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Ausgabe:

Dezember/2005

Spalte:

1273–1290

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Körtner, Ulrich H. J.

Titel/Untertitel:

Mit Krankheit leben Der Krankheitsbegriff in der medizinethischen Diskussion

1. Die Konstruktion von Gesundheit und Krankheit

Schon Jesus wusste: »Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken« (Lk 5,31).1 Auch die moderne Medizin lebt genau genommen nicht von der Gesundheit, sondern von der Krankheit. Mögen sich die Allgemeinen Ortskrankenkassen in Deutschland auch inzwischen »Gesundheitskasse« nennen, bestimmt sich der Inhalt dessen, was unter Gesundheit verstanden wird, noch immer von der Krankheit her. »Gesundheit« ist die teleologische, »Krankheit« die legitimatorische Kategorie der Medizin.2 Diese ist weder eine reine Naturwissenschaft noch eine Geisteswissenschaft, sondern eine praktische oder Handlungswissenschaft. Die Feststellung von Krankheit und Gesundheit auf Grund ärztlicher Beobachtung erfolgt daher keineswegs zweckfrei, wie es idealtypisch bei einer theoretischen Wissenschaft der Fall ist (auch wenn selbst hier die Zweckfreiheit eine problematische Maxime ist), sondern immer schon aus der Handlungsperspektive, vorderhand mit der Absicht, die eigene Zuständigkeit zu reklamieren oder abzuweisen.3
Allgemein lässt sich die Erfahrung von Krankheit als Krise im menschlichen Dasein, als Beeinträchtigung oder Verlust selbstbestimmter Lebens- und Handlungsfähigkeit charakterisieren. Gesundheit bezeichnet demgegenüber das Wohlbefinden einer uneingeschränkten Vitalität und Aktionsfähigkeit. Interessanterweise lässt sich die Erfahrung von Krankheit leichter beschreiben als diejenige der Gesundheit. H.-G. Gadamer hat von der Verborgenheit der Gesundheit gesprochen.4 Diese erschließt sich gleichsam nur via negationis über die Erfahrung ihres vo rübergehenden oder dauerhaften Verlustes. So schrieb der französische Chirurg R. Leriche, Gesundheit sei »ein Leben unter dem Schweigen der Organe«,5 und D. B. Morris ergänzt: »Ein vollständiges Wohlergehen entzieht sich vielleicht einfach der Wahrnehmung. Im Gegensatz zur Krankheit läuft Gesundheit prinzipiell Gefahr, langweilig zu erscheinen: ein Leben ohne Prüfungen, ein Film ohne Ton.«6
Ähnlich betont der Medizinethiker und Medizinhistoriker D.von Engelhardt die positive Funktion, welche die Krankheit individuell und kulturell haben kann. »Krankheiten verleihen der Beziehung von Körper und Kultur neue Dimensionen. Im Kranksein wird dem Menschen sein Körper oft erst bewußt. ... Das durch Krankheit veränderte Körpergefühl verändert das Raum- und Zeitgefühl wie die sozialen Kontakte und das Selbstbild des Kranken.«7 Auch die Soziologin F. Akashe-Böhme und der Philosoph G. Böhme deuten in ihrem Buch Mit Krankheit leben Krankheiten als ausgezeichnete Form der Leiberfahrung in einer von Leibvergessenheit geprägten Zivilisation.8 »Krankheit«, so D. B. Morris, »definiert uns in gewisser Weise. Sie sagt uns, wer wir sind. ... Anders als Roboter und Kaninchen erkrankt der Mensch häufig und nicht selten für lange Zeit, was weniger ein Fehler in unserem Bauplan als eine unserer typischen Eigenschaften zu sein scheint.«9 Für F. Akashe-Böhme und G. Böhme erschließt sich in der Krankheit der grundlegende »Lastcharakter des Daseins«, von dem M. Heidegger gesprochen hat und dessen Bewältigung zu einem guten Leben gehöre.10 Krankheit ist somit nicht nur ein unabänderlicher Teil des Lebens, sondern ihr wird für die menschliche Existenz und Lebensführung eine positive, um nicht zu sagen pädagogische Funktion zugeschrieben, die man als nachchristliche Transformation des Gedankens von Krankheit als göttlichem Erziehungsmittel interpretieren kann.
Vordergründig betrachtet verhalten sich Gesundheit und Krankheit zueinander wie Norm und Abweichung.11 Doch wo rin die Norm und worin die Abweichung besteht, hängt vom jeweiligen Bezugssystem und Interpretationsrahmen ab. Daher verbietet sich z. B. die Ontologisierung des Gegensatzes zwischen Krankheit und Gesundheit. Sprachanalytisch betrachtet besteht nämlich zwischen der substantivischen Rede von »Krankheit – Gesundheit« und der prädikativen Rede »krank – gesund« ein gewichtiger Unterschied. Die englische Sprache und die neuere Medizinsoziologie kennen den Unterschied zwischen Krankheit (disease) und Kranksein (illness).12 Aus Sicht der Medizin kann jemand eine Krankheit haben, ohne sich subjektiv krank zu fühlen. Nach Auffassung der Psychosomatik bzw. der so genannten anthropologischen Medizin (V. von Weizsäcker, Th. v. Uexküll, W. Wesiak) sind nicht von der Person abgespaltene Krankheiten, sondern ist der kranke Mensch das Thema der Medizin.13 Ist Gesundheit nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern die Kraft, mit ihnen zu leben (D. Rössler),14 dann kann es gesunde Kranke und kranke Gesunde geben.15 Die Bestimmung von »krank« oder »gesund« findet in zwischenmenschlicher Kommunikation statt, konkret in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient, die ihrerseits einge bunden ist in das gesellschaftliche Gesundheitssystem. Entsprechend kann die konkrete Bestimmung von Krankheit und Gesundheit auf drei Ebenen erfolgen. Nach K. Jaspers ist es in erster Linie der Patient, welcher über das Vorhandensein von Gesundheit oder Krankheit befindet, da letztendlich er bestimme, wann er krank ist.16 Nach V. von Weizsäcker liegt die Feststellung von Krankheit und Gesundheit beim Arzt, der sich im Kommunikationsgeschehen ein Bild vom Kranken macht: »Ich nenne (!) den krank, der mich als Arzt anruft und in dem ich als Arzt die Not anerkenne. Für die Urteilsaussage ›dieser ist krank‹ ist ›die be stimmende Kategorie‹: der Arzt.«17 Dieser ist freilich ebenso wie der Patient eingebunden in das medizinische Versorgungssystem einer Gesellschaft, so dass man mit gleichem Recht behaupten kann: »Der Krankheitsbegriff, so unscharf er auch im mer sein mag und so sperrig er sich für die konkreten Abgrenzungsnotwendigkeiten eines Versorgungssystems darstellt, wird, solange es die gesetzliche Krankenversicherung gibt, vom Versorgungssystem selbst definiert.«18
Krankheit und Gesundheit sind also letztlich eine gesellschaftliche Konstruktion, nicht ein rein biologischer Tatbestand. »Medizin ist Naturgeschichte und Kulturgeschichte, sie kann nicht auf Biologie oder Physik begrenzt werden. Gesundheit und Krankheit« – so D. von Engelhardt – »sind stets deskriptive und zugleich normative Begriffe, sind Seins- und Werturteile – für den einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft.«19 Aus soziologischer Sicht würdigt J. Bauch diesen Umstand in seiner Aufsatzsammlung Krankheit und Gesundheit als gesellschaftliche Konstruktion.20
