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Ausgabe:

September/2006

Spalte:

967–980

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hubert Knoblauch

Titel/Untertitel:

Grundlagen der qualitativen Religionsforschung

Bemerkungen zur Ethnographie der Religion in der eigenen Gesellschaft

Einleitung

Die empirische Erforschung soziologischer Aspekte der Religion ist der Theologie keineswegs fremd. Im Rahmen der Praktischen Theologie, in den Ansätzen der kontextuellen Theologie oder der empirischen Theologie wird seit langem empirisch geforscht. Trotz all der bestechenden Ergebnisse aus diesen Disziplinen scheint es jedoch, dass es einige Unterschiede gibt zwischen einer sozialwissenschaftlichen Erforschung der Religion und selbst sozialwissenschaftlich orientierten theologischen Ansätzen.1 Dies gilt auch für die qualitative Religionsforschung, für die ich ein einleitendes Methodenbuch verfasst habe.2

Diese Methoden lassen sich im Rahmen eines Aufsatzes auch nicht einmal im Ansatz erläutern, zumal sich mittlerweile ein ­ auch von quantitativen Forschern häufig übersehener ­ breiter und international diversifizierter Diskurs über die qualitativen Methoden ausgebildet hat.3

Als Kern der qualitativen Methoden der Sozialwissenschaften wird herkömmlich die ethnographische Feldforschung angesehen, die der Ethnologie zugeschrieben wird. Zu den Ursprüngen qualitativer Methoden zählt aber auch die Teilnehmende Beobachtung, die zu Beginn des 20. Jh.s in der Chicagoer Schule der Soziologie entwickelt wurde, wie auch die Analyse biographischer Quellen. Ursprünglich als Teil der empirischen Sozialforschung angesehen, entwickelten die qualitativen Methoden seit den 1960er Jahren ein Eigenleben, das zum einen auf die Dominanz quantitativer Methoden und deduktiver Methodologien, zum anderen auf die Neubelebung interpretativer Ansätze zurückgeht, die sich gegen diese Dominanz stellten. Ich werde darauf weiter unten eingehen.

Unterscheidet man die einzelnen Methoden, ist es sicherlich sinnvoll, die verschiedenen Weisen zu differenzieren, auf denen empirische Daten hergestellt werden. Zu den qualitativen Methoden zählen zum einen die verschiedenen Formen der Beobachtung, die nicht durch bestimmte Kategorien oder Quantifizierungen standardisiert sind. Neuerdings gesellt sich zur Beobachtung auch eine sich rasant entwickelnde visuelle Forschung, die zunächst mit Photographien, Bildern und Filmen, zwischenzeitlich auch mit Video und digitalen Medien arbeitet. Dabei sollte beachtet werden, dass sowohl die von Forschern erstellten Medien (etwa Videoaufzeichnungen von Experimenten oder von »natürlichen« Situationen) wie auch die von untersuchten Akteuren erstellten Medien (Hochzeitsvideos, Spielfilme, Fernsehnachrichten usw.) einen Gegenstand der Untersuchung darstellen können. Wir können diese Unterschiede der Herstellung und des Status mit dem Begriff der Datensorten bezeichnen.4

Neben dem Königsweg der Beobachtung läuft der meistbenutzte Weg der Sozialwissenschaften: das Interview. Auch hier wird neben dem in fast allen schriftlichen Befragungen üblichen standardisierten ein nicht-standardisiertes Interview unterschieden, das man als qualitatives Interview bezeichnen kann. Dieser Begriff ist allerdings sehr ungenau, verbergen sich dahinter mittlerweile doch kaum mehr zu überschauende Varianten, die die Form, den Ablauf und das Ziel von Interviews auf sehr unterschiedliche Weise bestimmen: neben Leitfaden- oder teilstandardisierten z. B. narrative, ethnographische, episodische Interviews usw. Die Unterschiedlichkeit der Interviews ist in der Regel auch mit unterschiedlichen Ansätzen der Interpretation und Analyse von Interviews verknüpft: Ob damit biographische Muster oder »objektive Sinnstrukturen«, Deutungsschemata oder »Frames« erhoben werden sollen, ist nicht nur vom Ansatz der Analyse, sondern auch von der Anlage des Interviews abhängig. In der Tat bilden die Analysemethoden den dritten Schwerpunkt der qualitativen Methoden, der natürlich unmittelbar von den Datensorten abhängt. Analysen von auf Tonband aufgenommenen Gesprächen (»Konversationsanalysen«) werden natürlich anders zu behandeln sein als Familienphotographien, Beobachtungsnotizen eines Feldforschers anders als Videoaufzeichnungen eines Experiments. Allerdings ist das Feld keineswegs einheitlich. So vielfältig wie die Datensorten gestalten sich auch die Analysemethoden: Neben linguistisch informierten Auswertungen finden sich viele hermeneutische Ansätze, die den Verstehensprozess selbst als Ressource nutzen; daneben spielen sich auch Kodierungsverfahren ein, die in der praktischen Vorgehensweise kaum noch von standardisierten Methoden zu unterscheiden sind. Man darf mit einigem Recht sagen, dass die Analysemethoden das am stärksten umstrittene Feld der qualitativen Methoden sind, weil sie sehr stark von den theoretischen Vorannahmen ­ und damit unterschiedlichen Theorien­ geprägt sind. Dennoch gibt es in weitgehend allen Fällen eine handwerkliche Ebene der Analyse, die sich durch praktisch erlernbare Vollzüge auszeichnet. Und schließlich zeichnen sich die qualitativen Methoden durch eine gemeinsame methodologische Tendenz aus: Im Unterschied zur deduktiv-nomologischen Wissenschaftslehre konzipiert, folgen sie einem stark induktiven Verfahren. Dies kommt am deutlichsten in der gegenwärtig populärsten Methodologie qualitativer Forschung zum Ausdruck, die als »Grounded Theory«, als »empirisch begründete Theorie« bezeichnet wird.

