein auffordert.«32 Soteriologie und Ethik müssen gleichermaßen der Wirklichkeit der Gnade zugewiesen werden. »Š das Tun kann keine andere Gestalt haben als das, wovon es selbst lebt: es kann, weil es auf dem Boden der kreativen Zuwendung lebt, nichts anderes als Zuwendung sein. Und dieses Tun existiert nicht, es sei denn aufgrund der Lebens-Erfahrung des gnädig Gewährten.«33

Die neuesten Auseinandersetzungen mit der ðIndikativ-Imperativ-FormelÐ zeigen jedoch auch immer deutlicher die Grenzen der Leistungsfähigkeit dieser Denkfigur auf.

Für Knut Backhaus ist die Rede von Indikativ und Imperativ missverständlich, weil sie die christologische Begründung der paulinischen Ethik verstelle. »Das Verhältnis von Christologie und Ethik läßt sich daher nicht primär im Indikativ und Imperativ konjugieren: das Haupt-Wort steht im ðLokativÐ und lautet Christus.«34 Es sei die Christusbeziehung, die den Lebensvollzug bestimme. »Wer aus der Gnade lebt, lebt aus der Gnade. Christologie ist in sich, nicht erst nachträglich, ethisch, und Ethik ist in der Wahrnehmung des Paulus gar nicht anders zu vollziehen denn als gelebte Treue zur Christologie.«25

Gravierende Fragen an das Indikativ-Imperativ-Modell formuliert auch Udo Schnelle, indem er u. a. die mit den Begriffen ein geführte künstliche Trennung zwischen Heilsgabe und mensch lichem Tun, die theologische Unsachgemäßheit ebenso wie die sta tische Natur des Modells kritisiert.36 Ferner sei die Frage nach dem Können und Sollen in der ethischen Argumentation des Paulus nur ein Randphänomen. Schnelle kommt deshalb zu dem Schluss, »vom Indikativ-Imperativ-Schema als dem Strukturmodell paulinischer Ethik Abstand zu nehmen«.37

In ähnlicher Weise votiert schließlich David G. Horrell: »The close integration of theology and ethics, and the specific conjunction of indicative and imperative, can, however, be understood and conceptualized in new and different ways.«38 Während die Entfaltung einer inneren Logik von Indikativ und Imperativ unzureichend bleibe, könne die Zusammengehörigkeit zwischen Theologie und Ethik durch die Verschränkung von Mythos, Ritus und Ethos besser erklärt werden.39

1.3 Kritik

Im Folgenden möchte ich die an unterschiedlichen Stellen vorgebrachte Kritik am Indikativ-Imperativ-Modell thesenhaft verdichten, wobei m. E. vier Dimensionen differenziert werden können.

a) Textbefund:

­ Das Indikativ-Imperativ-Schema ist ein Forschungskonstrukt, das dem Textbefund widerspricht, denn die Gliederung der Paulus-Briefe in ðDogmatikÐ und ðParänesenÐ ist zu pauschal und trifft auf einige Briefe wie z. B. den 1Kor gar nicht zu.

­ Von Paulus wird eine Deduktion des Imperativs aus dem Indikativ an keiner Stelle ausgeführt.

­ Die Klassifikation bestimmter Inhalte in die Sprachmodi ðIndikativÐ und ðImperativÐ lässt sich nicht am Text nachweisen. Die gleichen Aussagen können von Paulus sowohl indikativisch als auch imperativisch formuliert werden, wie z. B. »Christus anziehen« in Gal 3,27 (indikativisch), in Röm 13,14 (imperativisch).40

b) Sachgemäßheit:

­ Das Indikativ-Imperativ-Schema führt eine künstliche Trennung ein, die das von Paulus als Einheit Dargestellte retrospektiv zergliedert.

­ Das Modell suggeriert eine wie auch immer geartete zeitliche oder logische Vorordnung des Indikativs vor den Imperativ.

­ Das Schema ist reduktionistisch und starr und widerspricht somit der Dynamik und Vielfalt paulinischer Handlungsbegründung.

­ Die Frage nach dem Verhältnis von Können und Sollen steht nicht im Zentrum der paulinischen Ethik.

c) Theologie:

Die Formulierung von Indikativ und Imperativ führt im Blick auf die Gültigkeit paulinischer Soteriologie in unauflösbare Aporien:

­ Wenn die Heilsgabe Gottes durch den Menschen noch verifiziert oder vervollständigt werden müsste, wäre sie unvollständig oder beschränkt.

­ Eine soteriologische Funktion des Imperativs müsste negativ beschrieben werden.

­ Der Indikativ verstärkt den Imperativ im Sinne eines notwendig eingeforderten Verhaltens.41

­ Die paulinischen Imperative sind nicht ausnahmslos an den Heils-Indikativ gebunden, sondern spiegeln zum Teil konventionelle Moral aus seinem Umfeld wider.

d) Sprach- und Moralphilosophie:

­ Indikativ und Imperativ sind Metaphern, mit denen keine ethisch präzise Deskription paulinischer Handlungsbegründung möglich ist.

­ Die paulinische Paränese benutzt eine Fülle von Sprachformen und Begründungsmustern, die durch differenziertere Methoden analysiert werden können.

­ Werden die Termini begrifflich aufgelöst, ist ihre Zuordnung moralphilosophisch problematisch, denn wird aus dem Indikativ (Seins-Aussage) ein Imperativ (Sollens-Aussage) abgeleitet, liegt ein so genannter ðnaturalistischer FehlschlussÐ (G. E. Moore42) vor.

Angesichts der genannten Kritikpunkte sollte man sich innerhalb der exegetischen Wissenschaft vom Indikativ-Imperativ-Modell als leitendem Begründungsmuster der paulinischen Ethik nun endgültig verabschieden, da es letztlich mehr Probleme schafft, als es lösen konnte.

2. Alternative Begründungen und Zugänge zu einer paulinischen Ethik

Doch welche alternativen Begründungsstrukturen der paulinischen Ethik gibt es, und wie ist ihre Leistungsfähigkeit zu beur teilen? Seit geraumer Zeit haben sich nun in Abgrenzung vom In dikativ-Imperativ-Modell, aber auch unabhängig davon andere Zugänge zur paulinischen Ethik etabliert, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. Stark vereinfacht lassen sich hierbei vier unterschiedliche Ansätze erkennen:

2.1 Genealogische Begründungen: Traditionsgeschichte statt Ethik?

Viele neuere Untersuchungen zur paulinischen Ethik konzentrieren die Frage der Handlungsbegründung ganz auf traditions geschichtliche Zusammenhänge. Während H. Preisker in seiner Arbeit zum ðEthos des UrchristentumsÐ von einer doppelten Frontstellung ausging, nach der sich die Ethik der frühen Christenheit sowohl von der Normbegründung des Judentums als auch von der hellenistischen (insbesondere stoischen) Ethik deutlich unterscheide,43 und noch O. Merk unter den Hauptmotivierungen der paulinischen Ethik »keine, die aus der Umwelt übernommen sind, auch keine, in denen das Gesetz ... oder die Schrift, das AT, bestimmend ist«,44 erkennen konnte, wird heute die Verwurzelung der paulinischen Paränese im religionsgeschichtlichen Kontext nicht mehr bezweifelt. Dabei zeigen sich zwei unterschiedliche Forschungsfelder: Einerseits wird ­ entsprechend der wiederentdeckten engen Einbindung des Apostels ins Judentum ­ die Anknüpfung der paulinischen Ethik an die jüdische Ethik herausgearbeitet, sei es, dass Paulus im Horizont weisheitlicher bzw. jüdisch-hellenistischer Ethik45 oder der zeitgenössischen Halacha verortet wird (Peter J. Tomson, Brian Rosner), sei es, dass die Geltung der Tora, insbesondere auch für die Heiden diskutiert wird (Karin Finsterbusch, Markus Bockmuehl).46

Andererseits wird die Einbettung des Apostels in die griechisch-hellenistische Moralphilosophie seiner Zeit herausgearbeitet, wie zum Beispiel die Arbeiten von Hans Dieter Betz, Abraham Malherbe oder Troels Engberg-Pedersen zeigen. Hierbei wurden bei Paulus Anleihen an die stoischen,47 epikureischen48 oder kynischen49 Ethiken wahrgenommen. Ferner wurden die paulinischen Handlungsnormen mit der hellenistischen Popularethik50 in Beziehung ge setzt. Kontrovers wird allerdings diskutiert, welchen Stellenwert diese Rückbindung für die paulinische Ethik hat. Zeigen die Verwendung einzelner Motive wie z. B. »Freiheit« oder »Gewissen« (s. u.) oder Parallelen im Menschenbild51 lediglich den gemeinsamen geistesgeschichtlichen Horizont, oder lassen die paulinischen Briefe eine enge Anlehnung an bestimmte z. B. stoische Denkformen erkennen? Oder muss man eher eine kritische Rezeption52 oder einen geringen Einfluss postulieren, weil Paulus keine antike Ethik expressis verbis zitiert, zentrale Begriffe zeitgenössischer Ethiken (wie z. B. , ) bei Paulus fehlen oder in einem ganz anderen Sinn verwendet werden (wie z. B. oder ¼ )?53Die hier idealtypisch differenzierten Ableitungen aus Judentum oder hellenistischer Philosophie werden vielfach auch zusammengeführt. So spricht etwa Gerd Theißen von einer Synthese zwischen griechischer Einsichtsethik und biblischer Gebotsethik.54 Doch je stärker Paulus an diese Traditionen zurückgebunden wird, desto dringlicher stellt sich die Frage nach dem Proprium paulinischer Ethik. Der bereits in der Vergangenheit wahrgenommene Befund, dass Paulus in materialer Hinsicht wenig Neues bietet,55 lässt den Blick auf seine theologische Motivierung und Begründung des Handelns übergehen.2.2 Theologische Begründungen: Christologie und Pneumatologie statt Ethik?

Seit Bultmanns Diktum war gerade die Wahrnehmung der theologischen Tiefendimension der paulinischen Ethik ein durchgängiger Aspekt der Debatte. Allerdings entscheiden einige Positionen das spannungsvolle Gegenüber von Theologie und Ethik auch durch den Verzicht auf eine Ethik im eigentlichen Sinn. So hatte z.B. H. Hübner seinen Forschungsbericht aus dem Jahr 1987 mit den Worten eingeleitet: »Das Thema ðEthik bei PaulusÐ ist kein eigenständiges Thema. Es ist im Grunde in all dem, was bereits ausgeführt wurde, impliziert.«56

Innerhalb dieser Gewichtung der Theologie variieren die jeweiligen theologischen Begründungen, die ins Zentrum gesetzt werden: Bereits in einer der ersten Stellungnahmen zu Bultmann hatte H. Windisch die einseitige Konzentration auf die Rechtfertigungslehre kritisiert und eine stärkere Berücksichtigung der Tauf- und Geistaussagen gefordert. Die »Synousie mit der Heiligkeit des Geistes Gottes« ist dann für F. Wilhelm Horn sowie Günter Haufe das Zentrum paulinischer Handlungsreflexion, so dass man von einer dezidiert pneumatologischen Begründung der Ethik sprechen kann.57 Der Geist wird hierbei zum alles bestimmenden Prinzip: »Der Geist vergegenwärtigt die Liebe Gottes in den Herzen (Röm 5,5), belehrt in der Bruderliebe (1Thess 4,8 f.), läßt sie erste Frucht christlicher Existenz sein (Gal 5,22) und ist selber als ðGeist der LiebeÐ qualifiziert (1Kor 4,21).«58 Eher randständig und angesichts des Textbefunds auch fragwürdig blieb der Versuch von Thomas J. Deidun, der den Bundesgedanken als grundlegend für die paulinische Theologie und Ethik ansehen wollte.59