Jede Gesellschaftsformation produziert dem nach ihr eigenes Krankheitsspektrum. Bauch analysiert das heutige Verständnis von Krankheit und Gesundheit im Rahmen einer systemtheoretischen Analyse des modernen Gesundheitswesens. Er versteht Medizinsoziologie als Gesellschaftskritik. So fragt er im Anschluss an N. Luhmann nach dem blinden Fleck der Gesundheitswissenschaften bzw. nach dem Reflexionsdefizit des Gesundheitswesens und seinen gesundheits- und biopolitischen Konsequenzen. »Das Reflexionsdefizit besteht darin, daß diese Disziplinen die Zielformel von der Gesundheit als dem höchsten Gut so gut wie gar nicht kritisch hinterfragen.«21 Infolge dieses Mangels an Reflexion wird Gesundheit zur »Hypermoral« (A. Gehlen), der eine Tendenz zur totalitären Gesellschaft innewohnt: »Wenn uns die Gesundheit die Regeln für eine gute Gesellschaft und für ein ›gelingendes Leben‹ vorgibt, dann ist der Totalitarismus nicht weit. Kann ein Leben mit Krankheit und Behinderung nicht ›gelingend‹ – was immer man sich da vorstellen mag – sein?«22
Wenngleich Krankheit und Gesundheit stets auch soziale und kulturelle Erscheinungen sind, wäre doch die vollständige Ablösung des Krankheitsbegriffs von biologisch beschreibbaren somatischen bzw. organischen Sachverhalten unhaltbar. Anderenfalls hätte eine naturwissenschaftlich fundierte Medizin kein Kriterium mehr, anhand dessen sie über ihre Zuständigkeit entscheiden könnte. Auch würden die theoretischen Voraussetzungen ihrer Methoden entfallen, deren Anwendung damit aber sinn los bzw. völlig unkontrollierbar wäre. Freilich sind Biologie und Natur dabei keine statischen oder überzeitlichen Größen, sondern auch sie unterliegen dem kulturellen Wandel, wie D. B. Morris eindrucksvoll zeigt. Die Einwirkungen der menschlichen Kultur auf die Natur führen nicht nur zu veränderten Interpretationen, sondern zu Eingriffen in Natur und Umwelt, wodurch die Ausbreitung von Krankheiten, aber auch ihre Gestalt verändert wird. Alte Krankheiten verschwinden, völlig neue entstehen. Morris plädiert daher für ein biokulturelles Krankheitsmodell, das auch die spezifischen Bedingungen von Krankheit und Gesundheit in der postmodernen Gesellschaft verstehen lehrt.23 Würdigt man zusätzlich die Eigenständigkeit der Psyche bzw. unterscheidet man von biologischen und sozialen Systemen nochmals im Sinne Luhmanns psychische Systeme, gelangt man schließlich zu einem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell, wie es J. Willi und E. Heim vorschlagen.24
Ein biokulturelles bzw. bio-psycho-soziales Modell von Krankheit und Gesundheit verbessert das Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Krankheit und sozialer Stellung, zwischen Krankheit und Geschlecht (in der doppelten Bedeutung von gender und sex) oder auch für die Besonderheiten von Krankheit im Alter. Männer haben z. B. eine durchschnittlich geringere Lebenserwartung als Frauen, diese dagegen eine höhere Morbidität als Männer. Eine Differenzierung der Krankheiten nach Geschlechtern hat sich aber nicht nur am biologischen Geschlecht zu orientieren, sondern auch an unterschiedlichen Krankheitsverläufen, die von sozialen bzw. kulturellen Geschlechterrollen abhängen.25 Wie das Geschlecht ist auch das Alter, wie die Gerontologie zeigt, kulturell geprägt. Es ist zudem eine sich in der modernen Gesellschaft stark verändernde Lebensphase. Altersspezifische Krankheiten und Krankheitsverläufe unterliegen einem biokulturellen Wandel.26 Dass Menschen mit niedrigem Einkommen und schlechter Bildung ein höhe res Krankheitsrisiko als z. B. Akademiker haben, ist bekannt. Besonderes Augenmerk ist aber auch auf die spezifischen Krankheitsrisiken und Versorgungsprobleme von Migranten zu richten, die mit Ausgrenzung, Stigmatisierung und kulturellen Unterschieden zusammenhängen und schon bei Sprachproblemen beginnen.27
Generell besteht zwischen medizinischer Krankheitslehre und Diagnostik auf der einen Seite und gesellschaftlichen Wertvorstellungen auf der anderen Seite ein kompliziertes Wechselspiel. Die hierbei eingetretenen Veränderungen und Erweiterungen der Begriffe »Krankheit« und »Gesundheit« führen in der hochtechnisierten modernen Gesellschaft zu einer ständigen Ausdehnung der Reichweite medizinischer Verantwortung. Die Erfolgsgeschichte der modernen Medizin hat dazu geführt, dass diese im Bereich von Krankheit und Gesundheit – wenn auch nicht vollständig, so doch weitgehend – das Definitions- und Handlungsmonopol erlangt hat. Selbst die Definition von Le ben und Tod wird inzwischen der Medizin übertragen, wie entsprechende Bestimmungen z. B. des deutschen Organtransplantationsgesetzes zeigen. Abweichende Deutungssysteme und Sinnwelten werden dementsprechend »nihiliert«28 oder nur noch als Außenseiterpositionen wahrgenommen.
Als oberster Lebensinhalt gilt heute vielen Menschen: »Hauptsache gesund!« Abgesehen davon, dass man die dahinter stehende Gedankenlosigkeit oder auch geradezu religiöse Vergötzung der Gesundheit kritisieren kann, lässt sich die These vertreten, dass diese Maxime zwangsläufig krank macht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit nicht etwa nur als »Freisein von Krankheit und Gebrechen«, sondern als »Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens«.29 Zustimmung verdient diese Definition insoweit, als sie den für das vormoderne Gesundheitsverständnis grundlegenden Begriff der »integritas« aufgreift. Ein auf den somatischen Bereich reduziertes Verständnis von Gesundheit und Krankheit ist in der Tat abzulehnen. Die Ansicht, das Ziel medizinischen Handelns müsse die Herstellung eines Zustandes des Glücks und der Vollkommenheit sein, ist freilich utopisch. Nimmt man die Gesundheitsdefinition der WHO ernst, dürfte wohl kaum ein Mensch auf Erden wirklich gesund sein.30 Je um fassender und »ganzheitlicher« Gesundheit definiert wird, de sto größer die Zahl derer, deren Gesundheitszustand diesem Kriterium nicht genügt. Das hat, wie der Medizinjournalist J. Blech feststellt, handfeste ökonomische Konsequenzen: »Die Gesundheit wird zu einem Zustand gemacht, den keiner mehr erreichen kann, für den man in Deutschland aber mittlerweile durchschnittlich mehr als 14 Prozent des Gehalts an die Krankenkassen abgeben muss.«31 Ein utopischer Gesundheitsbegriff und seine paradoxen Folgen sind aus Blechs Sicht eindeutig ein Wohlstandsphänomen: »Je reicher ein Land ist und je mehr Geld eine Gesellschaft in das Gesundheitssystem pumpt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich ihre Mitglieder krank fühlen.«32