Der Vielfalt der Datenerhebungsweisen, der Analysemethoden und der methodologisch-analytischen Ausrichtungen entsprechen auch unterschiedliche Gütekriterien. Nicht mehr das für die standardisierte Forschung übliche Kriterium der Repräsentativität steht im Vordergrund, sondern eher eine Typizität, nicht Validität, sondern kommunikative Validierung, nicht große Zahl, sondern genaue Merkmale stehen im Vordergrund. Wie schon dieser knappe Abriss zeigt, ist es im Rahmen eines Aufsatzes schwer möglich, in die vielfältigen Methoden und Methodologien der qualitativen Religionsforschung einzuführen. Ich möchte stattdessen hier auf die methodologischen Voraussetzungen einer solchen Forschung eingehen und einige Begriffe klären, die für das Verständnis der qualitativen Sozialforschung und ihrer Bewertung nötig sind.

Qualitative Forschung und das interpretative Paradigma

Die qualitative Religionsforschung, wie ich sie formuliere, steht zweifellos in der Tradition der empirischen Sozialforschung, die seit langem ein Teilbereich der soziologischen Ausbildung ist und seit einiger Zeit auch Eingang in andere Disziplinen findet. Innerhalb der empirischen Sozialforschung wird meist zwischen einer qualitativen und einer quantitativen Richtung unterschieden. Während die quantitative Forschung vor allem mit Quantifizierungen arbeitet (die sie, in der Tradition Galileis stehend, noch immer als die eigentlichen und »primären Qualitäten« ansieht), geht es der qualitativen Forschung um das, was bei Galileo noch die »sekundären Qualitäten« sind, also etwas, das sich nicht in Zahlen ausdrücken lässt: Beobachtungen, die in Wort und Bild fixiert, Interview-Aussagen, die mündlich oder schriftlich festgehalten, Interaktionen, die auf Tonband oder Video dokumentiert werden. So hilfreich die Unterscheidung zwischen quantitativer und qualitativer Forschung auch sein mag, sollte man allerdings bedenken, dass die vergleichsweise scharfe Trennung dieser beiden Methodenrichtungen, die sich in den letzten Jahren eingespielt hat (in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gibt es derzeit sogar zwei unterschiedliche Sektionen; einerseits für quantitative, andererseits für qualitative Sozial forschung), einer recht durchgängigen Unterschiedlichkeit der erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlegung geschuldet ist. Während sich quantitative Forscher unterschiedlichen, im Regelfall aber rationalistischen (»Rational Choice«), funktionalistischen oder systemtheoretischen szientifischen Modellen verpflichten, folgt die qualitative sozialwissenschaftliche Forschung weitgehend dem, was Wilson als »interpretatives Paradigma« bezeichnet hat.5 (Dieses Paradigma hat seit dem »cultural turn« eine breite Anhängerschaft in den Sozial- und Kulturwissenschaften gewonnen; in der Soziologie ist es schon von Weber, Simmel und Schütz vorbereitet worden.)

»Interpretativ« weist hier nicht nur darauf hin, dass der Gegenstand der Sozialwissenschaften selbst sinnhaft ist und gedeutet werden muss. »Interpretativ« spielt vielmehr auf eine Doppelbödigkeit an: Die Sozialwissenschaften können ihren Gegenstand nicht einfach deuten und erklären; vielmehr stehen sie, im Unterschied zu den Naturwissenschaften, vor dem Problem, dass ihr Gegenstand selbst eigene Deutungen vornimmt ­ und dass diese Deutungen wiederum entscheidend sind für das, was erklärt werden kann. Für diesen Sachverhalt wird neuerdings immer wieder Luhmanns Formel von der ðBeobachtung der BeobachtungÐ bemüht, die schon wegen Luhmanns Ablehnung der Interpretation hier völlig fehl am Platze ist. Diese Doppelbödigkeit ist in der Methodologie von Alfred Schütz am deutlichsten für die Sozialwissenschaften herausgearbeitet worden, der betont: »Genau genommen gibt es nirgendwo so etwas wie reine und einfache Tatsachen. Alle Tatsachen sind schon immer aus einem universellen Zusammenhang durch unsere Bewußtseinsabläufe ausgewählte Tatsachen. Somit sind sie immer interpretierte Tatsachen: entweder sind sie in künstlicher Abstraktion aus ihrem Zusammenhang gelöst oder aber sie werden nur in ihrem partikulären Zusammenhang gesehen. Daher tragen in beiden Fällen die Tatsachen ihren interpretativen inneren und äußeren Horizont mit sich«.6

Für Schütz leitet sich daraus aber eine besondere Eigenart der sozialwissenschaftlichen Forschung ab. Denn die Gegenstände der Naturwissenschaften mögen zwar von den Wissenschaftlern interpretiert sein; die Gegenstände der Sozialwissenschaften aber interpretieren sich gewissermaßen selbst. Wenn wir nämlich Menschen beobachten, die beten, zur Kirche gehen oder sich in einem See taufen lassen, dann haben wir es mit Tätigkeiten, Vorgängen und Ereignissen zu tun, die von den Betroffenen­ und anderen Beobachtern ­ selbst schon mit einem Sinn versehen werden. Die Gegenstände der Sozialwissenschaften sind nicht schlicht da ­ sie sind von den Betroffenen immer schon selbst gedeutet. In diesem Sinne redet auch Alfred Schütz von Konstrukten erster Ordnung als eben jenen Deutungen der Wirklichkeit, die von den Handelnden selbst erzeugt werden.

