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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

84 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Möller, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts. 3: Von Friedrich Schleiermacher bis Karl Rahner.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 398 S. m. 23 Abb. gr.8°. Kart. DM 68,­. ISBN 3-525-62343-7.

Rezensent:

Holger Eschmann

Mit etwas Verspätung gegenüber den Ankündigungen des Verlagsprospektes ist der dritte Band der "Geschichte der Seelsorge" auf den Markt gekommen. Er enthält 23 Porträts von Seelsorgern, die chronologisch den drei Teilen "Seelsorge im 19. Jahrhundert", "Seelsorge nach dem Ersten Weltkrieg" und "Seelsorge nach dem Zweiten Weltkrieg" zugeordnet sind. Das Fehlen von Seelsorgerinnen in diesem Band (Band 1 und 2 beinhalten drei Darstellungen von Frauen) beklagt der Hg. im Vorwort selbst und erklärt es damit, "daß Frauen bis 1960 der Zugang zum geistlichen Amt und damit auch zur öffentlichen Seelsorge verwehrt war und noch heute in den katholischen, orthodoxen und in den meisten Freikirchen verwehrt ist" (7). Konsequent ist darum der Wunsch des Hg.s, daß neben einem Band zur "Seelsorge von Frauen" auch noch eine "Alltagsgeschichte der Seelsorge" zu schreiben sei, in der nicht nur die amtlichen Seelsorger und Seelsorgerinnen und herausragenden Gestalten zu Wort kommen.

In seinen einführenden Bemerkungen zur Seelsorge im 19. und 20. Jh. zeichnet der Hg., ausgehend vom praktisch-theologischen Entwurf F. Schleiermachers, vier Entwicklungslinien neuzeitlicher Seelsorge, die er mit den Überschriften "Spezielle Seelsorge", "Seelsorge als Pastoral", "Evangelische Seelsorge in gegenseitiger Begabung von Gemeinde und Einzelnen" und "Weltliche Seelsorge" kennzeichnet (15).

In diesen weitgesteckten Rahmen lassen sich dann alle folgenden Beiträge unterbringen, auch wenn es sich dabei um so verschiedene Porträts wie die der religiösen Schriftsteller J. P. Hebel, E. Wiechert oder S. Kierkegaard handelt, um "prophetische" Seelsorger wie die beiden Blumhardts oder die russischen Starzen, um die katholischen Großstadtseelsorger R. Mayer und C. Sonnenschein, den reformierten praktischen Theologen E. Thurneysen, den "ersten Pastoralpsychologen" (R. Schmidt-Rost) O. Pfister, den Pastoraltheologen S. Hiltner oder die beiden systematischen Theologen K. Rahner und A. Peters, um nur einige der dargestellten Persönlichkeiten zu nennen. Ähnlich bunt wie die Reihe der Porträtierten ist auch das Verzeichnis der Autoren und Autorinnen, das sich aus katholischen und evangelischen Theologieprofessoren, Pfarrern, Lehrerinnen und einer Schriftstellerin (T. Goritschewa) zusammensetzt. Bei dieser Vielfalt ist es ratsam, nicht zu viele Porträts direkt hintereinander zu lesen, da man sich sonst einem poimenischen Wechselbad ausgesetzt fühlt.

Im ersten Band bemerkte der Hg. zu Recht, daß die Auswahl der vorgestellten Personen "kaum gegenüber dem Vorwurf der Unvollständigkeit geschützt" werden kann (8). In diesem Teil der Seelsorgegeschichte fehlen mir z. B. die Porträts von C. I. Nitzsch, der nur in der Einführung kurz erwähnt wird, O. Händler oder C. R. Rogers. Dafür bekommt man freilich einen anregenden Zugang zu Gestalten und Theorien, die man zunächst nicht in einer Geschichte der Seelsorge vermuten würde.

Die einzelnen Porträts sind wie in den beiden ersten Bänden in drei Teile gegliedert. Zunächst werden biographische Angaben gemacht, dann einige kurze exemplarische Texte vorgelegt und schließlich wird in einem dritten Abschnitt mit der Überschrift "Wirkung" versucht, die Bedeutung von Leben und Werk der vorgestellten Persönlichkeit für die heutige Seelsorge festzuhalten. Auch in dieser dritten Rezension zum Gesamtwerk kann es wieder nur um einen Überblick und um die Erwähnung einzelner ausgesuchter Beiträge gehen.

J. Henkys weist in seinem Porträt D. Bonhoeffers auf die Doppelgestalt von Bonhoeffers Seelsorge hin, die schon früh durch eine Zuordnung von beratender und priesterlicher Seelsorge eine dualistische Sicht von Lebenshilfe und Glaubenshilfe zu überwinden versucht (244).