2. Krankheit, Schmerz und Leiden

Zu den körperlichen Symptomen von Krankheit gehört der Schmerz. In ihm brechen die Organe ihr Schweigen. Wie die Krankheit ist auch der Schmerz biokulturell zu verstehen.33 Auch er ist Natur und Kultur zugleich und bedarf der Interpretation. So gibt es eine Kulturgeschichte des Schmerzes, die z. B. D. von Engelhardt nachzeichnet.34 Krankheit und Schmerz sind zu unterscheiden, können aber auch zu einer ununterscheidbaren Einheit verschmelzen. Das gilt vor allem für chronische Schmerzen, die von akuten Schmerzen zu unterscheiden sind. Die moderne Schmerzmedizin geht davon aus, dass der Schmerz in vielen Fällen nicht etwa nur als Symptom von Krankheit, sondern selbst als Krankheit begriffen werden muss. Statistisch betrachtet verursachen Schmerzkrankheiten im Gesundheitswesen hohe Kosten. Chronische Rückenschmerzen sind auch eine häufige Diagnose für Frühverrentung. Schmerzen müssen nicht notwendigerweise eine somatische Ursache, sondern können auch eine psychische Ursache haben. Es gibt z. B. einerseits Patienten mit somatischen Befunden des Stützapparates, die dennoch schmerzfrei sind, während andererseits bei vielen Patienten, die über chronische Rückenschmerzen klagen, keine organischen Befunde vorliegen. Ein biokulturelles bzw. bio-psycho-soziales Modell des Schmerzes lehrt uns, den Schmerz nicht nur als Symptom, auch nicht nur als Krankheit zu begreifen, sondern wie Krankheit auch als Metapher zu verstehen und zu deuten.35 Das bedeutet aber auch, dass individuelle oder kollektive Bedeutungszuschreibungen die Schmerz erfahrung we sentlich beeinflussen können.
Wie grundsätzlich zwischen Krankheit und Schmerz zu unterscheiden ist, so auch zwischen Krankheit und Leiden. Entsprechend der Unterscheidung zwischen »disease« und »illness« kann man eine Krankheit haben, ohne an ihr zu leiden. Das Leiden ist aber auch vom Schmerz zu unterscheiden, insoweit man auch Schmerzen haben kann, ohne zu leiden, oder leiden, ohne Schmerzen zu haben. »Leiden kann also nicht einfach als gesteigerter Schmerz definiert werden.«36 Die Frage des Leidens hat die moderne Medizin – sieht man von der Psychosomatik ab– aus ihrem Zuständigkeitsbereich weitgehend ausgegrenzt und an die Seelsorge oder an die Psychotherapie verwiesen. Nach An sicht von D. B. Morris muss »eine postmoderne Sicht des Leidens auf einer ernsthaften Diskussion des Erzählens aufbauen«.37 Dazu gehört auch die Kritik an der Auffassung, Leiden sei wesentlich stets privater Natur. AIDS ist ein Beispiel dafür, wie die Leiden einer bestimmten Patientenpopulation und ihre Stigmatisierung – in diesem Fall auf Grund der verkürzenden Verbindung von AIDS und (Homo)sexualiät – öffentlich gemacht und in bestimmten kulturellen Genres thematisiert werden. Das Problem des Leidens führt zur Frage nach dem Sinn von Krankheit, zum Problem der Schuld und von Schuldgefühlen sowie zum mehrschichtigen Begriff des Opfers (victim oder sacrifice) und der Opferrolle, die Kranken zugeschrieben wird oder die sie sich selbst zuschreiben. Trotz seiner Verknüpfung mit biologischen Prozessen ist Leiden also keine feststehende Größe, »sondern ein fließender sozialer Zustand: ein Status, den wir einem anderen zubilligen oder verweigern«.38 Dabei spielen Werthaltungen einschließlich religiöser Grundorientierungen eine erhebliche Rolle.