Wenn wir nun dieses Handeln, Erfahren und Wissen der Menschen untersuchen wollen, dann machen wir diese Konstrukte erster Ordnung gewissermaßen zum Gegenstand. In den Worten von Schütz ist es unsere Aufgabe, Konstrukte zweiter Ordnung zu bilden: Konstrukte über die Konstrukte der Anderen. Was nun zeichnet diese Konstrukte zweiter Ordnung aus? Eine erste Leistung dieser Konstrukte zweiter Ordnung muss natürlich darin bestehen, dass sie sich auf Konstrukte erster Ordnung beziehen (Schütz spricht hier vom Postulat der Adäquanz). Das bedeutet, dass sich unsere wissenschaftlichen Begriffe auf die (typischen) Handlungsintentionen beziehen, die (typischen) Deutungen kennen und das Hintergrundwissen derer berücksichtigen müssen, die wir untersuchen. Wir müssen also versuchen, sie zu verstehen.7 In manchen Fällen fällt dieses Verstehen ziemlich leicht, wenn wir etwa von einfachen ökonomischen Motiven bei Handelnden ausgehen können. (Sie bevorzugen X vor Y, weil X billiger ist als Y.) Gerade aber im religiösen Bereich erscheinen die Motive, Absichten und Vorstellungen der Handelnden häufig als sehr »abwegig«, schwer einsehbar oder unzugänglich. Deswegen müssen wir uns gerade in diesem Bereich sehr intensiv mit ihnen auseinander setzen. Schütz spricht in diesem Zusammenhang vom Postulat der subjektiven Interpretation, weil wir versuchen müssen, die subjektive Perspektive der Beobachteten zu rekonstruieren. Freilich gelingt das im Einzelfall nie vollkommen: Was ein bestimmtes Individuum bewegt, können wir schwer sagen. Welche Motive aber typischerweise Menschen dazu bringt, eine Hostie zu essen, einen Beichtstuhl zu betreten oder eine Wünschelrute in die Hand zu nehmen, das kann man durchaus verstehen ­ und verständlich machen. Es geht also beim Verstehen nicht um eine vollständige Erfassung des ganzen subjektiven Sinns, sondern um den typisch verstehbaren Sinn.8

Dass die qualitative Forschung dem interpretativen Paradigma folgt, ist deswegen erwähnenswert, weil es gerade für die Religionsforschung weitreichende Folgen hat: Akzeptiert man diese methodologische Prämisse, dann kann der Religionsbegriff nicht a priori festgelegt werden; vielmehr muss man sich ­ wie Hölscher etwa vorschlägt9 ­ zunächst an das halten, was die Handelnden selbst als Religion bezeichnen, also an einen »Ethnobegriff«. Dabei sollte die Bezeichnung Ethnobegriff keineswegs als eine explizite Kategorie oder gar als ausformulierte wissenschaftliche Definition verstanden werden. Sie bezieht sich lediglich darauf, dass die Handelnden wissen, dass es so etwas wie Religion gibt ­ ohne dass dieses Wissen definiert oder expliziert sein müsste. (Es kann zum Beispiel eine implizite Handlungsorientierung darstellen, wie in vielen Fällen klassischer Magie.) Sofern wir jedoch nicht davon ausgehen, dass die Handelnden selbst immer eine klare, bestimmte und eindeutige Definition dessen haben, was sie als Religion ansehen, und das Phänomen mit verschiedenen Mitteln ­ Ritualen, subjektiven Erfahrungen, Glaubensüberzeugungen, Lehren usw. ­ und keineswegs einheitlich und durchgängig bestimmen, ist die Verlagerung auf den Ethnobegriff also keineswegs die Lösung des methodologischen Problems der Religionsforschung. Denn die Forschung bedarf eines Suchbegriffes, der weit genug gewählt ist, um möglichst alle Phänomene einzubeziehen, die als Religion bezeichnet werden, und der eng genug ist, damit nicht alles Mögliche (z. B. alle Kulturphänomene) unter diesen Titel fällt. Dabei sollten wir bedenken, dass auch wir in der Wissenschaft diesen Begriff durchaus implizit halten können. Die vielen Untersuchungen, die sich angesichts der Vielzahl von Definitionen der Religion (und auf Grund der Verwechslung dieser Vielzahl von Definitionen mit Ungenauigkeit) einer Klärung des Begriffes grundsätzlich enthalten, arbeiten mit einem impliziten Begriff der Religion. Dies gilt übrigens für eine beträchtliche Zahl an Untersuchungen, die man damit zur Umschreibung dessen heranziehen kann, was man als Religion be- zeichnen möchte. Eine zweite Möglichkeit, die ich bevorzuge, besteht darin, den Bereich der Religion durch einen expliziten wissenschaftlichen Begriff der Religion abzustecken, den man als Konstrukt zweiter Ordnung versteht. Dieser Begriff muss sehr weit gefasst sein, um eine Bandbreite von Ethnobegriffen fassen zu können, er muss aber auch Abgrenzungen erlauben.

Die Religionstheorie hat dazu eine (keineswegs unüberschaubare) Menge an Vorschlägen gemacht, die sich empirisch bewähren müssen. Ich persönlich schließe mich den begrifflichen Vorstellungen von Schütz und Luckmann an, die Religion als eine bestimmte historische Ausprägung des gesellschaftlichen Umgangs mit Transzendenzen betrachten. Während jedoch Luckmann bekanntlich einen anthropologischen Begriff der Religiosität wählt, der weitgehend mit dem identisch ist, was man als Kultur bezeichnen könnte, bevorzuge ich die phänomenologische Engführung dieses Begriffes, die Religion auf den Umgang mit den »großen« Transzendenzen beschränkt, also mit denjenigen Erfahrungen und Handlungen, die sich auf Außeralltägliches beziehen.10 Der damit verbundene Begriff der (heuristisch dreigeteilten) Transzendenz wurde so breit und so häufig erläutert, dass es erstaunlich ist, wenn heute prominente Autoren auftreten können, die behaupten, mit einer »neuen« Definition der Religion als (»Selbst«-)Transzendenz aufzuwarten.11 Hinsichtlich dieser Erfahrungen ist die uns bekannte institutionalisierte Form der Religion lediglich nur eine historisch bekannte (jedoch höchst bedeutsame) Ausprägung. Wie aber gerade die jüngeren Kritiken ihres Ethnozentrismus¹ betonen, bildet sie den Bezugspunkt unseres Verständnisses von Religion. Der Vorwurf, der Begriff der Religion sei westlich und ethnozentrisch, weist damit immerhin auf die kulturprägende Kraft der Religion für den Westen hin.12

Die Verwendung eines allgemeinen Begriffes der Religion darf nicht als klammheimliche Wiedereinführung eines deduktivistischen Modells in die interpretative Forschung missverstanden werden. In der interpretativen Forschung geht es keineswegs um die bloße Zuordnung des Phänomens unter einen Oberbegriff. Deswegen kann die Frage, ob und wie ein untersuchtes Sinnphänomen als religiös bezeichnet werden kann oder nicht, keineswegs den Ausgangspunkt einer Untersuchung darstellen. Vielmehr setzt die Beantwortung dieser Frage voraus, dass das Phänomen, das ja als Sinngebilde untersucht wird, erst verstanden wird, bevor man es in einen analytischen Begriffszusammenhang stellen kann, den wir gemeinhin Theorie nennen. Dabei sollte man beachten, dass die vorgeschlagenen Begriffszusammenhänge immer auch von der Empirie revidiert werden können ­ da sie sich ja auf empirische Phänomene beziehen.