Immer wieder wird auch die Christusbeziehung zur Basis paulinischer Handlungsbegründung erklärt, wie etwa in den Arbeiten von Hieronymus Cruz 60 oder Knut Backhaus. Die christologische Begründung ist für Backhaus aber zugleich untrennbar mit der Pneumatologie verknüpft: »ðIm Geist seinÐ formuliert als theologische Befindlichkeit, was ðin Christus seinÐ als personale Beziehung beschreibt.«61 Das Pneuma wird sodann auch zur »Führungsmacht« und die Agape zur »Leibgestalt«62 des neuen Lebens mit Christus. »Christus prädisponiert Š in umfassender Weise den Lebensgrund, insofern der Glaubende in und aus der Gemeinschaft mit Christus lebt, das Lebensziel, insofern Christus den Bewegungsfeldern sittlichen Handelns die Finalität einstiftet, den Lebensmaßstab, insofern sittliche Existenz unter den Bedingungen des alten Aion dauerhaft auf den Rückbezug auf Christus verwiesen ist.«63Eine in Abwendung vom Indikativ-Imperativ-Modell entwickelte, explizit theologische bzw. christologische Handlungsbegründung hat in jüngerer Zeit auch Udo Schnelle vorgelegt, in der er unterschied liche Aspekte bündelt. »Die Grundkonzeption des paulinischen Denkens ist nicht an einen negativen Gesetzesbegriff oder eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption gebunden, sondern ergibt sich positiv aus der Logik der Transformation und Partizipation64 Die Glaubenden können nach Schnelle durch die Geistgabe in der Taufe bereits in der Gegenwart umfassend am durch Jesu Christi Tod und Auferstehung erwirkten Heil teilhaben. Schnelle charakterisiert die Begründung der Ethik folglich als »Entsprechung« zu Christus ­ als eine Christusmimesis: »Jesus Christus ist Urbild und Vorbild zugleich ... Was sich an ihm vollzogen hat, prägt gänzlich das Leben der Getauften.«65 Entsprechend löst Schnelle das Ô ¯áµ aus Gal 5,25 nicht mit »wandeln« wie ¼ ¼ ¤ , sondern als »mit etwas übereinstimmen/im Einklang sein« auf. »Der Akzent liegt damit nicht auf der Forderung, sondern es geht um eine Relation, die mit dem Dativ ¼ µ ausgedrückt wird: im Einklang leben mit dem Geist66

2.3 Sprachliche Begründungen: Paränese und Argumentation statt Ethik?

Eine sprachliche Kritik am Indikativ-Imperativ-Modell hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die paulinische Ethik keineswegs auf die grammatische Form von Imperativen begrenzt werden könne, die aus Normen abgeleitet werde. Werner Wolbert zog aus einer solchen Einschätzung die Konsequenz, dass es dann sachgemäßer sei, die paulinischen Handlungsanweisungen nicht mehr als »normative Ethik«, sondern als »christlich motivierte Paränese« zu be zeichnen67

Auf Grund der überaus seltenen Bezeugung von ¼ ¤ im Neuen Testament (das Verb kommt nur zweimal in Apg 27,9.22, das Substantiv ¼ überhaupt nicht vor) sowie aus sachlichen Erwägungen hatte jedoch Rudolf Hasenstab 68 zu Recht auf die Grenzen des Paränese-Begriffs hingewiesen und gefordert, ihn durch ein Paraklese-Modell zu ersetzen.69 In jüngerer Zeit dokumentiert nun auch der von James M. Starr und T. Engberg-Pedersen herausgegebene Tagungsband zur »Paränese«,70 dass das von H. D. Wendland und M. Dibelius71 eingeführte Paränese-Konzept auf Grund der historischen Semantik und Verwendung des Begriffs nicht als umfassendes Begründungsmuster paulinischer Ethik hinreichen kann.72

Wurden früher im Gefolge der alten Formgeschichte einzelne Textsorten innerhalb der Briefe herausgehoben (z. B. Tugend- bzw. Lasterkataloge73), so werden heute Textabschnitte eher funktional innerhalb ihres Kontextes bestimmt. So wurde z. B. zwischen usuellen und aktuellen Paränesen oder zwischen protreptischen und paränetischen Mahnungen differenziert.74 Eine neue Aufmerksamkeit kommt ferner der metaphorischen Sprechweise des Paulus zu, die auf eigene Weise appellativen und somit auch ethischen Cha rakter trägt.75 Schließlich versucht man der paulinischen Handlungsbegründung auf sprachlicher Ebene durch genaue Analyse des Argumentationsgangs näher zu kommen, was vor allem durch die inzwischen etablierte rhetorische Lesart der Paulusbriefe76 vorangetrieben wird. Neben den früheren Arbeiten von Wolbert, Furger oder Siegert 77 ist hier vor allem die Studie von Wolfgang Fenske zu nennen, der die Argumentation des Paulus besonders in ethischen Auseinandersetzungen untersucht hat.78

2.4 Soziologische Begründungen: Ethos statt Ethik?

Zuletzt möchte ich auf Arbeiten hinweisen, die ihren Fokus ganz in den Bereich des gelebten Ethos hinein verlagern. Die Paulusbriefe seien ein Reflex auf das konkrete Leben bestimmter urchristlicher Gruppen und Kreise, so dass sich die Exegese auf die Untersuchung der Verhaltensnormen konzentrieren müsse, die innerhalb paulinischer Gemeinden und ihres sozialen Umfelds gültig waren. Für Wayne A. Meeks 79 etwa war es gerade die Entwicklung einer eigenen Moral, die zum Bildungsmotor der urchristlichen Gemeinden wurde. Um diese »moral formation of the early Christian communities«80 verstehen zu können, muss die Moral des zeitgenössischen Umfelds erschlossen werden. Entsprechend ist das Augenmerk von Meeks nicht auf die Erhebung der reflektierten ðEthikÐ, sondern der ðMoralÐ gerichtet, unter der er »a pervasive and, often, only partly conscious set of value-laden dispositions, inclinations, attitudes, and habits«8 1 versteht. Die neutestamentlichen Texte wollen denn auch nach Meeks nicht mehr als Instrumente dieser gelebten Moral sein.82

Einen vergleichbaren Ansatz hat im deutschsprachigen Bereich besonders Michael Wolter entwickelt.83 Nach Wolter besteht eine enge Korrelation zwischen Ethos und Identität, d. h. einer neu gewonnenen (kognitiven) christlichen Identität müsse zwangsläufig ein bestimmtes Ethos folgen und umgekehrt. Im Ethos stehe nicht die Forderung sondern die notwendige Folge der neuen Identität im Vordergrund; statt um Bewährung gehe es um den leiblichen Ausdruck bzw. die ðObjektivationÐ der neu gewonnenen Exis tenz.84

Das Gruppenethos85 der urchristlichen Gemeinden wurde ferner von Thomas Schmeller u. a. mit den griechisch-römischen Vereinen verglichen. Ähnlich wie bei solchen Händler-, Künstler- oder Kultvereinen konstituiere sich die christliche Gemeinde durch gemeinsame Handlungen, seien sie ritueller oder ethischer Natur, die eine Verbindung der Gruppenmitglieder und eine Abgrenzung nach außen ermöglichten.86

Zuletzt sei auf die Arbeiten von Daniel Boyarin, Richard Hays und David G. Horrel hingewiesen, die sozialgeschichtliche Ethos-Analysen aufnehmen und vertiefen, dann aber auf je eigene Weise gezielt in einen Dialog mit gegenwärtigen Ethik-Konzepten treten.87

Fazit: Dass durch traditionsgeschichtliche, theologische, sprachliche und soziologische Überlegungen hilfreiche Aspekte zum Verständnis der paulinischen Ethik beigetragen werden, soll und muss hier nicht bestritten werden. Allerdings führen diese Ansätze in der Deskription der Handlungs- und Praxisdimension der pauli nischen Briefe letztlich ­ wie viele sogar selbst betonen ­ zu einer Relativierung, Substitution oder Elimination der Ethik im eigentlichen Sinn. Während bei der genealogischen Annäherung die Frage nach der Handlungsbegründung letztlich durch die traditionsgeschichtliche Frage nach Parallelen und Modifikationen verdrängt oder gar ersetzt wird,88 werden innerhalb theologischer Argumentationen bestimmte theologische Begriffe, Leitkategorien oder gar Loci89 einer detaillierten ethischen Analyse übergeordnet. Bei der sprachlichen Betrachtung besteht die Gefahr, die sprachliche Gestalt bzw. Argumentationsform paulinischer Weisungen auf ihre philologische und rhetorische Gestalt zu reduzieren, ohne ihre ethische Funktion im Kommunikationszusammenhang wahrzunehmen. Bei der soziologischen Annäherung interessiert von vornherein das identitätsstiftende gelebte Gruppenethos mehr als der Überbau dieser Handlungsnormen, so dass die Briefe hinsichtlich dieser Fragestellung analysiert werden.

Können oder sollen wir also auf die Ausarbeitung einer ðEthikÐ des Paulus verzichten?

3. Entwurf einer ðimpliziten EthikÐ der paulinischen Schriften

Es gibt jedoch nach meiner Einschätzung gute Gründe, die für ein Festhalten an einer ðpaulinischen EthikÐ im eigentlichen Sinn, d. h. einer reflektierten Handlungs- und Normenbegründung des Apos tels, sprechen. Die im Folgenden versuchte Skizze einer solchen Ethik muss zunächst bei der Differenzierung der Begriffe einsetzen:

3.1 Begriffsklärungen: Moral ­ Ethos ­ Ethik ­ ðimplizite EthikÐ

Während in früheren Untersuchungen die Begriffe »Ethik«, »Sittlichkeit«, »Moral« und »Ethos« vielfach synonym und unspezifisch verwendet wurden,90 hat nun ein Differenzierungsprozess eingesetzt, der anknüpfend an moralphilosophische Sprachregelungen zumindest zwischen »Ethos«/»Moral« und »Ethik« unterscheidet.91 Unter »Moral« oder »Ethos« versteht man dabei ­ so etwa die Definition von M. Wolter ­ einen »Kanon von institutionalisierten Handlungen, die innerhalb eines sozialen Systems in Geltung stehen«.92 Auf Grund der konstitutiven Bezogenheit des Ethos auf ein soziales System definiert etwa Th. Schmeller folgerichtig: »Eigentlich ist jedes Ethos Gruppenethos.«93

»Ethik« wird hingegen ­ ausgehend von Aristoteles¹ Rede von ä c (Analyt. Post I,33) ­ als systematisch-theoretische Un tersuchung dieses Bereichs des gelebten Ethos bezeichnet. Der »Ethik« geht es um eine rationale Durchdringung des Moralkodex. Sie ist ­ wie Niklas Luhmann formuliert ­ die »Reflexionstheorie der Moral«94 oder mit Annemarie Pieper die »Wissenschaft vom moralischen Handeln«, die »die menschliche Praxis im Hinblick auf die Bedingungen ihrer Moralität« untersucht.95

Angesichts einer solchen terminologischen Differenzierung stellt sich jedoch verschärft die Frage, ob es überhaupt berechtigt ist, von einer ðEthik des PaulusÐ zu sprechen.96 Denn eine systematische Reflexion über die Normen und Begründungen der Handlungen oder gar eine ðethische TheorieÐ sucht man in den paulinischen Briefen vergeblich. In der Regel werden konkrete Fragen der Lebensführung in den Gemeinden behandelt (z. B. in 1Kor 5­7 zur Sexualethik; in 1Kor 8­10 zum Essen von Götzenopferfleisch), auf die Paulus mit ebenso konkreten Handlungshinweisen antwortet.