3. Krankheit und Erzählung

Jede Krankheit ist Teil einer Biographie. Die Krankengeschichte geht über die Datensammlung in der Krankenakte weit hinaus. Nicht nur sind die Ursachen von Krankheit möglicherweise in der Biographie eines Patienten zu suchen, sondern Krankheiten strukturieren auch das Leben. »Das war vor, das nach meiner Operation«, sagt jemand. Im Kontext einer Lebensgeschichte bekommt Krankheit ihren spezifischen Sinn. Krankheiten sind Krisenerfahrungen, die einem Leben eine ganz neue Richtung geben können. Und schließlich kann Krankheit geradezu zu einer Lebensform werden, wenn sie einen chronischen oder progredienten Verlauf nimmt. Die Krankheit in das eigene Leben bzw. in die Selbstsicht zu integrieren, stellt den Einzelnen, aber auch seine Familie oder Umgebung vor eine große Herausforderung. Sie kann aber, besonders im Fall von Demenzerkrankungen, die Persönlichkeit des Patienten radikal verändern, bis dahin, dass die Identität der Person, die der betroffene Mensch einmal war, fraglich wird. Die ethischen Fragen, die sich hieraus für die Reichweite von Patientenverfügungen und das Problem des mutmaßlichen Willens z. B. von Alzheimer-Patienten im fortgeschrittenen Stadium ergeben, seien hier nur genannt, ohne sie weiter zu diskutieren.
Schon vor drei Jahrzehnten hat D. Ritschl sein Storykonzept entwickelt, das an die Bedeutung des Erzählens sowohl für die biblische Tradition als auch für die Psychoanalyse anknüpft.39 Sein medizinethisches Konzept ist damit anschlussfähig für Konzeptionen einer narrativen Theologie. Der Zusammenhang von Krankheit und Biographie bzw. allgemein von Krankheit und Erzählung wird inzwischen aber auch sonst in der medizinsoziologischen und medizinethischen Literatur thematisiert,40 spielen doch Erzählen und Erzählung in postmodernen Theoriediskursen allgemein eine Schlüsselrolle. Verwiesen sei auf die phänomenologische Anthropologie des Husserl-Schülers W.Schapp, wonach Mensch sein heißt, in Geschichten verstrickt zu sein,41 oder auf die Erzähltheorie P. Ricœurs.42 Bei Ritschl fungiert das Storykonzept allgemein als ethische Rahmentheorie, so auch für die Medizinethik. Ethische Entscheidungen am Krankenbett setzen eine intensive Beschäftigung mit der Biographie des Patienten voraus. Dazu gehört einerseits seine bisherige Lebensgeschichte in Form seiner »›stilisierte[n]‹ Vergangenheit«,43 andererseits aber auch die »antizipierte Lebensstory«44 des Patienten. Ohne solche Antizipation, die den Menschen bei Ritschl letztlich in den eschatologischen Horizont der »Totalstory« Gottes stellt,45 lässt sich die Sinnhaftigkeit medizinischen Tuns und Unterlassens nicht beurteilen.
Ritschls Storykonzept verdeutlicht nochmals, wie sehr Krankheit und Gesundheit Konstruktionen sind (wobei es ein wenig überrascht, dass der Krankheitsbegriff selbst in Ritschls Arbeiten gegenüber einem differenzierten Begriff von Heilung eine untergeordnete Rolle spielt).46 Die Lebensgeschichte wird, in dem sie erzählt wird, in eine Form gebracht und stilisiert. Denn es gibt keine formlosen Erzählungen, sondern unterschiedliche Erzählformen und -gattungen. Auch die verschiedenen Krankheiten lassen sich unter erzähltheoretischem Blickwinkel nach Genres oder Gattungen unterscheiden. Herzinfarkte, Krebserkrankungen und Knochenbrüche haben ihre jeweils spezifische Erzählform. Die individuelle Krankheitsstory lässt sich einer größeren Gattung zuordnen. Und schließlich kann auch die Medizin bzw. das Gesundheitswesen erzähltheoretisch analysiert werden. Die moderne Medizin wird zumeist als Fortschrittsgeschichte stilisiert, als Geschichte eines großen Feldzuges und fortgesetzter Etappensiege gegen den Feind, der in Form von Bakterien oder entarteten Zellen den menschlichen Lebensraum zu erobern sucht. Da gibt es Geschichten von Helden und Opfern, von Sieg und Niederlage.
Sowohl Ritschl als auch Morris plädieren daher für ein narratives Konzept medizinischer Ethik. Morris spricht von einer »narrativen Bioethik«47 und interpretiert »das Erzählen als Me dium des moralischen Wissens«.48 Schon die Schilderung der eigenen Krankheit stellt nach seiner Auffassung eine moralische Handlung dar, die dem Kranken eine Neugestaltung seines Le bens ermöglicht. Dazu braucht er Menschen, z. B. Ärzte, die ihm aufmerksam und verständnisvoll zuhören. Auch dies ist eine ethische Aufgabe. Zu den Aufgaben der Medizinethik gehört es nach Morris, auch von den Schattenseiten der modernen Medizin und von den schmerzlichen Augenblicken des Scheiterns und der Niederlagen zu erzählen.
Während bei Morris – postmodern – die Fragilität und Fragmenthaftigkeit der Erzählung im Vordergrund steht, dominiert bei Ritschl eine eschatologische Totalperspektive, in die auch die Geschichten von abgebrochenen oder falsch gelaufenen Lebens- und Krankheitsgeschichten eingebettet ist. Kriterium dafür sind Geschichten »gelungenen Lebens«,49 und die Totalstory Gottes ist eine Meta-Story des gelingenden Lebens. Aus ihr sollen sich auch universale Prinzipien medizinischer Ethik ableiten lassen, die den modernen ethischen Pluralismus eindämmen.50 An dieser Stelle brechen allerdings gewichtige theologische Fragen auf, auf die wir im sechsten Abschnitt zurückkommen werden. Das Storykonzept nötigt dazu, alte Fragen christlicher Eschatologie und christlicher Geschichtstheologie neu zu stellen. Wie kann eine universale Eschatologie formuliert werden, deren Geschichtsverständnis nicht totalitär ist und nicht möglicherweise ungewollt die totalitaristische Tendenz einer »salutokorrekten Gesellschaft«51 fördert, die Gesundheit zum höchsten Gut und das Gesundsein zur moralischen Pflicht erklärt? Wie lässt sich die Erfahrung der Fragmenthaftigkeit menschlichen Lebens, auch der Bruchstückhaftigkeit und Vorläufigkeit von Krankheit und Gesundheit, mit der eschatologischen Perspektive einer vom Menschen selbst nicht zu leistenden Vollendung verbinden?
4. Krankheit und Religion
Medizinethische Probleme bewegen sich auf drei Ebenen: auf der personalen Ebene bzw. der Ebene interaktioneller Beziehungen, z. B. zwischen Arzt und Patient, auf der strukturellen oder institutionellen Ebene, auf der z. B. das Krankenhaus oder das gesamte Gesundheitswesen als Systeme oder Organisationen in den Blick treten, und schließlich auf der kulturellen Ebene, auf der Einstellungen und Werthaltungen, d. h. aber auch weltanschauliche oder religiöse Grundorientierungen angesiedelt sind.52 Diese Grundeinstellungen und Wertvorstellungen prägen so wohl die personale als auch die strukturelle Ebene.