Ethnographie

Die qualitative Religionsforschung charakterisiere ich als Ethnographie. Das hat mehrere Gründe. Ethnographie bezeichnet herkömmlich einen Mix aus verschiedensten qualitativen Methoden, der in den Sozialwissenschaften eingesetzt wird, um das zu erfassen, was man wohl am besten die Kultur einer sozialen Gruppe nennen kann. Ethnographien verwenden neben Beobachtungen auch Dokumente, audiovisuelle Aufzeichnungen, Photographien, Kunstwerke, Briefe, ja, zuweilen sogar das (in der quantitativen Forschung vorherrschende) Instrument des Fragebogens. Weil Ethnographie das umfassendste qualitative Forschungsunternehmen darstellen kann und weil die Darstellung der einzelnen Methoden keineswegs isoliert geschehen, sondern sich in der Kombination mit anderen Methoden beweisen soll, halte ich die Bezeichnung »Ethnographie« im Sinne einer Klammer als geeignet dafür, darunter die verschiedenen qualitativen Methoden zusammenzufassen.

Es ist übrigens ein Missverständnis vieler Anhänger des »cultural turn« zu meinen, diese Methoden stammten nur aus der Anthropologie, die sich seit Bronislaw Malinowski ja die systematische Forschung im Feld zum Ziel gesetzt hat.13 Vielmehr hat gerade die (für die Untersuchung der eigenen Gesellschaft zuständige) Soziologie schon seit der Jahrhundertwende eine »ethnographische« Forschung im Sinne dieser Methoden betrieben.14 So wurde auch der Begriff der teilnehmenden Beobachtung erstmal 1924 vom Chicagoer Soziologen Lindeman verwendet. Auch die sehr viel zitierte »dichte Beschreibung« von Geertz ist zwar einflussreich, aber keineswegs von prägender Bedeutung für die Ethnographie.15

Die Ethnographie zeichnet sich jedoch nicht nur durch die Vielfalt eingesetzter qualitativer Methoden aus.16 Den Begriff der Religionsethnographie wähle ich auch, um einen schon genannten Aspekt hervorzuheben, der die qualitative, genauer: interpretative Forschung auszeichnet. Ausgangspunkt einer solchen Forschung ist nicht die theoretische Begrifflichkeit der Wissenschaftler (und auch nicht die Reflexion der reflektierten postmodernen Wissenschaftlerin); Ausgangspunkt ist vielmehr the natives¹ point of view, wie Malinowski (1923) das nannte. Genau deswegen bildet die Ethnographie den Kern der qualitativen Methoden, weil ihr Grundprinzip sich mit dem des interpretativen Paradigmas insgesamt deckt. Im Kern geht es der Ethnographie wie der interpretativen Forschung darum, die Perspektive der Handelnden zu rekonstruieren, um ihre Erfahrungen, Handlungen und Deutungssysteme zu verstehen. Im Kern der Ethnographie steht also nicht die »Befremdung«, wie Hirschauer und Amann meinen, ja, die »Befremdung« ist nicht einmal immer ein sinnvolles Instrument, um eine Ethnographie zu beschreiben ­ auch wenn die »Befremdung« gelegentlich hilfreich sein mag, vor allem wenn es um die Motivation des Forschers oder die Darstellung des Forschungsergebnisses geht:17 Wer sich etwa mit Sonderkulturen in eigenen Gesellschaften auseinander setzt, kann sie durch Befremdung nicht einmal unbedingt beobachten, sofern er oder sie deren Wissensordnung, deren Handlungsformen und kulturelle Symbolik nicht kennt. Ausgangspunkt der Ethnographie wie jeder interpretativen Forschung ist die Perspektive der Untersuchten, und das Ziel dieser Forschung besteht in einer Rekonstruktion dieser Perspektive. Besonders in der Erforschung der Religion ist diese Perspektive unerlässlich.18

Das Eigene und das Fremde

Wenn ich von Religionsethnographie in der eigenen Gesellschaft rede, dann stellt sich zweifellos die Frage, wo das »Eigene« aufhört und das »Andere« oder das Fremde beginnt. An dieser Frage macht sich eine mittlerweile elaborierte Xenologie fest, die mit dem »Fremden« und dem »Anderen« auch ein politisch sensibles Thema aufnimmt.19 Wie die erwähnte Kritik deutlich macht, verführt die xenologische Debatte in ihrer Bonhommie leicht dazu, die Vorstellung, wir lebten in einer globalisierten Gesellschaft, ja, in einer Weltgesellschaft, zum empirischen Faktum zu erklären.20 Wenn wir nämlich von der »eigenen« Gesellschaft reden, so meinen wir die typischen Institutionen, Organisationen und Einrichtungen, die man kennt, um eben in dieser Gesellschaft zu überleben. Ob es sich um die Verwaltung einer Hochschule handelt oder die Sozialfürsorge, um den Arbeitsvertrag oder den Ehevertrag, um den öffentlichen Verkehr oder das Fernsehen ­ all das unterscheidet sich noch immer und weitgehend gesellschaftsweit. Zweifellos gibt es in einer Gesellschaft sehr verschiedene Kulturen und Subkulturen, die sich hinsichtlich der Lebensformen, der Sprachen, der Religion usw. unterscheiden. Diese kulturellen Unterschiede sind traditionell Gegenstand der soziologischen Ethnographie schon der Chicagoer Schule, die sich ja z. B. mit den ethnischen Gruppen in amerikanischen Großstädten beschäftigt hatte. Denn in der modernen Gesellschaft ist im Grunde jeder immer wieder »ein Fremder, als Schulanfänger, als Heranwachsender, als Berufsanfänger oder -wechsler, als alter Mensch«.21 So fremd die Teilkulturen pluralistischer Gesellschaften auch immer sein mögen, teilen doch die Mitglieder in diesen Gesellschaften einen Großteil der institutionellen Strukturen: Vom Recht über die Politik bis zur Wirtschaft haben es die meisten Menschen mit einem Regelwerk zu tun, das sie wenigstens basal ebenso kennen wie die anderen ­ und auf Grund dieser (sozial verteilten) Kenntnis miteinander teilen. Ethnographie der »eigenen« Gesellschaft verfährt deswegen auf der Grundlage dieser Gemeinsamkeit. Diese ihre Gemeinsamkeit als Besonderheit zu erkennen, ist auch ihre Aufgabe: Es ist eines, pakistanischer Muslim in Großbritannien, etwas anderes, türkischer Muslim in Deutschland zu sein. Wer diese Besonderheit übersieht, ignoriert nicht nur die eigene Gesellschaft, sondern wird auch das Besondere der Beobachtung nicht erkennen.