Bei den vorgestellten Dichtern und Schriftstellern ist es vor allem J. Fangmeier in seinem Artikel zu E. Wiechert gelungen, den Bezug von Biographie und seelsorglicher Wirkung eindrucksvoll darzustellen. In seinem schriftstellerischen Werk bringt Wiechert "angefochtene Menschen und Glaubende ins Gespräch miteinander und treibt damit eine für die Seelsorge hilfreiche praktische dialektische Theologie", deren Zentrum das "Wissen um das Wirken des Gotteswortes an und in einem Menschen" ist (253, kursiv im Original).

In dem Beitrag zu E. Thurneysen unternimmt A. Grözinger den Versuch, den in der ersten Hälfte unseres Jh.s weithin bestimmenden Seelsorgetheoretiker und -praktiker auf eine "narrative" Weise zu erfassen und dabei notwendige Korrekturen zu festgefahrenen Meinungen vorzunehmen, ja letztere teilweise geradezu umzukehren. So wird das gemeinhin mit dem Attribut "direktiv" versehene Seelsorgekonzept Thurneysens in die Nähe einer "Hermeneutik der Bewillkommnung" (George Steiner) und des Denkens E. Levinas gerückt, wobei Grötzinger freilich auch auf das Mißverständliche an Thurneysens Formulierungen vor allem in seiner "Lehre von der Seelsorge" hinweist.

Mit A. Peters wird von G. Rau ein systematischer Theologe vorgestellt, für den ­ anknüpfend an M. Luther ­ die "seelsorgliche Dimension der Theologie" bestimmend war und der an vielen Stellen über die Verortung der "Seelsorge zwischen Theologie und Humanwissenschaften" (332) nachgedacht hat.

Besonders zu erwähnen ist dabei seine Konzeption einer "trinitarischen Form einer Seelsorge-Theologie", die mit ihrer Zu-ordnung von therapeutischen, kerygmatischen und pneumatologisch-ekklesiologischen Elementen sowohl einer soteriologischen Verengung, einer humanwissenschaftlichen Reduktion als auch einer neuzeitlichen Vereinzelung in der Seelsorge wehren kann.

Das Porträt von H. Tacke wird von C. Lauther und dem Hg. gezeichnet. Auch Tackes Konzeption ist geprägt von dem Suchen nach einem Zusammenspiel von Impulsen der modernen Seelsorgebewegung mit reformatorischen Anliegen in der Seelsorge. Pointierter noch als in Tackes eigenen Veröffentlichungen kommt in diesem Porträt zum Ausdruck, wie Tacke "die Todverfallenheit der Welt und zugleich die Botschaft der Auferstehung ganz ernst" (349) nimmt und aus dieser Zusammenschau, die zugleich seine Lebens- und Glaubenswirklichkeit widerspiegelt, seine Seelsorgekonzeption formuliert. Bestimmendes Element dieser Seelsorge ist die Dimension des Extra nos, "etwas, was um des Menschen willen außerhalb des Menschen bleibt", um ihn zu entlasten (357).

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß es dem Hg. mit dieser "Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts" ohne Frage gelungen ist, die heutige Seelsorgediskussion zu bereichern. Die drei Bände haben innerhalb kurzer Zeit einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht. Historische Quellen und Informationen sind durch das Werk ­ freilich immer nur in Auszügen ­ leicht zugänglich geworden. Die Ausblicke auf heutige poimenische Fragestellungen am Ende jedes Porträts regen zum Weiterdenken und -arbeiten an. Neben diesem eher akademischen Aspekt hat das Werk aber auch das Verdienst, durch die Lebensbeschreibungen und exemplarischen Texte seelsorgliches "Lernen am Modell" (A. Bandura) zu ermöglichen und direkte Seelsorge an den Lesern und Leserinnen zu üben.

Als Anfrage an den Gesamtentwurf bleibt vor allem der schon in der Rezension zu Band 1 genannte Eindruck, daß man einen geschichtlichen Überblick zur Entwicklung der Seelsorge durch das Werk nur schwer gewinnt, "daß sowohl die Verfasser/innen der Artikel sehr verschieden an ihre Aufgabe herangehen als auch die einzelnen dargestellten Seelsorger und Seelsorgerinnen in der Regel herausragende Persönlichkeiten waren und deshalb nicht unbedingt ihre Zeit repräsentieren" (ThLZ 120 [1995], 485). Diesen Mangel machen aber die oben genannten Vorteile m. E. mehr als wett.