Von jeher sind Krankheit und Gesundheit religiöse Themen. Dazu gehört nicht nur die Frage nach dem Zusammenhang von Krankheit und Schuld bzw. Krankheit und Sünde, sondern auch die Frage nach der möglichen Verbindung von Heil und Heilung.53 Die Kulturgeschichte von Krankheit und Gesundheit ist bis in die Moderne weitgehend auch Religionsgeschichte. Erst die naturwissenschaftlich begründete moderne Medizin führt zu einer Trennung von Medizin und Religion, damit aber auch von Heil und Heilung, sofern nicht die Aufwertung der Gesundheit zum höchsten Gut ihrerseits als neue Form von Religion und Transzendenzsuche im Diesseits einer Gesellschaft verstanden werden muss, die unter Transzendenzverlust leidet. Aber auch bei den unterschiedlichen Spielarten einer Alternativ- oder Ganzheitsmedizin, die sich gegen das technokratische Denken der so genannten Schulmedizin richtet, sind religiöse Konnotationen unübersehbar.
Der praktische Einfluss religiöser Einstellungen auf das Krankheitsverhalten spielt für das Konzept einer interkulturellen Medizin und Pflege eine wichtige Rolle.54 In einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft bedarf es einer besonderen Sensibilität im Umgang mit kulturellen Prägungen, Sitten und Gewohnheiten, aber auch mit religiösen Überzeugungen, die ihnen zu Grunde liegen. Diese sind unter Umständen mitverantwortlich für das gehäufte Auftreten z. B. von genetisch bedingten Stoffwechselerkrankungen als Folge einer religiös to lerierten oder gar geförderten Konsanguinität. Umgekehrt stellt sich die Frage, welchen Beitrag Religionsgemeinschaften und ihre Repräsentanten zur Förderung der »Compliance« bei Migranten leisten können.55
Gerade für das Christentum liegt der enge Zusammenhang von Heilung und Glaube auf der Hand. A. von Harnack hat den Missionserfolg des ältesten Christentums in erheblichem Maße auf die zentrale Stellung von Heilung und Erlösung in der christlichen Botschaft, auf die Darstellung Christi als Heiland und Arzt und auf die damit verbundene Gegenüberstellung von Christus und Asklepios zurückgeführt.56 E. Biser hat das Christentum geradezu als »therapeutische Religion« bezeichnet.57 In der charismatischen Bewegung und in den Pfingstkirchen spielt das Thema der Glaubensheilungen eine ganz zentrale Rolle, und auch andere Kirchen wenden sich dieser Fragestellung in letzter Zeit wieder verstärkt zu. Das Verständnis von Krankheit und Heilung in der Theologie der frühen Kirchenväter hat M. Dörnemann untersucht.58 Der Krankheitsbegriff selbst spielt in seiner Monographie allerdings nur indirekt eine Rolle, konzentriert sich Dörnemanns Untersuchung doch vor allem auf das Motiv des »Christus medicus«.
Nach christlichem Verständnis sind Heil und Gesundheit einerseits voneinander zu unterscheiden, andererseits jedoch komplementär aufeinander bezogen. Damit gerät das christliche Heilsverständnis in ein kritisches Gegenüber nicht nur zu einem materialistischen, sondern auch zu einem spiritualistischen Verständnis von Krankheit und Gesundheit, wie es nicht nur in den neognostischen Bewegungen des New Age, sondern auch in der charismatischen Bewegung innerhalb des heutigen Christentums anzutreffen ist. Wenn Leiblichkeit das Ziel der Werke Gottes ist, Heil und Wohl des Menschen sowohl zu unterscheiden als auch einander zuzuordnen sind, so ist eine rein spirituelle Sicht von Krankheit und Gesundheit nicht weniger verkürzend wie eine mechanistisch-physiologische. Zwar besteht nach neutestamentlicher Auffassung ein Zusammenhang zwischen Sünde und physischem Übel. Auch werden Krankheiten in der biblischen Überlieferung auf die Wirkung von Dämonen und damit auf die transpersonale Macht des Bösen zurückgeführt. Indem aber ein unmittelbarer Tun-Ergehen-Zusammenhang bestritten wird,59 impliziert das neutestamentliche Heilsverständnis der Sache nach eine Kritik der Annahme, dass Krankheit und Gesundung monokausal auf geistige Ursachen zu rückzuführen seien. Ein derart spirituelles Verständnis von Krankheit und Gesundheit verkehrt die Bedeutung des Oetingerschen Satzes von der Leiblichkeit als dem Ende der Werke Gottes unter der Hand in sein Gegenteil. Denn die monokausale Erklärung der Sphäre des Leiblichen als Materialisierung des Geistigen führt faktisch zu einer gnostischen Abwertung des Leiblichen, wie sie aus der Gnosis oder aus der christlichen Theologiegeschichte von Origenes her bekannt ist.
Die biblisch begründete Unterscheidung und Zuordnung von Heil und Heilung bedeutet, dass jeder monokausalen Erklärung von Gesundheit und Krankheit, damit aber auch jeder eindimensionalen Therapieform zu widersprechen ist. Der Mensch ist eine spannungsvolle, dialektische Einheit von Leib und Seele. Weder ist er reiner Geist noch ist er reiner Leib, sondern er ist eine selbstbezügliche leibseelische Einheit. Sowenig Krankheiten deshalb von der Person und Biographie der betroffenen Person isoliert werden können, sowenig lassen sich sämtliche Krankheiten auf ein Missverhältnis zwischen Seele und Leib oder eine seelische Störung zurückführen. Aus gutem Grund äußert sich daher z. B. D. Ritschl kritisch zur umstrittenen Psychoonkologie.60 Dass sich statistisch ein Zusammenhang zwischen Kanzerogenese und bestimmten Verhaltenstypen von Patienten nachweisen lässt, der therapeutische und medizinethische Relevanz hätte, wird von Fachleuten bezweifelt. Prädiktiven Wert – was ja für die Gesundheitsvorsorge interessant wäre – haben psychoonkologische Studien offenbar nicht.
Anders sieht dies der katholische Theologe und Mediziner M.Beck in seinem Buch Der Krebs und die Seele.61 Er versucht der Psychoonokologie durch ihre Verknüpfung mit der Genomforschung neue Plausibilität zu verleihen. So postuliert er eine Wechselwirkung zwischen Gehirnaktivitäten und Genaktivitäten, die er als Wirkung des Mentalen auf das Physische bzw. der Seele auf den Körper deutet. Dabei greift Beck auf die Seelenlehre des Thomas von Aquin zurück. Wirft seine Vorgehensweise schon grundsätzlich methodische, philosophische und naturwissenschaftliche Fragen auf, so ist seine theologische Zielsetzung vollends problematisch. Am Ende wird die Gottesfrage zu den »möglichen geistigen Hintergründen von Krebserkrankungen« gezählt,62 was zu der verheerenden Konsequenz führt, Krebserkrankungen als liebevolle Strafe Gottes zu interpretieren, die den Patienten zur Umkehr und zu Gott rufen soll. Für diejenigen, bei denen der Krebs schon zu weit fortgeschritten ist, hält Beck einen zynisch wirkenden Trost parat: »Sollte trotz innerer Neuorientierung keine Heilung mehr eintreten, da der Prozess schon zu weit fortgeschritten ist, bleibt dennoch die Umkehr nicht umsonst«,63 weil der Mensch nun wenigstens in Frieden sterben kann. Vor der Art und Weise, in der Beck ständig die Ebenen medizinischer und theologischer Aussagen verwechselt und vermengt, kann nur dringend gewarnt werden.