Das Eigene und das Fremde gelten jedoch nicht nur als forschungspragmatische Kategorien; viele verbinden damit auch grundsätzliche erkenntnistheoretische Unterschiede, die gerade für die Ethnographie von höchster Relevanz sind. Ich möchte diese Unterschiede mittels einer idealtypischen Unterscheidung benennen, die an zwei verschiedenen Modellen des Fremdverstehens anknüpft:22 Das Modell der Alterität und das Modell der Alienität.23

Das erste Modell schließt am deutlichsten an Alfred Schütz¹ Lösung des Problems der »Intersubjektivität« an: Im Unterschied zu Husserl, der Intersubjektivität als präkognitives Bewusstseinsschema präsupponiert, basiert Schütz¹ Theorie des Fremdverstehens auf der Betrachtung der sozialen Beziehung in der natürlichen Umgebung und der unhinterfragten Gegebenheit des anderen darin: Seine Generalthesis des alter ego geht davon aus, dass der Mensch als ein immer bereits in eine bestehende Sozialwelt hineingeborenes Wesen die Existenz seiner Mit- und Nebenmenschen als fraglos gegeben hinnimmt und in der relativ-natürlichen Einstellung des Alltags davon ausgeht, dass das Du ebenfalls ein Bewusstsein besitzt, das dauerhaft ist und als dem seinigen wesentlich ähnlich angenommen wird.24 Diese Idealisierung des Alltagsdenkens bildet die Grundlage für seine Vorstellung der Verständigung. Verständigung ist in seinen Augen keine direkte Erfassung fremder Bewusstseinsinhalte. Das fremde Bewusstsein bleibt für Ego in einem prägnanten Sinne »transzendent«. Diese (»mittlere«) Transzendenz folgt aus der unhintergehbaren Subjektivität: Eigener Sinn ist für »jedes Du wesensmäßig unzugänglich, weil er sich nur innerhalb des jemeinigen Bewußtseinsstromes konstituiert« (Schütz 1991: 140). Diese ðwesensmäßige UnzugänglichkeitÐ ist jedoch nicht gleichzusetzen mit prinzipieller Verständigungsunmöglichkeit. Ganz im Gegenteil. Fremdverstehen, so Schütz, fundiert sich vielmehr alltagsweltlich in einer Idealisierung, die auf einer Ähnlichkeitsübertragung beruht ­ und nicht etwa auf einer wie auch immer gearteten ðEinfühlungÐ in das fremde seelische Erleben.25

Wie vollzieht sich nun Erfassung fremdseelischen Erlebens? Der Leib des Anderen wird von Ego nicht nur als Dinglichkeit der umgebenden Welt aufgenommen, sondern als »Ausdrucksfeld« fremden Erlebens. Im Gegensatz zum eigenen Erlebnis, das ich immer nur in reflexiver Zuwendung und immer erst nachträglich in den Blick nehmen kann, kann das Erleben des anderen in seinem Ablauf wahrgenommen werden. Das ist möglich, da ja meine eigene Dauer und die des anderen in Gleichzeitigkeit zueinander stehen, die fremden Erlebnisse folglich auch meine eigenen Erlebnisse sind. Diese Art der Simultanität zweier Dauern konstituiert für Schütz den Kern aller Sozialbeziehung, in der sich meine Annahme von der Gleichartigkeit und Dauerhaftigkeit des fremden Bewusstseinsstromes fundiert. Diese Gleichzeitigkeit von zwei Dauern bezeichnet Schütz mit dem Terminus des »Zusammenalterns«.

Man könnte hier auch von Alterität sprechen, da die Fremdheit des Anderen zu Gunsten der initialen Annahme einer Ich-Ähnlichkeit zunächst außer Kraft gesetzt wird. Diese unterstellte Ähnlichkeit bezieht sich auf wesentliche Merkmale der Interaktion: Dazu zählen Handlungs- und Erkenntnis- und Kommunikationsfähigkeit (»wie ich«). Sie beruhen auf einer Ähnlichkeit zwischen Alter ego und Ego, die natürlich vom Ego imputiert sind, sich aber in Interaktion und Kommunikation auf Dauer bewähren ­ und bewähren soll, will man die Annahme aufrechterhalten. Die Annahmen solcher Ähnlichkeiten sind ein Grundbaustein dessen, was Schütz als Lebenswelt des Alltags bezeichnet.