Die hinter den paulinischen Paränesen sichtbar werdenden Konfliktsituationen entbinden jedoch gerade nicht von der Rückfrage nach einer Ethik. Im Gegenteil. Gerade und besonders in Konfliktsituationen, dann, wenn die Beurteilung einer Handlung strittig ist, ist ðEthikÐ erforderlich. Wenn sich alle über die Einhaltung be stimmter Handlungsnormen einig sind, bedarf es keiner Rechtfertigung und Begründung eines moralischen Urteils. Wenn aber nicht klar ist, welche Handlung als ðrichtigÐ und welche als ðfalschÐ eingestuft werden soll, wenn bisherige Normen nicht ausreichen, eine Handlung in befriedigender Weise zu begründen, dann wird ethische Reflexion notwendig. Entsprechend wurde Paulus gerade durch die Konflikte dazu veranlasst, seine Wertungen und Handlungsanweisungen gegenüber anderen Möglichkeiten und Ansprüchen zu begründen, d. h. ðEthik zu betreibenÐ.

Auch wenn sich in den paulinischen Schriften keine Meta-Reflexion über Handlungsnormen findet, liegen den einzelnen Paränesen implizite und zum Teil auch explizite Begründungen bzw. der argumentative Rekurs auf bestimmte ethische Maximen und Normen zu Grunde. Ferner ist Paulus nicht nur Situationsethiker, der an der Klärung konkreter Einzelfälle interessiert ist, sondern er formuliert Verhaltensregeln und Wertmaßstäbe, die inmitten aller Vielfalt überindividuelle oder gar universelle Geltung beanspruchen können.97 Schließlich umfasst für Paulus die Ethik »sowohl religiöse wie intellektuelle« Aspekte, wie nicht zuletzt die Hervorhebung der Vernunft in Röm 12,1 f. deutlich macht.98

Deshalb ist es m. E. gerechtfertigt, von einer Handlungsbegründung im Sinne einer ðEthikÐ bzw. ðimpliziten EthikÐ zu sprechen. ðImplizitÐ soll diese Ethik heißen, weil Paulus selbst keine systematische Rechenschaft über Handlungsnormen und Begründungs zusammenhänge ­ vergleichbar etwa mit den Ethiken des Aristoteles99 ­ ablegt und im Rahmen von Einzelbegründungen nur Mo saiksteine des dahinter liegenden ðethischen ÜberbausÐ zu er kennen gibt. Die ðimplizite paulinische EthikÐ kann also erst retrospektiv aus den konkreten ethischen Argumentationen und Urteilen re konstruiert werden.

3.2 Methodische Orientierung, heuristische Leitfragen

Um diese ðimplizite EthikÐ möglichst differenziert erfassen zu können, ist es m. E. im heuristischen Sinn weiterführend, auf die innerhalb der philosophischen Ethik-Tradition etablierten Kategorien und Termini zurückzugreifen. Zwar gilt es dabei mit Bedacht vorzugehen, um nicht sachfremde Begriffe der späteren Tradition an antike Texte heranzutragen. Andererseits zeigt die Typisierung der Ethik, dass die in der Ethik-Theorie verwendeten Begriffe und Be gründungsmodelle vielfach aus antiken Ethik-Konzepten entwi ckelt wurden.100 So kann man z. B. die dialektische Methode auf Platon, die analogische auf Aristoteles zurückführen; ferner kann zwischen einer deontologischen und teleologischen Normbegründung, zwischen formalen und materialen Aspekten der Ethik differenziert werden; Freiheit, Gewissen, Tugend oder Pflicht werden bereits in der Antike als Leitbegriffe diskutiert, während sich konkrete Werte einer Güterethik durch klassische Termini wie ðeudämonischÐ oder ðhedonistischÐ präzisieren lassen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Das hier vorgestellte Modell einer ðimpliziten EthikÐ möchte in tegrativ im Blick auf die unterschiedlichen Zugänge zur paulinischen Ethik wirken. So werden einzelne Fragestellungen innerhalb eines ethischen Gesamtsystems eingeordnet und vernetzt. Im Folgenden möchte ich zentrale Elemente einer solchen ðimpliziten EthikÐ anhand von Leitfragen skizzieren:

Einzelaspekte/Fragenkatalog zur Erarbeitung einer impliziten Ethik des Paulus

1) Sprachform:

In welcher sprachlichen Gestalt begegnet die ethische Aussage?


Ausgangspunkt ist der konkret vorliegende Text in seiner Sprachlichkeit. Besonders die analytische Ethik hat die konstitutive Rolle der Sprache der Moral für die darin sichtbar werdende Ethik herausgearbeitet. Bei der Analyse der Sprachformen sind Einsichten der Gattungskritik, Linguistik und Rhetorik aufzunehmen; so lässt sich zeigen, dass der ðImperativÐ nicht immer imperativisch formuliert wird, stattdessen formuliert Paulus präskriptiv und de skriptiv, stellt rhetorische Fragen, zitiert Lasterkataloge, sucht Exempla etc.

2) Normen und Maximen:

Welche leitenden Normen und Handlungsmaximen werden genannt?


Mit »Norm« oder »Handlungsmaxime« soll hier ­ in Anknüpfung an die weite Definition von M. Forschner101 ­ ein Grundsatz bezeichnet werden, der einen Sollensanspruch an das Verhalten des Einzelnen bzw. einer Gruppe stellt. Statt der einzigen Norm des Heilsindikativs kann man bei Paulus all gemeine Moralinstanzen wie »Natur« oder »Sitte/Gewohnheit« und institu tionalisierte Moralkodizes (z. B. die Tora) differenzieren. Selbst einzelne Per sonen können einen moralischen Status erlangen, wenn sie innerhalb einer Bezugsgruppe Autorität genießen, so etwa Jesus oder auch Paulus selbst. Schließlich kann eine Norm auch eine ideale Zielvorstellung bezeichnen, die über die faktische Geltung von Regeln hinausgeht.

Weiterführend ist ferner die Differenzierung zwischen formalethischen Prinzipien (z. B. goldene Regel) und einzelnen materialethischen Gütern (z. B. â , à ¿•Ë), die als Begründungsinstanzen angeführt werden können.

3) Traditionsgeschichte einzelner Normen/Moralinstanzen:

In welchem traditions- und zeitgeschichtlichen Zusammenhang stehen diese Normen?


Hier wäre m. E. der Ort, nach dem traditions- und religionsgeschichtli chen Hintergrund paulinischer Normen zu fragen. Dabei ist es im heuris tischen Sinne hilfreich, zunächst idealtypisch zwischen jüdischen und griechischen Ethiken zu differenzieren. Gleichwohl zeigt gerade das helle nistische Judentum ­ oder etwa die Rolle des Gesetzes im nicht-jüdischen Dis kurs,102 dass zu einseitige Festlegungen hinterfragt werden müssen. Ferner sind traditionsgeschichtliche Zusammenhänge in zeitlicher und auch geographischer Hinsicht immer kritisch zu prüfen. Statt monokausaler Ableitungen sollte das Ziel dieses Methodenschrittes nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Erarbeitung von Bedeutungspotenzialen und Verstehenshorizonten sein.

4) Wertelogik:

Welcher innere Zusammenhang verschiedener Normen wird hergestellt? Welche Gewichtung der Normen, welche Wertehierarchie ist erkennbar?


Die unterschiedlichen Normen stehen bei Paulus nicht gleichrangig ne beneinander. Sie werden bewertet und innerhalb einer Wertehierarchie in Beziehung gesetzt. Erst so wird jedoch das eigenständige Profil einer paulinischen Handlungsreflexion erkennbar. Will man die Verwendung von Normen bei Paulus in dieser Hinsicht analysieren, ist es hilfreich, in Anknüpfung an moralphilosophische Diskussionen zwischen einem »klassifikatorischen« und einem »komparativen« Wertebegriff zu differenzieren.103

5) Ethische Argumentation/Begründungsform:

Nach welcher internen Begründungsstruktur, nach welcher ethischen Argumen tationsweise erfolgt das ethische Urteil?


Die Ethik fragt nach der internen Begründungsstruktur, nach der eine Norm oder Handlung als ðgutÐ oder ðrichtigÐ bewertet wird. Ethik ist deshalb mehr als die rhetorische Deskription des Argumentationsmusters, auch wenn diese bei der Wahrnehmung der ethischen Argumentationsmethode von großem Nutzen sein kann. Für die Analyse der ethischen Begründungsstruktur ist die seit C. D. Broad104 innerhalb ethischer Theorie geläufige Differenzierung zwischen »deontologischer« und »teleologischer« Argumentation in struktiv. Deontologisch soll die ethische Argumentation heißen, wenn aus einer vorgegebenen Norm (griech. e ¤Ô ­ das Erforderliche, die Pflicht) die sittlich richtige Handlung deduziert wird (Imperativ: Tue das vorgegebene Gute um seiner selbst willen!). Teleologisch oder konsequentialistisch verläuft die Be gründung, wenn sich der Wert einer Handlung an den Handlungszielen (griech. e Ù¤ÏÔ ) bzw. -folgen bemisst (Imperativ: Handle so, dass ein gesetztes Ziel erreicht wird!). Darüber hinaus hat etwa A. Pieper sieben weitere ethische Begründungsmuster differenziert, wie z. B. die diskursive, dialektische, analogische Methode,105 die als heuristisches Instrumentarium dienen können.

6) Ethischer Urteilsträger:

Wer ist ethisches Subjekt/ethischer Entscheidungsträger? Durch welche Faktoren wird das ethische Subjekt konstituiert?


Um ein ethisches Urteil zu fällen, bedarf es eines ethischen Subjekts,106 im Sinne einer personalen Entscheidungsinstanz. Ganz unterschiedliche Faktoren bestimmen das ethische Subjekt bei seiner Urteilsfindung. Hierbei stellt sich die Frage, welche Bedeutung etwa der Vernunft (vgl. Röm 12,1; Phil 4,8), den Affekten (vgl. 1Kor 9,16; Röm 7,15) oder dem Gewissen zukommt. Ist die Entscheidung ðautonomÐ oder ðheteronomÐ getroffen worden? Welche Präferenzordnung wird vollzogen? In welcher Beziehung steht der ethische Entscheidungsträger zu anderen Personen oder übergeordneten Instanzen, Kräften oder Mächten (vgl. etwa Röm 7,18 f.)? Wie verhalten sich Individualethik und Sozialethik zueinander, kann das Subjekt etwa auch eine kollektive Größe sein?

7) Gelebtes Ethos/Wirkung:

Welchem konkreten Ethos korrespondiert oder widerspricht die ethische Argumentation?


So sehr es im heuristischen Sinn hilfreich ist, die Normenerhebung und Handlungsbegründung zunächst von ihrer faktischen Umsetzung zu unterscheiden, so wenig ist sie doch davon zu scheiden. Ethik ist schließlich die Reflexion eines gelebten Ethos und deshalb reziprok mit ihm verwoben. So können und müssen auch die sozialgeschichtlich zum Ethos der Gemeinden erhebbaren Aspekte in das ethische Gesamtsystem einbezogen werden. Die Trennung zwischen Ethos und Ethik ermöglicht allerdings auch, die kontrafaktische Funktion ethischer Reflexion im Blick zu behalten, so schwer diese auch im Einzelfall zu benennen ist, wenn es der Text nicht selbst tut.

8) Geltungsbereich:

Welcher Geltungsbereich einer Norm wird genannt?