5. Die fortschreitende Medikalisierung des Lebens

Die Definitionsmacht der modernen Medizin äußert sich in einer zunehmenden Pathologisierung von physiologischen und psychischen Zuständen, von Einzelpersonen und ganzen Bevölkerungsgruppen. Dadurch weitet die Medizin ihren Zuständigkeitsbereich fortwährend aus. Allerdings gibt es auch Beispiele für ihre Selbstbeschränkung. Erinnert sei z. B. daran, dass die WHO vor längerer Zeit die Homosexualität aus ihrer Liste der Krankheiten gestrichen hat. Zahlreiche Gegenbeispiele lassen sich dagegen aus dem Gebiet der Reproduktionsmedizin, der Genetik und der prädiktiven Medizin anführen. Sterilität gilt zunehmend als behandlungsbedürftige Krankheit, bis dahin, dass inzwischen der Rechtsanspruch auf die Übernahme der Kosten für eine In-Vitro-Fertilisation durch die Krankenkassen formuliert wird.
Gut beobachten lässt sich die fortschreitende Medikalisierung des Lebens auf dem Gebiet der Genetik. Streng genommen gibt es wohl keinen Menschen ohne irgendwelche sogenannten Gendefekte, auch wenn diese nicht immer zu einer gravierenden Krankheit führen müssen. Die Unvollkommenheit, welche zum Menschsein gehört, zeigt sich also schon im molekulargenetischen Bereich. Während einerseits gerade seriöse Genetiker vor einem Gen-Reduktionismus warnen, weil der Mensch eben nicht durch sein Genom definiert und determiniert wird, lässt sich andererseits von der Genetik her einsichtig machen, dass die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen Behinderung und Nichtbehinderung fließend ist. Wollte man die Grenze auf Grund von genetischen Kriterien ziehen, so müsste man sagen, dass letztlich alle Menschen behindert sind. Gerade aus Sicht der Genetik gilt: Nobody is perfect. Weil es im Verlauf der Zellteilungen, die unser Körper im Laufe unseres Lebens durchläuft, immer wieder zu Mutationen kommt, bleibt übrigens auch die Idee, einen genetisch vollkommenen Menschen züchten zu können, eine Illusion.
Die Forschung schreitet inzwischen von der Genetik zur Genomik und zur Proteomik voran. Genomik erforscht die konkrete Funktionsweise von Genen in Zellen und Zellverbänden und das Wechselspiel zwischen den verschiedenen Genen in unterschiedlichen Milieus. Ein weiterer Entwicklungsschritt ist die Proteomik. Als Proteom bezeichnet man die Gesamtheit aller Eiweißmoleküle, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle vorhanden sind. Deren Wechselwirkungen sind noch komplexer als die der Gesamtheit aller Gene, des so genannten Genoms. Die Genomforschung und ihre Anwendung bis hin zur Genomik und Pharmakogenomik eröffnen Chancen für neue Therapieansätze, die ethisch durchaus zu begrüßen sind. Gleichzeitig fördert der genetische Fortschritt aber auch problematische Tendenzen zur Pathologisierung des natürlichen Lebens.
Die britischen Mediziner D. Melzer und R. Zimmern warnen zu Recht vor der Gefahr, dass Menschen auf Grund von Gentests medikalisiert und für krank erklärt werden. »Indem die genetische Wissenschaft zeigt, dass das Genom eines jeden unterschiedlich ist und wir alle in gewisser Hinsicht ›abnorm‹ sind, zwingt sie uns auf einer fundamentalen Ebene dazu, das Konzept der Normalität als solches zu überdenken.«64
Der Schritt von der Genetik zur Genomik zeigt, dass die de terministische Annahme, wonach Gene unser Schicksal bestimmen und dass ein direkter kausaler Zusammenhang zwischen genetischen Abweichungen und dem Ausbruch von Krankheiten oder Behinderungen besteht, naturwissenschaftlich betrachtet falsch ist. Zwar gibt es unzählige Studien, die einen Zusammenhang zwischen Genvarianten und bestimmten Erkrankungsrisiken postulieren. Nicht selten stellt sich jedoch heraus, dass deren Ergebnisse nicht reproduzierbar sind.
Hinzu kommt, dass die Grenzen zwischen manifesten chromosomalen oder genetischen Störungen und genetischen Dis positionen, die irgendwann einmal zu irgendeiner Form von Symptomen führen könnten, fließend sind. Bezeichnenderweise hat die prädiktive (vorhersagende) Medizin eine neue Kategorie von Menschen geschaffen, den »Unpatient«. Sie besagt, dass es im Grunde gar keine gesunden Menschen mehr gibt, sondern nur potentiell oder manifest Kranke.
Zu einem ähnlichen Ergebnis führen auch neue interdisziplinäre Sichtweisen von chronischer Krankheit und Behinderung. Die WHO vertritt inzwischen ein entsprechendes Konzept, wo nach jeder Mensch mehr oder weniger eingeschränkt ist bzw. im Alter sein wird.65 Zwischen Gesundheit und (chronischer) Krankheit bzw. Behinderung gibt es also nur fließende Übergänge. Ähnlich sehen es auch F. Akashe-Böhme und G. Böhme. Da fast jeder Mensch – jedenfalls jenseits der Jugend – irgendeine Krankheit hat, soll sie »als Randbedingung des Lebensvollzugs akzeptiert« und nicht nur als vorübergehende Störung angesehen werden.66