Der Alterität stelle ich das Modell der Alienität gegenüber. Dieses Modell baut auf den von Talcott Parsons begonnenen und von Luhmann fortgesetzten Analysen auf, die mit dem Begriff der doppelten Kontingenz operieren.26 Sie gehen von folgendem Basisargument aus: Von zwei gegebenen Interaktionspartnern müssen beide in einer noch ungeregelten Situation davon ausgehen, dass das Verhalten des jeweils anderen kontingent ist. Dadurch entsteht eine strukturell unbestimmte Situation: »Jeder kann nicht nur so handeln, wie es der andere erwartet, sondern auch anders, und beide stellen diese Doppelung in erwartete und andere Möglichkeiten an sich selbst und am anderen in Rechnung«.27 An die Stelle der Identitätsunterstellung der Alterität wird in dieser Konzeption die Idealisierung der Differenz gesetzt. Die theoretische Lösung des Intersubjektivitätsproblems­ das auch hier unmittelbar mit dem Emergenzproblem sozialer Ordnung verkoppelt ist ­ erscheint als paradoxe Gleichzeitigkeit einer Enttäuschung: »Ego erfährt Alter als alter Ego. Er erfährt mit der Nichtidentität der Perspektiven zugleich die Identität dieser Erfahrung auf beiden Seiten. Für beide ist die Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser Erfahrung konvergieren die Perspektiven Š«.28Das Problem prinzipieller Nichtverstehbarkeit wird in der doppelten Kontingenz gelöst, ohne die monadenhafte Beschränkung der Individuen (als »psychischer Systeme«) aufzulösen. Die ­ ðeher unwahrscheinlicheÐ ­ Bildung sozialer Systeme setzt ein, um das Kommunikationsdefizit kompensatorisch zu beheben ­ nicht aber, um es zu lösen. Man spürt die Grenzen, die das Individuum in dieser Theorie von allem anderen, auch von der Sozialität trennt. Insofern ist Luhmanns Lösungsangebot sehr alteuropäisch, fast existentialistisch. Das Individuum bleibt in seiner theoretischen Anlage draußen, getragen von der Annahme, dass es letztlich alleine ist und sich Menschen eigentlich gar nicht verstehen können. Genau das kennzeichnet Alienität.

Doppelte Kontingenz unterscheidet sich von Alterität keineswegs in der Frage der Bewährung (und der Enttäuschung von Erwartungen). Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass doppelte Kontingenz auf der Annahme beruht, Alter ego sei eine unbekannte ðBlack BoxÐ, während Alterität zwar von der Andersheit ausgeht, diese aber vor dem Hintergrund einer grundlegenden Ähnlichkeit fasst. Was immer wir von der Black Box erführen, resultiert allein aus ihren zunächst erratisch erscheinenden Handlungen, nicht aber aus dem, was wir vorneweg über Alter wissen ­ denn wir wissen im Grunde nichts. Genau deswegen ist hier auch der Begriff der Alienität angemessen, denn die Black Box ist ­ jedenfalls als Vorwissen ­ völlig unbekannt. Alienität in diesem Sinne ist ein Idealtypus des »maximal Fremden«, der empirisch zwar nie auftaucht, tendenziell aber vor allem in kulturrelativistischen Ansätzen auftritt. Alterität dagegen ist das Modell, das dem Verstehen des Anderen in der »eigenen« Gesellschaft, also auf der Grundlage von Ähnlichkeiten (etwa der Kommunikation, der Verstehbarkeit etc.) entspricht.

Methodologischer Agnostizismus

Ethnographie basiert auf dem Modell der Alterität, das ein Verstehen bzw. die prinzipiell erreichbare Verstehbarkeit des Anderen impliziert. In gewisser Hinsicht ähnelt die ethnographische Vorgehensweise damit durchaus auch mancher theologischen Vorgehensweise, die sich um das Verstehen der historischen Akteure bemüht. Allerdings unterscheidet sich die ethnographische von der theologischen Vorgehensweise dadurch, dass sie einem methodologischen Agnostizismus folgt.29 Darunter versteht man gemeinhin das Bemühen, sich der ontologischen Annahmen zu enthalten, die die zu verstehenden Akteure machen. Diese Maxime gilt für die Sozialwissenschaften allgemein ­ und für die Ethnographie, wie wir sehen werden, auf besondere Weise. Ihr zu folgen, fällt jedoch keineswegs leicht und ruft auch manche Zweifel hervor. So könnte man einwenden, dass der methodologische Agnostizismus unter der Bedingung der Einnahme der subjektiven Perspektive und der Verstehensaufforderung durchaus ein Problem werden kann. Im Verstehen des Anderen, so könnte man argumentieren, spielt das, was der andere weiß und für wirklich hält, zweifellos eine zentrale Rolle, so dass die ontologischen Setzungen (etwas ist ein Geist oder ein Gott) zum Verstehen gehören.

Eine erste Lösung dieses Problems ist darin zu sehen, dass sozialwissenschaftliches Verstehen, wie schon erwähnt, nie auf den individuellen Sinn zielt, sondern immer auf den nur typischen Sinn. (So war es für Weber z. B. unerheblich, welche Personen er in der protestantischen Ethik betrachtete, um die für den Protestantismus typische Orientierung herauszuarbeiten.)

Ein zweiter Grund, der den methodologischen Agnostizismus erleichtert, ist darin zu sehen, dass wir als wissenschaftliche Beobachter, auch dann, wenn wir am Feld partizipieren, immer im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes partizipieren. Damit verbunden ist eine gewisse Distanz zum Feld, die zum einen die Ausrichtung auf den typischen Sinn erleichtert und zum anderen dazu führt, dass wir die Interessen und Ziele nie vollständig übernehmen ­ das wäre mit einer Aufgabe des wissenschaftlichen Projektes verbunden. Diese Gefahr ist in der ethnographischen Forschung freilich immer gegeben ­ Ethnographen sprechen vom ðgoing nativeÐ. Denn mit dem wissenschaftlichen Projekt ist nicht nur eine wissenschaftliche Fragestellung verknüpft, sondern auch die Aufgabe der Beobachtung, die strikt immanent verfährt. Was religiöse Phänomene angeht, konzentriert sie sich hauptsächlich auf die Aspekte der Phänomene, die alltäglich auch anderen intersubjektiv zugänglich sind. Geister, Götter und Dämonen treten ja für die Beobachter nur in Erscheinung, sofern sie »sozial« verkörpert sind: zum Beispiel in Gesprächen und Gebeten, Ritualen und Symbolen, Gemeinschaften und Organisationen. Diese soziale Verkörperung ist der Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung, so dass die Frage nach der Realität dessen, was hier verkörpert wird, sich überhaupt nicht in der Form stellt wie in der Theologie.