Paulus behandelt vielfach konkrete ethische Fragen seiner Gemeinden. Da bei differenziert er bereits zwischen Handlungsnormen, die für ihn, seine Mitarbeiter oder für einzelne Gemeindeglieder oder die Gemeinden insgesamt gelten.107 Darüber hinaus trifft er auch allgemein-anthropologische Werturteile, die weit über die konkrete Situation hinausgehen. Ferner entkontextualisiert der kanonische Überlieferungsort die konkreten Einzelfallentscheidungen und verleiht ihnen universalen Anspruch, den es hermeneutisch zu reflektieren gilt. So ist hier die Frage nach unterschiedlichen Reichweiten und Geltungsbereichen der ethischen Urteile gestellt, das heißt, es geht um das Verhältnis von Partikularismus und Universalismus.


4. Zum Beispiel: Aspekte einer ðimpliziten EthikÐim 1. Korintherbrief

Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es nicht möglich, dieses Modell einer ðimpliziten EthikÐ des Paulus im Blick auf das Corpus Paulinum, ja nicht einmal hinsichtlich eines einzigen Briefes anzuwenden. Gleichwohl möchte ich im Sinne einer Richtungsanzeige am Beispiel des 1. Korintherbriefes einige der genannten Aspekte vertiefen.

4.1 Normen- und Werteerhebung im 1. Korintherbrief

Auch im 1Kor finden sich Spitzenformulierungen wie etwa 1Kor 6,11, die in der Forschung als »Heilsindikativ« gedeutet wurden, um die nachfolgenden »Imperative« zu begründen. Allerdings wird man der paulinischen Handlungsbegründung im 1Kor nicht ge recht, wenn diese Norm zur Basis aller nachfolgenden Moraldis kurse erhoben wird. Bereits bei einem lockeren Durchgang durch den Brief zeigt sich selbst bei der Konzentration auf begrifflich verdichtete Handlungsmaximen eine ganze Fülle von Normen, die für Paulus und/oder seine Adressaten eine Rolle spielen. Die im Folgenden aufgeführten Normen können keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern geben nur einen kleinen Einblick in die Vielfalt der rezipierten Werte.

Christus/Gemeinschaft mit Christus: 1Kor 1,9; 3,11.23; 5,7 (sein Tod als Passalamm);

6,15; 7,22; 11,1; 12 passim (als Leib)

Geist (Gottes) (¼ ܵ ÔÜ): 1Kor 2,4.12; 3,16; 6,17.19; 12,11 u. a.

Heiligkeit/Heiligung (± Ô , ê µÞ ): 1Kor 3,17; 6,11.19; 7,14.34; 14,33

Paulus selbst (als Vorbild): 1Kor 4,16; 11,1

Pflicht (çÊ ): 1Kor 7,3; 11,7.10 (vgl. 7,36)

Jesus-Logion: 1Kor 7,10 f.; 9,14; vgl. 11,23­25

Liebe (à ¿¼ ): 1Kor 8,1­3; 13 passim; 16,14; vgl. 4,21

Gewissen ( ): 1Kor 8,7.10.12; 10,27­29 (vgl. 1Kor 4,4)

Freiheit (â ): 1Kor 9,1.19; 10,29 (vgl. 1Kor 7,21 f.;

7,39)

Tora-Gesetz: ( ÞµÔ ) 1Kor 9,8­10.20; 14,34; 15,56

Evangelium ( é ¤ Ô ): 1Kor 9,12.23

Affekte z. B. Zwang (à ¿ ):

Begierde (â¼ µ ): 1Kor 9,16; 10,6

Ehre Gottes ( ÞÍ ÔÜ): 1Kor 10,31

Natur (Ê ): 1Kor 11,14; vgl. 2,14

(natürlicher Mensch)Moral/Sitte ( , ¼ ¤¼Ô , q Ô ): 1Kor 11,13.16; 15,33; allg. Gewohnheit auch 1Kor 8,7; 9,7

4.2 Traditionsgeschichte und Gewichtung einzelner Normen

Es wäre nun notwendig, jede einzelne dieser Normen hinsichtlich ihrer tra ditionsgeschichtlichen Herkunft, ihrer Verwendung im Urchristentum sowie ihrer paulinischen Modifikation und Bewertung zu untersuchen. Welchen ethischen Wert hat etwa der Hinweis des Apostels auf die »Sitte/Gewohnheit« ( , ¼ ¤¼Ô 108, q Ô ) als Moralinstanz (1Kor 8,7; 11,13.16; 15,33109), gerade wenn er in anderen Zusammenhängen die Bedeutung der ðNeuheitÐ110 (1Kor 11,25; 2Kor 5,17; Gal 6,15) hervorhebt? Warum wird der Natur (Ê ) bei Paulus ein offenbar geringer Stellenwert beigemessen, während sie in der Stoa Maßstab und oberste Instanz des Handelns war?111 Wird vielleicht verständlicher, warum Paulus mit dem Begriff des Gewissens ( Ë ) ausgerechnet die »Schwachen«112 charakterisiert (1Kor 8,7­12; 10,25­29), wenn man annehmen kann, dass er auf eine umgangssprachliche, volkstümliche Verwendung des Konzepts113 zurückgreift und nicht auf einen ­ wie man früher glaubte­ Begriff der stoischen Philosophen? Und gab es nicht schon in der stoischen Diskussion114 ein »paradoxes Freiheitsverständnis«115, das jedoch durch Autonomie und Selbstbeherrschung, und nicht wie bei Paulus durch eine neue selbstgewählte Bindung an Christus ermöglicht wird (1Kor 7,20­23)? Ferner stellt sich mit dem paulinischen Verweis auf so genannte »Herrenworte« (1Kor 7,10 f.; 9,14) die Frage nach den traditionsgeschichtlichen Ursprüngen dieser dezidiert urchristlichen Norm und ihrer Bedeutung zur Zeit des Paulus.116 Spätestens bei dem komplexen Thema der Tora-Rezeption117 wird einsichtig, dass im Rahmen dieses Beitrags eine sachgemäße Diskussion zu Hintergrund und Bedeutung dieser Normen nicht geleistet werden kann.

Zusammenfassend lässt sich hier nur so viel sagen: Die Handlungsnormen, die Paulus in seiner ethischen Argumentation als Begründungsinstanzen anführt, sind auch hinsichtlich ihrer traditionsgeschichtlichen Hintergründe vielfältig. Einerseits rekurriert er auf Handlungsmaximen der Popularmoral wie »Sitte« und »Gewissen«, andererseits greift er z. B. mit »Freiheit« einen Leitbegriff hellenis tischer Ethiktheorie auf, der besonders auch in der stoischen Philosophie diskutiert wurde. Daneben bleibt die »Tora« als die maßgeb liche jüdische Begründungsinstanz gültig und wird mit Leitnormen wie »Heiligkeit« und »Liebe«118 hervorgehoben. Schließlich wird mit den »Herrenworten« eine neue, erst urchristlich etablierte Norm zur Geltung gebracht. Jeder zu einseitigen Festlegung, die Paulus der jüdisch-halachischen oder hellenistisch-stoischen Ethik-Tradition zuordnen will, wird hier der Boden entzogen.

Paulus rezipiert diese Normen weder bloß unkritisch noch rein kontrastiv; vielmehr werden sie innerhalb seiner Argumentation modifiziert, bisweilen auch relativiert oder kritisiert, in Beziehung gesetzt und hierarchisch geordnet ­ eben innerhalb einer eigenen komparativistischen Axiomatik und Werte-Ethik verortet. Das Neue und Eigene der paulinischen Ethik darf hierbei nicht auf die christologische ðBegründung und MotivierungÐ von Handlungsnormen beschränkt werden, sondern kann in der Modifikation und Gewichtung geprägter Normen, in der ðKonstruktionÐ neuer Ma ximen (z. B. ÞµÔ Ã ÔÜ in 1Kor 9,21) wie auch in der Art der ethischen Begründung erkannt werden. Um diese spe zifisch pau linische Inanspruchnahme unterschiedlicher Normen we nigstens ansatzweise wahrnehmen zu können, möchte ich nun ab schlie ßend einen Argumentationsgang am Beispiel von 1Kor 9 etwas näher in den Blick nehmen.

4.3 Wertelogik und ethische Argumentation in 1Kor 9

1Kor 9 ist in mehrfacher Hinsicht ethisch interessant: Den Ausgangspunkt stellt ein Konflikt dar, der nach ethischer Bewertung verlangt: Das von Paulus und Barnabas (1Kor 9,6) praktizierte Verhalten bei der Unterhaltsregelung differiert von dem anderer Apostel. Paulus versucht deshalb in 1Kor 9 sein eigenes Tun zu rechtfertigen und argumentativ zu begründen. Zugleich stellt er unter Berufung auf verschiedene Normen auch das begründete Recht für abweichendes Verhalten heraus. Schließlich appelliert er durch eine vereinnahmende Rhetorik (16 Fragen) an das Verhalten der Korinther, die letztlich in der Rahmen-Debatte um das Götzenopferfleisch (1Kor 8­10119) imitativ seinem Beispiel folgen sollen (1Kor 11,1).120

Die Normbegründung für das Recht auf Lohn des Arbeiters (1Kor 9,7­14)

In den Versen 7­14 versucht Paulus das Unterhaltsrecht eines Arbeiters durch Bezugnahme auf verschiedene Handlungsnormen zu begründen. Dabei lassen sich innerhalb zweier größerer Ab schnitte121 vier Argumentationslinien unterscheiden: Zuerst führt Paulus Beispiele aus dem alltäglichen Erfahrungsbereich an (Soldat, Weinbauer, Hirte ­ V. 7) und untermauert diese mit dem Schrift zitat vom »dreschenden Ochsen« (Dtn 25,4 ­ V. 9), das er auf den Menschen bezieht. Was aber im weltlichen Bereich gilt, darf auch auf den sakralen Dienst übertragen werden. Deshalb erinnert der Apostel daran, dass auch die Tempel- und Altardiener ihren Anteil bekommen (V. 13). Zuletzt dürfen aber auch die christlichen Missionare von ihrer Verkündigungsarbeit leben, was Paulus von einem Wort des Herrn ableitet (V. 14).

Insgesamt kann man innerhalb der Verse 7­14 einen übergeordneten Normsatz erkennen, der durch unterschiedliche normative Instanzen abgesichert und legitimiert werden soll:

Ethischer Leitsatz: Ein Arbeiter soll/darf von seiner Arbeit leben.

Begründende Normen: 1) Sitte/Alltagsethos: Soldat, Weinbauer, Hirte (V. 7)

2) Tora: Schriftzitat vom dreschenden Ochsen (V. 9)

3) Sitte/Gruppenethos: Priester/Altardiener (V. 13)

4) Herrenwort (V. 14)

Versucht man in der rhetorischen Anordnung dieser Normen eine implizite Wertehierarchie zu erkennen, kann man feststellen, dass Sitte und Alltagsmoral jeweils zuerst genannt werden, während ÞµÔ und Þ Ô Ô in steigernder Absicht am Ende der je weiligen Unterabschnitte genannt werden. Angesichts der Klimax innerhalb des gesamten Abschnitts kann man wiederum eine Höherwertung des sakralen gegenüber dem profanen Alltagsethos und vom Jesuswort gegenüber dem alttestamentlichen Gesetz er kennen. Das Jesuslogion markiere ­ so etwa Chr. Wolff ­ »nach dem Erfahrungsbeweis (V. 7) und dem alttestamentlichen Gesetz (V. 8­12) den Höhepunkt in der Argumentation«.122 Die rhetorisch-kompositionelle Analyse des Abschnitts zeigt zugleich die hinter der Argumentationskette stehende Wertehierarchie des Apostels, die bezüglich der genannten Normen wie folgt aussieht: Ethos (profan ­ sakral) > Tora > Herrenwort.