Die binäre begriffliche Unterscheidung, mit welcher systemtheoretisch betrachtet die Medizin und das übrige Gesundheitswesen operieren, wird somit auf folgenreiche Weise ausdifferenziert. Geht man von der Gesundheitsdefinition der WHO oder von den Grundgedanken der Präventivmedizin und der prädiktiven Medizin aus, gibt es zahllose Menschen, die zwar nicht unbedingt krank sind – und folglich z. B. auch nicht vom Arzt »krankgeschrieben« werden, aber eben auch nicht wirklich gesund sind. Aus der einfachen Alternative von »krank« und »gesund« entsteht ein begriffliches Geviert von »gesund« – »nicht gesund», »krank« – »nicht krank«. Heute kann man nicht gesund sein, ohne deshalb krank zu sein. Man kann nicht krank sein, ohne deshalb wirklich gesund zu sein. Auch die medizinsoziologische Unterscheidung zwischen objektiver Krankheit (disease) und subjektiv erlebtem Kranksein (illness) verliert ihre Eindeutigkeit. Sie setzt voraus, dass sich medizinisches Wissen nach klaren Kriterien in objektives und subjektives Wissen einteilen lässt. »Aus postmoderner Sicht« – so D. B. Morris – »sind Ärzte und medizinische Forscher trotz aller Bemühungen, verifizierbare Ergebnisse zu erzielen, nicht völlig objektiv, ebenso wie die Erfahrung des Patienten trotz der Erkenntnis, dass der Mensch die Welt gefiltert durch sein eigenes Ich wahrnimmt, niemals nur subjektiv ist.«67
In seinem Buch Die Krankheitserfinder warnt der Medizinjournalist J. Blech vor der Art und Weise, wie Gesunde von einer medizinisch-pharmazeutischen Allianz zu Patienten gemacht werden. Blech kritisiert, dass Krankheiten aus merkantilem Interesse regelrecht erfunden werden, z. B. indem man normale Prozesse des Lebens wie Geburt, Altern, Sexualität, Nicht- Glücklichsein und Tod sowie zahlreiche Befindlichkeitsstörungen zu behandlungsbedürftigen Krankheiten erklärt. Blech listet fünf Spielarten der Medikalisierung des Lebens auf:68 1. Normale Prozesse des Lebens werden als medizinische Probleme verkauft. 2. Persönliche und soziale Probleme wie z. B. Schüchtern heit oder Hyperaktivität bei Kindern werden zu medizinischen er klärt. 3. Mögliche Gesundheitsrisiken – z. B. Cholesterinwerte– werden als Krankheit verkauft. 4. Seltene Symptome werden zu grassierenden Volkskrankheiten hochgespielt. 5. Leichte Symptome werden als Vorboten schwerer Leiden gedeutet.
Unter anderem weist Blech auf die Gefahren hin, die von expandierenden Gentests ausgeht, die heute schon über das Internet angeboten werden. Auch Mediziner warnen vor dem Geschäft mit der Angst, das manche Anbieter von Gentests im Internet betreiben.69 Die Seriosität einiger Gentests, mit deren Hilfe zum Beispiel Polymorphismen diagnostiziert werden sollen, vor allem aber ihre Aussagekraft, ist auch unter Fachleuten umstritten. Nicht selten handelt es sich um rein statistische Aussagen über mögliche gesundheitliche Risiken, das heißt um Wahrscheinlichkeitsaussagen, aus denen für den Lebensverlauf und die Gesundheitsvorsorge der Individuen seriöserweise keine voreiligen Schlüsse gezogen werden sollten. Speziell bei Internetangeboten kommt hinzu, dass nationale gesetzliche Bestimmungen, die eine Kontrolle über die Zulässigkeit und Qualität von genetischen Untersuchungen und genetischer Beratung vorsehen, problemlos unterlaufen werden können.70 Auch die von der EU-Kommission eingesetzte Europäische Gruppe für Ethik (European Group on Ethics) hat bereits zur Problematik von Gentests, die im Internet angeboten werden, Stellung genommen und die erwähnten Probleme angesprochen.71
Um der bedenkenlosen Medikalisierung und Pathologisierung von natürlichen Vorgängen Einhalt zu gebieten, ist es notwendig, einen Begriff von Nicht-Krankheiten zu entwickeln. Dazu hat R. Smith 2002 eine Umfrage unter britischen Ärzten durchgeführt, deren Er gebnisse im British Medical Journal veröffentlicht worden sind.72 Smith definiert Nicht-Krankheiten als natürliche Vorgänge oder Probleme, die »von manchen als Erkrankung« beurteilt werden, »obwohl es für die Betroffenen von Vorteil sein könnte, wenn dies nicht der Fall wäre«. Als Beispiele für solche Nicht-Krankheiten nennt Smith nicht nur Tränensäcke oder Haarausfall, sondern auch das Altern und die Menopause. Gerade vor dem Hintergrund der expandierenden Anti-Aging-Medizin hat die Diskussion über Nicht-Krankheiten einige Brisanz.