Ein besonderes Problem wirft der methodologische Agnostizismus gerade für die Ethnographie auf, die die Perspektive der Handelnden einzunehmen versucht. Denn aus dieser Perspektive kann es nicht darum gehen, dass die Beobachtungen einfach szientistisch gefiltert werden, wie dies noch Malinowski gelang. Wer sich in religiöse oder weltanschauliche Gruppierungen begibt und deren Perspektive einzunehmen sich bemüht, wird diesen Szientifismus jedenfalls nicht mehr durchgängig aufrechterhalten können. Um die Anderen verstehen zu können, müssen bestimmte Glaubensvorstellungen geteilt werden. Wer etwa teilnehmend Wünschelrutengänger untersucht, wird sich beim Wünschelrutengehen schwer tun, wenn er oder sie nicht an die auslösenden Kräfte glaubt. In der (nicht postmodernen) Ethnographie wird diesem ­ auch als Verkaffern, also Übernahme des Wissens- und Relevanzsystems der Untersuchten. bezeichneten ­ Problem auf eine praktische Weise begegnet. Wer die Erfahrungen gemacht oder aus der (typischen) subjektiven Perspektive des Feldes gehandelt hat, verlässt das Feld allmählich wieder und ersetzt das Relevanzsystem des Feldes Schritt für Schritt durch das der Wissenschaft. So kann die eigene Erfahrung sozusagen retrospektiv zum Gegenstand werden ebenso wie das eigene Handeln. Natürlich bleiben, viertens, Erfahrungen und Handlungen immer Gegen-Stand ­ und mit dieser »Ver-Gegen-Ständlichung« ist dann auch der methodologische Agnostizismus wieder erreicht: Gefragt wird nämlich, was die Akteure wie für wirklich halten, und nicht, was davon wirklich ist.

Empirie

In diesem Aufsatz war wenig von den Methoden der qualitativen Sozialforschung selbst die Rede, sondern vielmehr von ihren Voraussetzungen. Der Grund dafür liegt, wie gesagt, darin, dass die Methoden eine ausführlichere Darstellung verdienen, wie sie in diesem kurzen Aufsatz nicht möglich ist. Ein zweiter Grund ist aber auch, dass das Verständnis der für die in der empirischen Forschung relevanten Methoden weitaus weniger Rezeptionsschwierigkeiten hervorruft als die Methodologie. Zugleich aber zeigt die Rezeption, dass in manchen Fällen auf die für die empirische Forschung entscheidenden Methoden zuweilen offenbar weniger Wert gelegt wird als auf ihre methodologische Rezeption.

So bemängelt Lehmann z. B., dass das Grenzgängerproblem »nur« im Zusammenhang mit dem Beobachten und Kodieren auftrete.30 Auch wenn sich qualitative oder (wie wir nun genauer sagen können:) interpretative Sozialforschung durch die Reflexion ihres eigenen Standpunktes auszeichnet, so sollte man dies keineswegs als Beschränkung auf Selbstreflexion verstehen. Es mag auf die Verwirrung zurückzuführen sein, die der »cultural turn« und der Reimport einer Verstehenden Sozialwissenschaft durch z. B. Clifford Geertz bei manchen außerhalb der Sozialwissenschaften erzeugt hat, dass der Unterschied zwischen Theorie und Empirie, zwischen der Selbstreflexion und der Beobachtung von manchen nicht mehr vollzogen werden kann. Einer empirischen Forschung ­ sei sie nun qualitativ oder quantitativ ­ geht es jedoch grundsätzlich und hauptsächlich immer darum, empirische Daten zu erheben, und zwar auf eine Weise, die es auch theoretisch und fachlich Vorgebildeten erlaubt, sich von Daten nicht nur irritieren, sondern auch überraschen und eines Neuen belehren zu lassen. Ohne diese Offenheit ist wenigstens interpretative Forschung nicht möglich, und diese Offenheit ist mit der Praxis der Forschung verbunden, die sich durch Methoden auszeichnet ­ Methoden, die jedoch wie ein Handwerk erlernt werden müssen.

Summary

Qualitative research of religion is based on the tradition of empirical social research. Within this tradition it not only favours qualitative, non-standardised methods, but also clings to an interpretive methodology that starts from the assumption that the »objects« of social research are already interpreted by the actors themselves. This holds particularly for »religion« which, for this reason, is considered as a »first-order construct« as opposed to scientific second-order constructs (such as »transcendence«).

The essay expands earlier work on the methods of qualitative religious research (Hubert Knoblauch, Qualitative Religionsforschung. Paderborn 2003) to sketching methodological demands: Qualitative methods are »ethnographic« in that they are oriented towards actors¹ meanings of experiences and actions. If performed in one¹s own society, researchers have to account for their cultural knowledge entering the understanding of others. Finally, with respect to the ontological claims by actors particularly in the field of religion, this kind of research should follow the maxim of methodological agnosticism in order to maintain the empirical attitude necessary for this kind of research.

Fussnoten:

1) Einen Hinweis auf solche Unterschiede bietet die Rezension meines Buches »Qualitative Sozialforschung« in dieser Zeitschrift (Lehmann 2005, s. Fußnote 30), die mich auf einige Missverständnisse hinwies, die in der Rezeption des Buches in der Theologie entstehen können.

2) Knoblauch, Hubert (2003): Qualitative Religionsforschung. Paderborn: Schöningh.

3) Allein zur Vielfalt der qualitativen Methoden in verschiedenen europäischen Gesellschaften vgl. Knoblauch, Hubert, Flick, Uwe und Christoph Maeder (Hrsg.): Qualitative Methods in Europe: The Variety of Social Research. Sonderheft von Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Social Research. http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/3-05/05-3-34-e.htm.

4) Diesem Zwecke dient eine mittlerweile sich in der Kommunikationswissenschaft verselbständigende qualitative Medienforschung. Vgl. z.B. Jensen, Klaus Bruhn, u. Nicholas Jankowski (Eds.): A Handbook of Qualitative Methodologies of Mass Communication Research. London: Routledge and Kegan Paul 1991. Eine besondere Rolle spielt neuerdings natürlich auch die »Webnographie«, also die Analyse der virtuellen Kommunikation, der schon eigene Methodenübersichtsbände gewidmet werden.

5) Wilson, Thomas P. (1970): Conceptions of interaction and forms of sociological explanation. American Journal of Sociology 35, 4, 697­710.

6) Schütz, Alfred (1971): Wissenschaftliche Interpretationen und Alltagsverständnis menschlichen Handelns, in: Gesammelte Aufsätze I: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag: Nijhus, 1­52, 7.