Der paulinische Zwang zur Freiheit

Doch welchen Stellenwert haben nun die genannten Instanzen innerhalb der ðimpliziten EthikÐ des Paulus? Diese Frage stellt sich vor allem deshalb, weil Paulus das mühsam begründete Recht auf Unterhalt selbst nicht in Anspruch nimmt und stattdessen mit Nachdruck seinen Verzicht erklärt. Setzt diese Verzichtserklärung des Paulus auch die genannten Normen außer Kraft und macht sie prinzipiell bedeutungslos? Wird hier einmal mehr demonstriert, dass für Paulus zeitgenössisches Erfahrungsethos, jüdisches Gesetz und sogar das Herrenwort (z. B. als Wort des irdischen Jesus) angesichts des Evangeliums als normative Instanzen ans Ende gekommen sind?

Obgleich Paulus seinen persönlichen Verzicht erklärt, bestreitet er doch keineswegs die Gültigkeit der genannten Normen. Im Ge genteil. Schon das beim Herrenwort verwendete Verb ¿ (befehlen)123 unterstreicht die Autorität und Verbindlichkeit des Jesuslogions, dessen bleibende Gültigkeit durch die Verwendung des Aorists und des Kyrios-Titels zusätzlich untermauert wird.124 Ferner wird die Gültigkeit der Normen dadurch unterstrichen, dass Paulus sich in V. 15 gegen ihre mögliche Überzeugungskraft absichern muss: »Ich schreibe nicht deshalb davon, dass es in meinem Fall so geschieht.« Vor allem spricht aber auch die innere Logik eines Verzichts gegen eine Entwertung. Nur bei fortdauernder Gültigkeit der genannten Handlungsnormen ist die von Paulus gewählte Dis tanzierung ein wirklicher Verzicht.

Entsprechend bestätigt es auch der Analogieschluss im Gesamtzusammenhang: Die Starken in Korinth sollen nicht davon überzeugt werden, dass ihr Verhalten falsch wäre. Vielmehr ist die Argumentation der Starken, dass es keine Götzen gebe und deshalb das Fleisch unverdächtig sei, vollkommen richtig ­ wie auch das Unterhaltsrecht durch die genannten Normen für Paulus ethisch valide begründet ist.

Doch auf Grund welcher Normen, durch welche Argumente sieht sich Paulus ermächtigt, seinen Verzicht zu begründen? Hier kommt eine weitere Norm ins Spiel, die â . Der Begriff umrahmt inklusionsartig die ganze Argumentation (1Kor 9,1.19), und auch inhaltlich steht das Verhältnis von Freiheit und Recht am Exemplum der Person des Paulus im Mittelpunkt.125 Die Freiheit des Apostels wird zunächst darin sichtbar, dass er auf den zustehenden Lebensunterhalt verzichten kann. Paulus ist ethisch betrachtet frei, die in 1Kor 9,7­14 genannten normativen Instanzen höheren Werten unterzuordnen. Die Freiheit wird hierbei allerdings nicht ihrerseits zur deontologischen Norm, der unbedingt Folge zu leis ten wäre. Schon gar nicht kann Freiheit im populistischen Sinn mit autonomer Unbeschränktheit verwechselt werden. Paulus macht vielmehr den heteronomen Charakter seines »paradoxen Freiheitsverständnisses« unmissverständlich deutlich. Er handelt nicht nach autonomem Willen, sondern unterliegt ­ paradox formuliert ­ in seiner Freiheit einem Zwang (1Kor 9,16 f.),126 nämlich dem Zwang, das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen. Die christliche Freiheit erwächst, ganz wie er es wenige Kapitel zuvor beschrieben hatte, aus einer neuen ðUnfreiheitÐ, aus der Bindung an Christus. Doch der Freie ist nicht nur ÔÜ Ô Ã ÔÜ (1Kor 7,22),

Summary

The article first examines the efficacy of the formulation »indi cative and imperative« which was introduced by Bultmann into the debate on Pauline ethics. The result shows that the oversimplified indicative-imperative schema does not do justice to the complexity and diversity of the Pauline foundation of rules and should be abandoned. Secondly, recent alternative approaches to Pauline ethics are outlined, although traditio-historical, theolo gical, linguistic and socio-historical approaches remain limited in their own ways. The radical consequence of a renouncement of not only the indicative-imperative schema but also completely of the im position of an »ethic« of Paul in the sense of a reflective theory of action is then to set against this an »implicit« ethic that includes eight elements: forms of speech, norms, contexts, logic of values, forms of argumentation, subject of action, community ethos and claim to validity. The individual aspects of such an approach are examined more closely with the example of the First Letter to the Corinthians.

Fussnoten:

*) Überarbeiteter Vortrag bei der Fachgruppentagung Neues Testament der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie in Berlin, Juni 2004. Der Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten. Ich danke Gabi Kern und K.-W. Niebuhr für die Durchsicht des Artikels.1) R. Bultmann, Das Problem der Ethik bei Paulus, ZNW 23 (1924), 123­140 (wieder in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, hrsg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 36­54).

2) Einen Überblick über die Forschungen zur paulinischen Ethik seit A. v. Harnack verschafft der Sammelband von B. S. Rosner (Hrsg.), Understanding Paul¹s Ethics. Twentieth Century Approaches, Grand Rapids 1995; vgl. für die Forschung zwischen 1945 und den 80er Jahren den Bericht bei H. Hübner, Paulusforschung seit 1945. Ein kritischer Literaturbericht, ANRW II 25,4 (1987), 2649­2840, hier 2802­2808; ferner F. W. Horn, Ethik des Neuen Testaments 1882­1992, ThR 60 (1995), 32­86; H.-K. Chang, Neuere Entwürfe zur Ethik des Neuen Testaments im deutschsprachigen Raum. Ihre Sichtung und kritische Würdigung, Univ. Diss., Erlangen-Nürnberg 1995, hier 19­25.35­38.56­65 (allerdings nur bis Marxsen 1989); W. L. Willis, Bibliography: Pauline Ethics, 1964­1994, in: E. H. Lovering/J. L. Sumney (Hrsg.), Theology and ethics in Paul and his interpreters, FS V. P. Furnish, Nashville 1996, 306­319; D. G. Horrell, Approaches to Pauline Ethics. From Bultmann to Boyarin, in: D. G. Horrell, Solidarity and Difference. A Contemporary Reading of Paul¹s Ethics, London-New York 2005, 7­46.

3) So wiederum R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, durchg. u. erg. v. O. Merk, Tübingen 41984, 335.

4)So etwa J. Eckert, Indikativ und Imperativ bei Paulus, in: K. Kertelge (Hrsg.), Ethik im Neuen Testament, QD 102, Freiburg i. Br. u. a. 1984, 168­189, hier 168 f.

5)Als Beispiel sei hier nur auf die Lexikonartikel von W. Schrage (Art. Ethik IV. Neues Testament, TRE 10, 1982, 435­462, hier 445 f.), J. Hainz (Art. Ethik NT, NBL 1, 1991, 610­613, hier 612) und F. W. Horn (Art. Ethik. NT, RGG9 2, 1999, 1608 f.) verwiesen

.6) Vgl. das Kontrastprogramm ferner in Phil 2,12­2,13; 1Kor 5,7; Röm 6,1 ff.­6,12 ff.

7) Vgl. etwa Röm 12,20; 13,3.10.14; 1Kor 16,10; 2Kor 13,7 u. a. vielfach mit den Begriffen ¼Ô Ö und â ¿™ .

8) A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 21954, 287.

9) H. Windisch, Taufe und Sünde im ältesten Christentum bis auf Origenes, Tübingen 1908, 104; für Wernle spiegeln die Heilsaussagen von Paulus den en thusiastischen Idealismus von Neubekehrten, während die Imperative nachträglich die Wirklichkeit des christlichen Lebens einholen mussten, vgl. P. Wernle, Der Christ und die Sünde bei Paulus, Freiburg i. Br.-Leipzig 1897.

10) Vgl. Bultmann, Problem der Ethik (s. Anm. 1), 123.

11) Vgl. Bultmann, a. a. O., 123­135.

12) Bultmann, a. a. O., 136.

13) So Bultmann, a. a. O., 123.

14) Bultmann, a. a. O., 140.

15) W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen, 5., neubearb. u. erw. Aufl. 1989, 172.

16) Teilweise wurde das Schema sogar auf die Ethik des Neuen Testaments oder gar auf die Biblische Ethik übertragen, so z. B. Eckert, Indikativ und Imperativ (s. Anm. 4), 175: »Es gehört zur Grundstruktur des Glaubens Israels, daß Gottes Wort die Antwort des Menschen zur Folge hat, Erwählung, Rettung und Gewährung des Bundes die Verpflichtungen auf der Seite der Menschen nach sich ziehen und Gaben Aufgaben sind.«

17) Forschungsüberblicke über die Rezeption des Indikativ-Imperativ-Modells finden sich bei M. Parsons, Being precedes Act. Indicative and Impera tive in Paul¹s Writings, in: Rosner, Understanding Paul¹s Ethics (s. Anm. 2; zuerst 1988), 217­249; Eckert, Indikativ und Imperativ (s. Anm. 4), 169­175; T. Söding, Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agape im Rahmen der paulinischen Ethik, NTA 26, Münster 1995, 28­34.275­277; J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids u. a. 1998, 626­631.

18) H. Windisch, Das Problem des paulinischen Imperativs, ZNW 23 (1924), 265­281, 272.

19) Vgl. E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 31968, 181­193, 188.

20) U. H. J. Körtner, Rechtfertigung und Ethik bei Paulus. Bemerkungen zum Ansatz paulinischer Ethik, WuD 16 (1981), 423­435.

21) O. Merk, Handeln aus Glauben. Die Motivierungen der paulinischen Ethik, MThSt 5, Marburg 1968.

22) Vgl. J. Blank, Indikativ und Imperativ in der paulinischen Ethik, in: Ders., Schriftauslegung in Theorie und Praxis, BiH 5, München 1969, 144­157, 148.

23) W. Nauck, Das Ôs -paräneticum, ZNW 49 (1958), 134 f.

24) K. Niederwimmer, Das Problem der Ethik bei Paulus, ThZ 24 (1968), 81­92, 84.

25) D. Zeller, Wie imperativ ist der Indikativ?, in: Kertelge (Hrsg.), Ethik im Neuen Testament (s. Anm. 4), 190­196, 190.

26) Schrage, Ethik des Neuen Testaments (s. Anm. 15), 174.

27) Schrage, a. a. O., 175.

28) Schrage, a. a. O., 174.

29) C. Landmesser, Der paulinische Imperativ als christologisches Performativ, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Jesus Christus als Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums, FS O. Hofius, BZNW 86, Berlin-New York 1997, 543­577, 575.

30) Landmesser, a. a. O., 546.

31) Landmesser, a. a. O., 577.

32) H. Weder, Gesetz und Gnade. Zur Lebensgrundlage des ethischen Handelns nach dem Neuen Testament, in: K. Wengst/G. Saß (Hrsg.), Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels, FS W. Schrage, Neukirchen-Vluyn 1998, 171­182, 173.

33) Weder, a. a. O., 182.

34) K. Backhaus, Evangelium als Lebensraum. Christologie und Ethik bei Paulus, in: U. Schnelle u. a. (Hrsg.), Paulinische Christologie. Exegetische Beiträge, FS H. Hübner, Göttingen 2000, 9­31, 13.

35) Backhaus, ebd.

36) U. Schnelle, Die Begründung und die Gestaltung der Ethik bei Paulus, in: R. Gebauer/M. Meiser (Hrsg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums, FS O. Merk, MThSt 76, Marburg 2003, 109­131, 116; ders., Paulus. Leben und Denken, Berlin-New York 2003, 629­644, 630.