7) Luckmann, Thomas (1981): Zum hermeneutischen Problem der Handlungswissenschaften, in: Fuhrmann, Manfred, Jauss, Hans-Robert, u. Wolfhart Pannenberg (Hrsg.): Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. Poetik und Hermeneutik IX. München: Fink, 235­250, 238.

8) Detaillierte Darstellungen bietet vor allem Schütz (1991/1932). Schütz betont daneben auch die für wissenschaftliche Forschung relevante logische Konsistenz.

9) Hölscher, Lucian (1993): Bürgerliche Religiosität im protestantischen Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Schieder, Wolfgang (Hrsg.): Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Stuttgart, 208 ff.

10) Vgl. dazu Knoblauch, Hubert (2004): Die Soziologie religiöser Erfahrung, in: Ricken, Friedo (Hrsg.): Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch. Stuttgart: Kohlhammer 2004, 69­80.

11) Joas, Hans (2004): Wozu braucht der Mensch Religion? Freiburg: Herder.

12) Said, Edward (1986): Orientalism reconsidered, in: Barker, Francis, et al. (Eds.): Literature, Politics and Theory. London-New York: Methuen, 210­229.

13) Malinowski, Bronislaw (1949): The problem of meaning in primitive language, in: Ogden, C. K., u. A. I. Richards (Hrsg.): The Meaning of Meaning. London: Kegan Paul, 451­510.

14) Für einen Überblick vgl. Lindner, Rolf (1990): Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt a. M.

15) Geertz¹ Konzept ist weit weniger originell und vor allem weit weniger neu, als in den Kulturwissenschaften vielfach vermutet wird ­ und man könnte seine Engführung der symbolischen Anthropologie durchaus als eine massive Reduktion der Ethnographie ansehen. Vgl. dazu Soeffner, Hans-Georg (2003): Die Perspektive der Kultursoziologie, in: Müller, Klaus E. (Hrsg.): Phänomen Kultur. Perspektiven und Aufgaben der Kulturwissenschaften. Bielefeld: Transcript, 171­194.

16) Mittlerweile wird die Frage, wie die verschiedenen Methoden aufeinander bezogen werden, unter dem Titel der Triangulation immer systematischer behandelt, die für die herkömmliche Ethnographie kein ausdrückliches Problem darstellte.

17) Hirschauer, Stefan, u. Klaus Amann (Hrsg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Im Grunde handelt es sich in beiden Fällen um eine Form der Travestie bzw. Cisvestie: Im einen Fall ver»kleidet« sich der Forscher im Geiste oder in der Tat (was im Feld zuweilen gefordert wird); oder der Text wird verkleidet ­ ein schönes Beispiel dafür bietet Horace Miner in Knoblauch (2003, 171­178).

18) So meint auch der Theologe Graf: »Die theoretisch anspruchsvolle Aufgabe, Religion zu deuten, setzt aber mehr als nur elementare Religionsbildung und religionsanalytische Unterscheidungsfähigkeit voraus. Gefordert ist auch die Kompetenz, soweit theoretisch überhaupt möglich, Binnenperspektiven religiösen Bewusstseins nachzuvollziehen«. Graf, Friedrich Wilhelm (2004): Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München: Beck, 17.

19) Wierlacher, Alois (2003): Kulturwissenschaftliche Xenologie, in: Nünning, Ansgar, u. Vera Nünning (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart: Metzler, 280­306.

20) In der Tat beschränken sich die Institutionen einer Weltgesellschaft auf relativ wenige Einrichtungen, die kaum eine Lebensform auszeichnen können. Vgl. Lechner, Frank, u. John Boli (2005): World Culture. Origins and Consequences. London: Blackwell.

21) Hettlage, Robert (1997): Der Fremde: Kulturmittler, Kulturbringer, Herausforderer von Kultur, in: Lipp, Wolfgang (Hrsg.): Kulturtypen, Kulturcharaktere. Berlin: Reimer, 25­44, 26.

22) In der Theologie wird diese Frage natürlich schon lange behandelt­ und das hat sich natürlich auch auf die Sozialtheorien ausgewirkt. Theologisch inspirierte Theorien der Erfassung von anderen Menschen wurden unter anderem von Martin Buber, von Emmanuel Levinas und von Maurice Natanson formuliert.

23) Ich habe dies zusammen mit Bernt Schnettler ausführlicher behandelt in: Knoblauch, Hubert, u. Bernt Schnettler: »Postsozialität«, Alterität und Alienität, in: Schetsche, Michael (Hrsg.): Der maximal Fremde. Begegnungen mit dem Nichtmenschlichen und die Grenzen des Verstehens. Würzburg: Ergon, 23­42.

24) Schütz, Alfred (2004): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Konstanz: UVK (Erstaufl. 1932).

25) Deshalb hat der mundanphänomenologische Ansatz bei Schütz nichts gemein mit den projektiven Einfühlungstheorien, die ebenfalls zu den Intersubjektivitätskonzepten zählen, die dem Modell der Alterität folgen. An jenen kritisiert Schütz, sie versuchten die phänomenologisch zu erklärende Konstitution des Alter ego im Bewusstsein des Ich naiv aus der Einfühlung herzuleiten und gäben zudem vor, über die strukturelle Gleichheit hinaus Erkenntnisse über das besondere Wie eines fremden Bewusstseins vermitteln zu können (vgl. Schütz 1991[1932]: 160) ­ eine Vorstellung, die sich übrigens auch bei der Telepathie findet, wenngleich in umgekehrter Richtung.

26) Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft II. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 814.

27) Kieserling, André (1999): Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 87.

28) Luhmann, Niklas (1984): Doppelte Kontingenz, 148­190, in: Ders.: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 172.

29) Der Begriff des methodologischen Agnostizismus lehnt sich an Bergers (von Zijderfeld übernommenen) Begriff des ðmethodologischen AtheismusÐ an, betont aber, dass Wissenschaft Aussagen über die Existenz höherer Mächte oder göttlicher Wesen weder bestätigen noch widerlegen kann, sondern einklammern muss. Vgl. Berger, Peter L. (1973): Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Fischer, 98.170.

30) Lehmann, Maren, Besprechung von Knoblauch, Hubert, Qualitative Religionsforschung, in: Theologische Literaturzeitung 2005 (130) 4, 375­376.