37) Schnelle, Begründung (s. Anm. 36), 117. Vgl. ­ mit Bezug auf das ganze Neue Testament ­ ähnlich auch H. Löhr, Ethik und Tugendlehre, in: K. Erlemann u. a. (Hrsg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 2005, 151­180, hier 152: »Deute-Schemata wie die von ðIndikativ und ImperativÐ, ðZuspruch und AnspruchÐ oder ðRechtfertigung und HeiligungÐ werden dem differenzierten Textbefund nicht gerecht.«

38) Horrell, Solidarity and Difference (s. Anm. 2), 10­15, 14.

39) Nach Horrell korrespondieren Weltsicht (»this is«) und Ethos (»the ought«) einem gemeinschaftsstiftenden Grundmythos (»identity- and community-forming narrative«) und gelebten Ritualen (»this myth, enacted in ritual«). Vgl. Horrell, a. a. O., 83­98. Vgl. die Nähe zu G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000.

40) Vgl. entsprechend 1Thess 5,8/Röm 13,12 (Waffen); 1Kor 5,7b/1Kor 5,7a.8 (Sauerteig); 1Kor 6,11/1Thess 4,3 f. (Heiligung); 2Kor 5,18 f./2Kor 5,20 (Versöhnung); Röm 6,2.10/Röm 6,11 f. (Befreiung von Sünde).

41) So treffend auch die Formulierung bei Backhaus, Evangelium (s. Anm. 34), 12: »Der Imperativ erscheint, auf dem Indikativ festgemauert, nur um so unausweichlicher: Eingeforderte Dankbarkeit Š dürfte die bedrückendste Form des Gehorsams darstellen.«

42) Für Moore zählen Sollens- und Seinsbegriffe zu zwei verschiedenen, nicht aufeinander rückführbare Begriffsklassen, vgl. G. E. Moore, Principia Ethica, Stuttgart 1970, 41­52.

43) Vgl. H. Preisker, Das Ethos des Urchristentums, Gütersloh 21949, z. B. 240.

44) Merk, Handeln aus Glauben (s. Anm. 21), 234 f.

45) So etwa O. Kaiser, Die Furcht und die Liebe Gottes. Ein Versuch, die Ethik Ben Siras mit der des Apostels Paulus zu vergleichen, in: R. Egger-Wenzel (Hrsg.), Ben Sira¹s God. Proceedings of the International Ben Sira Conference, Durham-Ushaw College, 2001, BZAW 321, Berlin u. a. 2002, 39­75; vgl. allgemein K.-W. Niebuhr, Hellenistisch-jüdisches Ethos im Spannungsfeld von Weisheit und Tora, in: M. Konradt/U. Steinert (Hrsg.), Ethos und Identität. Einheit und Vielfalt des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit, Studien zu Judentum und Christentum, Paderborn u. a. 2002, 27­50.

46) Vgl. P. J. Tomson, Paul and the Jewish Law. Halakha in the Letters of the Apostle to the Gentiles, CRI Sect. 3, Jewish traditions in early Christian literature 1, Assen-Maastricht 1990; B. S. Rosner, Paul, Scripture and Ethics. A Study of 1 Corinthians 5­7, AGJU 22, Leiden u. a. 1994; K. Finsterbusch, Die Thora als Lebensweisung für Heidenchristen. Studien zur Bedeutung der Thora für die paulinische Ethik, StUNT 20, Göttingen 1996; M. Bockmuehl, Jewish Law in Gentile Churches. Halakhah and the beginning of Christian public ethics, Edinburgh 2000.

47) So glaubt etwa A. J. Malherbe, dass sogar philosophische Schuldifferenzen bei Paulus ihren Niederschlag gefunden haben, vgl. A. J. Malherbe, Hellenistic Moralists and the New Testament, ANRW II 26,1 (1992), 267­333; ferner J. W. Masters, Rom 2,14­16: A Stoic Reading, NTS 40 (1994), 55­67; für W. Deming steht hinter 1Kor 7 eine stoische Korrektur an kynischer Eheaskese, vgl. W. Deming, Paul on Marriage and Celibacy. The Hellenistic background of 1 Corinthians 7, MSSNTS 83, Grand Rapids-Cambridge 22004; vgl. zu Paulus und der Stoa insgesamt T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000; zur stoischen Ethik vgl. M. Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Darmstadt, 2., durchges. Aufl. 1995; W. Weinkauf (Hrsg.), Die Philosophie der Stoa. Ausgewählte Werke, Stuttgart 2001, Ethik: 194­327.

48)Vgl. C. E. Glad, Paul and Philodemus. Adaptability in Epicurean and Early Christian Psychagogy, NT.S 81, Leiden u. a. 1995.

49) F. G. Downing, Cynics, Paul and the Pauline Churches. Cynics and Chris tian origins II, London u. a. 1998.

50)So etwa D. Zeller, Konkrete Ethik im hellenistischen Kontext, in: J. Beutler (Hrsg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament, QD 190, Freiburg i. Br. u. a. 2001, 82­98; ders., Die Worte der Sieben Weisen und die neutestamentliche Paränese, in: H. Bürkle (Hrsg.), Grundwerte menschlichen Verhaltens in den Religionen, Frankfurt a. M. 1993, 98­100; A. Dihle spricht sogar von einer »Vulgärethik«, vgl. A. Dihle, Art. Antike und Christentum, TRE 3, 1978, 50­99, hier 56 f.

51) Vgl. dazu R. Hoppe, Der Mensch auf der Suche nach sich selbst. Zu einigen Ansätzen griechisch-hellenistischer und paulinischer Ethik, BiKi 40 (1985), 116­124; ferner Beutler (Hrsg.), Der neue Mensch (s. Anm. 50), passim.

52) So z. B. P. F. Esler, Paul and Stoicism. Romans 12 as Test Case, NTS 50 (2004), 106­124, der die Differenzen hervorhebt; geringen Einfluss nehmen auch M. Hengel/A. M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, WUNT 108, Tübingen 1998, 260­267, an.

53) Der ðTugendbegriffÐ wird zwar in Phil 4,8 verwendet, spielt aber insgesamt keine Rolle in der paulinischen Argumentation; Ô und ¼ werden in der Stoa auf den zwischenmenschlichen Bereich begrenzt (im Sinne von ðsozialer GerechtigkeitÐ bzw. ðZuverlässigkeitÐ, so etwa auch Gal 5,22; Tit 2,10), während sie für Paulus Zentralbegriffe zur Charakterisierung des Gottesverhältnisses darstellen.

54) Vgl. G. Theißen, Urchristliches Ethos. Eine Synthese aus biblischer und griechischer Tradition, in: Chr. Strecker (Hrsg.), Kontexte der Schrift II: Kultur, Politik, Religion, Sprache ­ Text, FS W. Stegemann, Stuttgart 2005, 209­222, zu Paulus bes. 211­214.

55) So bereits Bultmann, Problem der Ethik (s. Anm. 1), 138; ferner E. Dinkler, Zum Problem der Ethik bei Paulus. Rechtsnahme und Rechtsverzicht (1Kor 6,1­11), in: Ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur christli chen Archäologie, Tübingen 1967, 204­240; in ähnliche Richtung noch Schnelle, Paulus (s. Anm. 36), 643: »Nicht im Materialgehalt seiner Weisungen setzt Paulus neue Akzente, sondern in der Begründung« (kursiv U. S.); kritisch dazu Schrage, Ethik des Neuen Testaments (s. Anm. 15), 204 f.

56) Hübner, Paulusforschung (s. Anm. 2), 2802; in ähnlicher Weise auch Merk, Handeln aus Glauben (s. Anm. 21), 247 f.: »Alles Begründen ethischer Weisungen ist für den Apostel nichts anderes als die Entfaltung des rechtfertigenden und versöhnenden Handelns Gottes, ist die Bezeugung des Anspruchs Gottes auf die ihm gehörende Welt und die Bekundung seiner Treue zu seiner Gemeinde, die von Ostern her lebt und auf ihren kommenden Herrn wartet.«

57) Vgl. F. W. Horn, Wandel im Geist. Zur pneumatologischen Begründung der Ethik bei Paulus, KuD 38 (1992), 149­170. Ferner G. Haufe, Das Geistmotiv in der paulinischen Ethik, ZNW 85 (1994), 183­191.

58) Horn, Wandel im Geist (s. Anm. 57), 170.

59) T. J. Deidun, New Covenant Morality in Paul, AnBib 89, Rom 1981.

60) H. Cruz, Christological Motives and Motivated Actions in Pauline Par aenesis, EHS.T 396, Frankfurt a. M. u. a. 1990.

61) Backhaus, Evangelium (s. Anm. 34), 20.

62) Backhaus, a. a. O., 16­20.

63) Backhaus, a. a. O., 21.

64) Schnelle, Begründung (s. Anm. 36), 117 (kursiv R. Z.).

65) Schnelle, a. a. O., 118; ähnlich ders., Paulus (s. Anm. 36), 630 f. Vgl. dazu (über Paulus hinausgehend) R. A. Burridge, The Imitation of Jesus. An Inclusive Approach to New Testament Ethics, Grand Rapids 2006.

66) Schnelle, Begründung (s. Anm. 36), 120; ebenso Backhaus, Evangelium (s. Anm. 34), 30: »Übereinstimmung«, »In-Einklang-sein«.

67) Vgl. W. Wolbert, Ethische Argumentation und Paränese in 1Kor 7, MoThSt.S 8, Düsseldorf 1981, 54­71.

68) Vgl. R. Hasenstab, Modelle paulinischer Ethik. Beiträge zu einem Autonomie-Modell aus paulinischem Geist, TTS 11, Mainz 1977, 67­94; vgl. zuvor auch H. Schlier, Vom Wesen der apostolischen Ermahnung, in: Ders., Die Zeit der Kirche. Exegetische Aufsätze und Vorträge, Freiburg i. Br. u. a. 41966, 74­89, hier 82 f.; A. Grabner-Haider, Paraklese und Eschatologie bei Paulus. Mensch und Welt im Anspruch der Zukunft Gottes, NTA 4, Münster 1968.

69) Vgl. das Plädoyer für ein Paraklese-Modell bei Hasenstab, Modelle paulinischer Ethik (s. Anm. 68), 67­94. Ähnlich auch R. Schnackenburg, Ethische Argumentationsmethoden und neutestamentlich-ethische Aussagen, in: Kertelge (Hrsg.), Ethik im Neuen Testament (s. Anm. 4), 32­49, hier 34: »Wir sollten also eher von Paraklese als von Paränese sprechen.«

70) J. Starr/T. Engberg-Pedersen (Hrsg.), Early Christian Paraenesis in Context, BZNW 125, Berlin-New York 2004; vgl. auch W. Popkes, Paränese und Neues Testament, SBS 168, Stuttgart 1996.

71) Vgl. M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 41961, 234­265.

72) Vgl. hier die differenzierte Zusammenfassung der Diskussion bei W. Popkes, Paraenesis in the New Testament. An Exercise in Conceptuality, in: J. Starr/ T. Engberg-Pedersen (Hrsg.), Early Christian paraenesis (Anm. 70), 13­46, hier: 14 f.

73) So etwa Röm 13,13; 1Kor 5,10 f.; 6,9 f.; 2Kor 12,20; Gal 5,19­23; Phil 4,8; vgl. Eph 4,31; Kol 3,5.8.12.

74) So die Unterscheidung bei K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 217, die von M. Wolter, Die ethische Identität christlicher Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, in: W. Härle u. a. (Hrsg.), Woran orientiert sich Ethik?, MThSt 67, Marburg 2001, 61­90, hier 63, aufgenommen und ausdifferenziert wird: Protreptische Mahnungen fordern zur Beibehaltung oder Übernahme einer neuen Existenzorientierung (z. B. nach Bekehrung) auf, während es den paränetischen Mahnungen um die »Praxis des neuen Seins« geht.

75) Vgl. beispielhaft R. Zimmermann, Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis. Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfelds in Urchristentum und antiker Umwelt, WUNT II/122, Tübingen 2001, 300­325 (zu 2Kor 11, 1­4); C. Gerber, Paulus und seine ðKinderÐ. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe, BZNW 136, Berlin-New York 2005; C. A. Wanamaker, Metaphor and morality. Examples of Paul¹s moral thinking in 1 Corinthians 1­5, Neotest. 39 (2005), 409­433.

76) Vgl. als Initial H. D. Betz, Galatians. A Commentary on Paul¹s letter to the Churches in Galatia, Hermeneia, Philadelphia 21984 (1979), ferner B. L. Mack, Rhetoric and the New Testament, Guides to biblical scholarship: New Testament Series, Minneapolis 1990; M. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation. An Exegetical Investigation of the Language and Composition of 1 Corinthians, HUTh 28, Tübingen 1991; J. S. Vos, Die Kunst der Argumentation bei Paulus. Studien zur antiken Rhetorik, WUNT 149, Tübingen 2002.

77) Vgl. Wolbert, Argumentation (s. Anm. 67); F. Furger, Ethische Argumentation und neutestamentliche Aussagen, in: Kertelge (Hrsg.), Ethik im Neuen Testament (s. Anm. 4), 13­31 ­ wie auch die zugehörige Replik von R. Schnackenburg, Ethische Argumentationsmethoden (s. Anm. 69); F. Siegert, Argumentation bei Paulus, gezeigt an Röm 9­11, WUNT 34, Tübingen 1985.

78) Vgl. W. Fenske, Die Argumentation des Paulus in ethischen Herausforderungen, Göttingen 2004; leider leistet die Arbeit dann aber keine Auswertung der Textanalysen hinsichtlich der paulinischen Ethik.

79) Vgl. W. A. Meeks, The Moral World of the First Christians, LEC 6, Philadelphia 1986; ders., The Origins of Christian Morality: The First Two Centuries, London-New Haven 1993.

80) Meeks, Moral World (s. Anm. 79), 13.

81) Meeks, Origins (s. Anm. 79), 4.

82) Meeks, Moral World (s. Anm. 79), 12: »had as their primary aim the shap ing of the life of Christian communities«.

83) So der Ansatz im Sonderforschungsbereich »Ethos und Identität im frühen Christentum und seiner Umwelt« der Universität Bonn, vgl. M. Wolter, Ethos und Identität in paulinischen Gemeinden, NTS 43 (1997), 430­444; ferner Konradt/Steinert (Hrsg.), Ethos und Identität (s. Anm. 45) oder jetzt J. van der Watt (Hrsg.), Identity, Ethics, and Ethos in the New Testament, BZNW 141, Berlin-New York 2006.

84) Vgl. Wolter, Identität (s. Anm. 74), 65­71, insbesondere 68 f.

85) Schmeller spricht auf Grund der konstitutiven Bezogenheit auf ein soziales System folgerichtig vom »Gruppenethos«, vgl. Th. Schmeller, Neutestamentliches Gruppenethos, in: Beutler (Hrsg.), Der neue Mensch (s. Anm. 50), 120­134, hier 120: »Eigentlich ist jedes Ethos Gruppenethos«; vgl. früher bereits L. E. Keck, On the Ethos of Early Christians, JAAR 42 (1974), 435­452; sowie neuerdings E. D. Freed, The Morality of Paul¹s Converts, London u. a. 2005.

86) Eine entscheidende Differenz besteht jedoch darin, dass die griechisch-römischen Vereine lokal begrenzt waren, während man bei den christlichen Gemeinden (etwa des Paulus) von vornherein einen transnationalen Charakter wahrnehmen kann. Vgl. dazu J. S. Kloppenborg/St. G. Wilson (Hrsg.), Voluntary Associations in the Graeco-Roman World, London u. a. 1996; Th. Schmeller, Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine, SBS 162, Stuttgart 1995; ders., Gruppenethos (s. Anm. 85), 120­134. Th. Schmeller nennt hier drei Kriterien, die das Ethos einer Gruppe charakterisieren: 1. konkretes Verhalten (begrenztes Bewusstsein über begründende Normen); 2. typisches, überindividuelles Verhalten; 3. Orientierung an Leitbildern.

87) Vgl. D. Boyarin, A radical Jew. Paul and the politics of identity, Berkeley u. a. 1994; R. Hays, The Moral Vision of the New Testament: Community, Cross, New Creation. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, Edinburgh 1997; Horrell, Solidarity and Difference (s. Anm. 2). Während sich Boyarin um eine abstrahierte und formalethische Übertragung der Dialektik jüdischer und christlicher Normen bemüht (vgl. Boyarin, a. a. O., 235.257), ist Hays vor allem an der hermeneutischen Frage der Schriftverwendung im ethischen Dis kurs interessiert (Hays, a. a. O., 207­313). Horrell hingegen versucht die paulinische Ethik mit ethischen Systemen der Gegenwart ins Gespräch zu bringen, wobei er besonders an die aktuelle Debatte zwischen liberalen und kommunitaristischen Entwürfen anknüpft (Horrell, a. a. O., 47­82; 273­291).

88) Zu beachten ist hierbei, dass viele Arbeiten zu dem Ergebnis einer kritischen Rezeption durch Paulus kommen, die eigentliche Begründung dann aber nur noch vage beschreiben, vgl. etwa A. J. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989, 60, der von einer »combination of philosophical moral tradition and Christian religious or theological warrant« spricht.

89) So etwa Schrage, der zwischen einer christologischen, sakramentalen, pneumatologischen und eschatologischen Begründung differenziert., s. Schrage, Ethik des Neuen Testaments (s. Anm. 15), 175­191.

90) Vgl. etwa Sätze wie z. B. bei R. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments I, HThK.S 1, Freiburg i. Br. u. a. 1986, 21.23.

91) Vgl. so etwa A. Pieper, Einführung in die Ethik, 4., überarb. u. aktualisierte. Aufl., UTB.W 1637, Tübingen-Basel 2000, 24­30.

92) So die Definition bei Wolter, Identität (s. Anm. 74); wie bereits ders., Ethos und Identität (s. Anm. 83), hier 430 f.

93) Vgl. Schmeller, Gruppenethos (s. Anm. 85), hier 120; vgl. früher bereits Keck, On the Ethos (s. Anm. 85).

94) Vgl. N. Luhmann, Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1989, 358­447; für die Philosophie vgl. Pieper, Einführung (s. Anm. 91), 17; entsprechend auch die theologischen Ethiker wie Trutz Rendtorff, der von der »Theorie der menschlichen Lebensführung« spricht, vgl. T. Rendtorff, Ethik Bd. 1: Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, ThW 13,1, Stuttgart u. a. 21990, 13; ferner E. Herms, Art. Ethik, RGG4 2 (1999), 1598­1601.

95) Vgl. zu dieser Unterscheidung Pieper, Einführung (s. Anm. 91), 27 f.

96) So etwa G. Strecker, Ziele und Ergebnisse einer neutestamentlichen Ethik, NTS 25 (1978/79), 1­15, hier 1; Schrage, Art. Ethik (s. Anm. 5), 435; K. Kertelge, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Ethik im Neuen Testament (s. Anm. 4), 7; Eckert, Indikativ und Imperativ (s. Anm. 4), 168; Horn, Art. Ethik (s. Anm. 5), 1606.; P. F. Esler votiert alternativ für »Normen«, vgl. P. F. Esler, Social Identity, the Virtues, and the Good Life. A New Approach to Romans 12:1­15:13, BTB 33 (2003), 51­63, hier 55: »Norms in this sense are considerably wider than the ðethicsÐ that is regularly discovered in passages like Romans 12:1­15:13 in scholarly discussion at present.« Meeks favorisiert den Moralbegriff, Meeks, Origins (s. Anm. 79), 3­5.

97) Selbst bei der Behandlung von Einzelfällen werden solche Leitkategorien des Verhaltens erkennbar (wie z. B. das prinzipielle Scheidungsverbot in 1Kor 7), zugleich macht Paulus in 1Kor 7 aber deutlich, dass er hier kein Normenethiker ist, der deontologisch der Norm verpflichtet ist (z. B. Scheidungsverbot; Askeseforderung). Vgl. dazu auch Horn, Art. Ethik (s. Anm. 5), 1608 f.: »Obwohl es sich oft um Situationse. handelt ..., zeigt dieser Rahmen doch einen über die Situation hinaus führenden Begründungszusammenhang der E.«; W. A. Meeks, The polyphonic ethics of the apostle Paul, in: Ders., In search of the early Christians. Selected essays, hrsg. v. A. R. Hilton/H. G. Snyder, New Haven u. a. 2002, 196­209.

98) Vgl. zum Vernunftgebrauch S. K. Stowers, Paul on the Use and Abuse of Reason, in: D. L. Balch u. a. (Hrsg.), Greeks, Romans, and Christians, FS A. J. Malherbe, Minneapolis 1990, 253­286; I. W. Scott, Implicit Epistemology in the Letters of Paul. Story, experience and the spirit, WUNT II/205, Tübingen 2006, hier 53: »Paul¹s ethical teaching is often supported by reasoned argument.« Ferner dazu H. D. Betz, Das Problem der Grundlagen der paulinischen Ethik (Röm 12,1­2), in: Ders., Paulinische Studien. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 1994, 184­205, 199.

99) Vgl. dazu Aristoteles, Eudemische Ethik (übers. u. erl. v. F. Dirlmeier), Berlin 41984; ders., Nikomachische Ethik (übers. v. F. Dirlmeier), Stuttgart 2001; S. Broadie, Ethics with Aristotle, New York u. a. 1991; O. Höffe (Hrsg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995; D. Bostock, Aristotle¹s Ethics, Oxford u. a. 2001; U. Wolf, Aristoteles¹ Nikomachische Ethik, Darmstadt 2002.

100) Vgl. hier etwa die Auflistung bei Pieper, Einführung (s. Anm. 91), 185 ff.

101) Vgl. M. Forschner, Art. Norm, in: Lexikon der Ethik, hrsg. v. O. Höffe, München 1992, 200 f.

102) Vgl. hierzu schon Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134a; ausführlich H. Sonntag, NOMO ‡ . Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext, TANZ 34, Tübingen 2000, oder K. Haacker, Der ðAntinomismusÐ des Paulus im Kontext antiker Gesetzestheorie, in: Ders., Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge, Neukirchen-Vluyn 2002, 171­188, so wie die Zusammenfassung bei Schnelle, Paulus (s. Anm. 36), 579­585.

103) Vgl. F. v. Kutschera, Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen, Freiburg i. Br.-München 1973, 85­87. Dazu ein Beispiel: Die paulinische Mahnung in 1Thess 5,21 (Prüft aber alles, das Gute [ e Þ ] be haltet!) setzt eine klassifikatorische Wertung voraus, die zwischen dem Guten und dem Bösen bzw. »wertvoll« und »wertlos« unterscheidet. In 1Kor 7,38 wird hingegen eine komparative Wertelogik sichtbar: »Also, wer seine Jungfrau heiratet, der handelt gut ( á ¼Ô Ö); wer sie aber nicht heiratet, der handelt besser ( Ö Ô ¼Ô )«.

104) Vgl. C. D. Broad, Five Types of Ethical Theory, ILPP, 1930, 206 f.; sachlich­ wenn auch unter anderer Terminologie ­ bereits bei H. Sidgwick, The Methods of Ethics, London 1874, 200, bzw. F. Paulsen, System der Ethik. Mit einem Umriß der Staats- und Gesellschaftslehre, Berlin 1889, 221­250.

105) Vgl. zu den unterschiedlichen Methoden ethischer Begründung z. B. die Auflistung bei Pieper, Einführung (s. Anm. 91), 200­232.

106) Vgl. dazu M. Wolter, Ethisches Subjekt und ethisches Gegenüber. Aspekte aus neutestamentlicher Perspektive, in: H. Schmidt/R. Zitt (Hrsg.), Diakonie in der Stadt. Reflexionen ­ Modelle ­ Konventionen, Diakoniewissenschaft 8, Stuttgart u. a. 2003, 44­50.

107) Dazu ein Beispiel: Das als Jesuslogion zitierte Scheidungsverbot in 1Kor 7,11 ist allgemein formuliert; in der Parenthese scheint hingegen ein Einzelfall die Konzession zu motivieren (âa b d ¯ É ­ »wenn sie sich aber getrennt hat«). Vgl. dazu M. und R. Zimmermann, Zitation, Kontradiktion, Applikation? Die Jesuslogien in 1Kor 7,10 f. und 9,14. Traditionsgeschichtliche Verankerung und paulinische Interpretation, ZNW 87 (1996), 83­100.

108) ¼ ¤¼ noch in Eph 5,3; 1Tim 2,10; Tit 2,1; ¼ ¤¼Ô kommt außerhalb des Neuen Testaments vor in 1Makk 12,11 neben ¤Ô , ferner 3Makk 7,13; Epiktet, Diss 1,22,1; Philo SpecLeg 3,172; Ebr 194; vgl. M. Pohlenz, e ¼ ¤¼Ô . Ein Beitrag zur Geschichte des griechischen Geistes, NGWG.PH 1933, 53­92.

109) In 1Kor 15,33: õ ¯ a ïµ (Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten), liegt wohl ein Zitat von Menander (Thais Frg. 218) oder Euripides (Fr. 1024) vor, vgl. dazu W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther, EKK VII/4, Neukirchen-Vluyn 2001, 247.

110) Vgl. dazu Chr. Hoegen-Rohls, Neuheit bei Paulus. Kommunikative Funktion und theologische Relevanz der paulinischen Aussagen über den Neuen Bund, die Neue Schöpfung und die Neuheit des Lebens und des Geistes, Habil.-Schrift München 2003.

111) Entsprechend postuliert etwa Cicero: »Naturam si sequemur ducem numquam aberrabimus« (Wenn wir der Natur als Führerin folgen, werden wir niemals in die Irre gehen. Cic. Off. 1,28); vgl. ferner die so genannte Telos-Formel des Chrysipp als stoischer Leitsatz: ïµÔ Ô Ô µ¤ /à Ô Ô ÷É Ê ™É ­ der Natur gemäß/folgend leben, vgl. Stoicum Veterum Fragmenta (ed. Arnim) 1,45; 1,125; 3,4; Diogenes Laertius 7,87 f.; Epiktet Diss. 3,1,25, dazu auch Forschner, Die stoische Ethik (s. Anm. 47), 9­12; W. Schrage, Der Erste Brief an die Korinther, EKK VII/2, Neukirchen-Vluyn 1995, 521.

112) Vgl. zur Gesamtproblematik V. Gäckle, Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom. Zu Herkunft und Funktion der Antithese in 1Kor 8,1­11,1 und in Röm 14,1­15,13, WUNT II/200, Tübingen 2005; zum Begriff des »schwachen Gewissens« hier 43­46.209 f.

113) Vgl. Schnackenburg, Die sittliche Botschaft (s. Anm. 90), 48­58, hier 58: »Paulus nimmt aus der damaligen Populärphilosophie und -ethik den Begriff der Syneidesis auf«; vgl. ferner H.-J. Klauck, ðDer Gott in dirÐ (Ep. 41,1). Autonomie des Gewissens bei Seneca und Paulus, in: Ders., Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments, NTOA 29, Fribourg 1994, 11­32; zum Begriff bei Paulus H.-J. Eckstein, Der Begriff Syneidesis bei Paulus. Eine neutestamentlich-exegetische Untersuchung zum ðGewissensbegriffÐ, WUNT II/10, Tübingen 1983; Ph. Bosman, Conscience in Philo and Paul. A Conceptual History of the Synoida Word Group, WUNT II/116, Tübingen 2003.

114) Epiktet, Dissertationes ab Arriano digestae, hrsg. v. H. Schenkl, BSGRT, Leipzig 1916, Nachdruck 1965, zitiert nach R. Nickel, Handbuch der Moral. Lehrgespräche, in: Ders., Epiktet, Teles, Musonius. Wege zum Glück, München 1987, 5­198, hier 131 ff.; vgl. zur stoischen Freiheitsethik Forschner, Die stoische Ethik (s. Anm. 47), 104­113.

115) Vgl. zur Freiheit S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt, Göttingen 1989; H.-D. Betz, Paul¹s Concept of Freedom in the Context of Hellenistic Discussion about Possibilities of Human Freedom, in: Ders., Gesammelte Aufsätze Bd. 3: Paulinische Studien, Tübingen 1994, 110­125; H. Weder, Die Normativität der Freiheit. Eine Überlegung zu Gal 5,1.13­25, in: M. Trowitzsch (Hrsg.), Paulus, Apostel Jesu Christi, FS G. Klein, Tübingen 1998, 129­145; G. Dautzenberg, Freiheit im hellenistischen Kontext, in: Beutler (Hrsg.), Der neue Mensch (s. Anm. 50), 57­81; G. Theißen, Zum Freiheitsverständnis bei Paulus und Philo. Paradoxe und kommunitäre Freiheit, in: H.-R. Reuter u. a. (Hrsg.), Freiheit verantworten, FS W. Huber, Gütersloh 2002, 357­368, hier zum genannten Begriff 358.364.

116) Vgl. dazu die unter Zimmermann/Zimmermann, Zitation (s. Anm. 107), Anm. 3, angegebene Literatur; ferner J. Schröter, Anfänge der Jesusüberlieferung. Überlieferungsgeschichtliche Beobachtungen zu einem Bereich urchristlicher Theologiegeschichte, NTS 50 (2004), 53­76; zur ethischen Dimension A. Lindemann, Die Funktion der Herrenworte in der ethischen Argumentation des Paulus im ersten Korintherbrief, in: F. van Segbroeck (Hrsg.), The Four Gospels, FS F. Neirynck, BEThL 100,1, Leuven 1992, 677­688.

117) Vgl. dazu nur die unterschiedlichen Ansätze in jüngerer Zeit bei P. v. d. Osten-Sacken, Die Heiligkeit der Tora. Studien zum Gesetz bei Paulus, München 1989; J. D. G. Dunn (Hrsg.), Paul and the Mosaic Law, 3. Tübingen-Durham-Symposion 1994, WUNT 89, Tübingen 1996; S. Adam, Paulus und das Gesetz aus der Perspektive des frührabbinischen Judentums, Nachdr. Jerusalem 1994; Finsterbusch, Thora (s. Anm. 46); A. Lindemann, Die biblischen Toragebote und die paulinische Ethik, in: Ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis, Tübingen 1999, 91­114; U. Schnelle, Paulus und das Gesetz. Biographisches und Konstruktives, in: E.-M. Becker/P. Pilhofer (Hrsg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus, WUNT 187, Tübingen 2005, 245­270.

118) Vgl. dazu H. v. Lips, Heiligkeit und Liebe. Kriterien christlicher Ethik am Beispiel des 1. Korintherbriefes, in: C. Böttrich (Hrsg.), Eschatologie und Ethik im frühen Christentum, FS G. Haufe, GThF 11, Frankfurt a. M. u. a. 2006, 169­180.

119) Dazu neuerdings J. Fotopoulos, Food Offered to Idols in Roman Corinth. A social rhetorical reconsideration of 1 Corinthians 8:1­11:1, WUNT II/ 151, Tübingen 2003; auch Horrell, Solidarity and Difference (s. Anm. 2), 168­182.

120) Vgl. G. Galitis, Das Wesen der Freiheit. Eine Untersuchung zu 1Kor 9, in: L. de Lorenzi (Hrsg.), Freedom and Love. The Guide for Christian Life, Rom 1981, 127­141, 131: »Der ganze Abschnitt läuft in die Forderung aus, dass die Korinther seinem Beispiel folgen sollen, wie auch er dem Beispiel Christi folgt.« Ebenso Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation (s. Anm. 76), 247; Fotopoulos, Food (s. Anm. 119), 223.

121) Mit H. Probst, Paulus und der Brief. Die Rhetorik des antiken Briefes als Form der paulinischen Korintherkorrespondenz (1Kor 8­10), WUNT II/45, Tübingen 1991, 179.

122) Chr. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 7/1, Leipzig 1996, 195.

123) Es bezeichnet sonst bei Paulus das autoritative Gebieten des ÞµÔ (Gal 3,19) oder des Apostels selbst (1Kor 7,17; 11,34; 16,1).

124) So auch Schrage, Korinther (s. Anm. 111), 309.

125) Vgl. A. Popovic, Freedom and right of the Apostle. Gratis Proclamation of the Gospel as an example of the correct use of Freedom and Right according to 1 Cor 9:1­18, Anton. 78 (2003), 415­445.

126) Theißen spricht hier mit gewissem Recht von einem »Gegenaffekt«, Theißen, Freiheitsverständnis (s. Anm. 115), 358; zur Affektenlehre Forschner, Die stoische Ethik (s. Anm. 47), 114­141.

127) Bryon hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in 1Kor 9 nicht die Formulierung ÔÜ Ô Ã ÔÜ (wie in Röm 1,1; Gal 1,10; Phil 1,1) begegnet und der Begriff ÔåÎÔÓÞÌԗ nicht eindeutig synonym zum Sklaven steht. Vgl. J. Byron, Slave of Christ or willing servant? Paul¹s self-description in 1 Corinthians 4:1­2 and 9:16­18, Neotest. 36 (2003), 179­198.

128) Mit Recht wird mit Bezug auf 1Kor 11,1 die in 1Kor 9 intendierte ðImitatio PauliÐ an die Imitatio Christi zurückgebunden. Wenn die Korinther seinem Vorbild folgen sollen, dann folgen sie letztlich dem Vorbild Christi; so Horrell, Solidarity and Difference (s. Anm. 2), 214­222; allgemein dazu auch O. Merk, Nachahmung Christi. Zu ethischen Perspektiven in der paulinischen Theologie, in: Ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, hrsg. v. R. Gebauer, BZNW 95, Berlin-New York 1998, 302­336.

129) So etwa R. B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven-London 1989, 225: »Š Paul allows the imitatio Christi paradigm Š to override all particular ethical rules and prescriptions, even when the rule is a direct command of scripture.«

130) Vgl. Horrell, Solidarity and Difference (s. Anm. 2), 221 f., der sich auf den Begriff der Metanorm von S. Benhabib, Situating the Self. Gender, Community and Postmodernism in Contemporary Ethics, Cambridge 1992, 45, bezieht. Wenn es zu einem Konflikt zwischen Metanorm und spezifischen Regeln komme, »the latter must be subordinated to the former« (Benhabib, ebd., 45).

131) Bezeichnenderweise spricht auch Hays vom »Telos«: »The telos of such action is not just to enhance personal virtue and humility but also to secure the unity of the Community in Christ.« Hays, Moral Vision (s. Anm. 87), 43. Konkret äußert sich dieses Ziel z. B. als Rücksichtnahme auf die Gewissen der Schwachen (vgl. 1Kor 8,13: damit der Bruder kein Ärgernis nimmt) bzw. als Aufbau der Gemeinde: ¥ ì â Ôå Ô Ôµc Ï¿ Ë (vgl. 1Kor 1,10; 12,25; 14,12) bzw. Rettung der christlichen Geschwister (vgl. 1Kor 9,22; 10,33; 14,5).

132) Vgl. dazu den Entwurf von H. Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt a. M. 1995.