6. Utopischer Gesundheitsbegriff und mythisches Ganzheitsideal

Einer scharfen theologischen Kritik unterzieht G. Schneider-Flume den utopischen Gesundheitsbegriff der WHO.73 Mit ihrer Kritik steht sie nicht allein.74 Den allgemein verbreiteten Wunsch: »Hauptsache gesund« deutet sie als Beispiel für die »Tyrannei des gelingenden Lebens«.75 Sie macht sich die Definition des Arztes und Theologen D. Rössler zu Eigen, wonach Gesundheit nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern die Kraft ist, mit ihnen zu leben.76 Gesundheit als Kraft, mit Störungen zu leben, ist für Schneider-Flume freilich keine Leistung, sondern Gabe, wie umgekehrt auch Krankheit keine Frage der Schuld und des Versagens ist, sondern Widerfahrnis. Krankheit wie Gesundheit verweisen auf die grundlegende Erfahrung von Passivität und Rezeptivität, durch welche die einseitige Sicht des Lebens aus dem Blickwinkel der menschlichen Selbstbestimmung relativiert wird.
Schneider-Flumes Kritik richtet sich grundlegend gegen die Idee des gelingenden Lebens, die bis in die kirchliche Sprache weit vorgedrungen ist. Sie weiß sich darin mit dem Praktischen Theologen H. Luther einig.77 Nicht, dass es im Leben kein Gelingen geben kann oder darf. »Aber die Befähigung, Pläne er folgreich zu verwirklichen und Unternehmen zum Gelingen zu verhelfen oder auch misslingen zu lassen, berechtigt nicht dazu, das Leben selbst als ganzes unter das Urteil des Gelingens zu stellen und damit die Tyrannei des gelingenden Lebens als alles beherrschend zu etablieren.«78
Schon D. Schellong hat vor etlichen Jahren darauf aufmerksam gemacht, wie gemein im Grunde der Jargon des gelingenden Lebens sei, weil es dann ja offenbar auch misslingendes Le ben gibt, über das nur ein negatives Gesamturteil gesprochen werden kann.79 Ein solches Totalurteil wirkt gerade auf Schwerkranke, chronisch Kranke oder Menschen mit schweren Behinderungen besonders zynisch.
Schneider-Flume bezieht sich unter anderem auf H. Luthers Kritik am Mythos der Ganzheitlichkeit. Tatsächlich ist mit Luther zu fragen, ob die modernen Ideale der Vollkommenheit und Ganzheit, die sich im utopischen Gesundheitsbegriff unserer Gegenwart widerspiegeln, nicht in Wahrheit zerstörerisch statt heilend sind. »Zerstören sie nicht das uns lebbare Leben? Unser Leben mit all seinen Brüchen, Fehlern, Unvollkommenheiten, Schwächen? Hindern uns nicht die Illusionen von Vollkommenheit und Ganzheit am Leben? Drohen wir nicht an unseren Illusionen zu scheitern? Ist der Mythos der Ganzheit nicht eine einzige Lebenslüge, die unsere schüchternen und unvollkommenen Tastversuche, unseren Versuch zu leben, im Keim erstickt und abtötet?«80
Kritische Rückfragen sind daher auch an das Postulat und Selbstverständnis einer so genannten ganzheitlichen oder holistischen Medizin zu richten, auch wenn ihre Kritik an der in Theorie und Praxis der so genannten Schulmedizin herrschenden Atomisierung und Entpersonalisierung des kranken Menschen grundsätzlich Zustimmung verdient. Nicht Krankheiten oder kranke Organe, sondern kranke Menschen sind das Objekt medizinischen Handelns. Der kranke Mensch aber ist, wie die psychosomatische Medizin völlig zu Recht geltend macht, nicht das bloße Objekt von Krankheit und Heilung, sondern deren Subjekt. Entsprechend muss die heutige Medizin von einer krankheitsorientierten Heiltechnik zur krankenorientierten Heilkunde weiterentwickelt werden.81
Gleichwohl ist das Konzept einer Ganzheitsmedizin kritisch nach seinen anthropologischen Prämissen und der Zielsetzung therapeutischer Maßnahmen zu befragen. Fragwürdig ist der Ansatz einer holistischen Medizin jedenfalls dann, wenn er auf der These beruht, der Mensch sei im Grunde seines Wesens heil und gut, so dass er sich eigentlich aus eigener Kraft heilen könne und die Aufgabe therapeutischen Handelns lediglich in der Beseitigung von Hemmungen auf dem Weg zu voller Selbstverwirklichung bestehe.82 Theologisch wird man daher auch der psychosomatischen These von Krankheit als Selbstheilung nicht vorbehaltlos zustimmen können.83 Sie impliziert nämlich ein Verständnis von Gesundheit und Heilung, welches Gesundheit mit selbstzentrierter Integrität, diese aber mit Heil im religiösen Sinne gleichsetzt, so dass Heilung bzw. Selbstheilung zur Erlösung bzw. Selbsterlösung wird.
Letztlich lässt sich die Idee des gelingenden Lebens auf die aristotelische Tradition einer teleologischen Ethik zurück führen, die das menschliche Leben und die menschliche Lebensführung unter eine Totalperspektive stellt. So erklärt R.Spaemann: »Das Leben als ein Ganzes unter dem Gesichtspunkt seines vollkommenen Gelingens zu betrachten, ist für die Philosophie von Anfang an konstitutiv.«84 Aber auch die theologische Ethik T. Rendtorffs ist diesem Denkansatz verpflichtet, wobei das Gelingen lediglich modifiziert wird als kontrafaktische Antizipation des Gelingens, die durch Jesus Christus repräsentiert und als Rechtfertigungslehre theoretisch ausgestaltet wird.85 Da gegen steht jedoch der Tod Jesu am Kreuz, der gar nichts von einem gelingenden Leben an sich hatte. Zumindest nach der markinischen Darstellung ist es Jesus am Ende nicht gelungen, dem Leiden einen Sinn zu geben und das Sterben harmonisch und selbstbestimmt in das eigene Leben zu integrieren, wie es heute in der Seelsorge-, Lebenshilfe- und Sterbebegleitungsliteratur immer wieder propagiert wird.86 Die Osterbotschaft aber besagt, dass der Wert des Lebens und seine Würde gerade nicht vom Gelingen oder Misslingen menschlicher Lebensführung und Selbstverwirklichung abhängen, sondern von der Teilhabe am Leben Gottes und seiner Fülle. Christliche Eschatologie lebt zwar von Bildern der Erfüllung und Vollendung, aber diese dürfen nicht zu einer metaphysischen Theorie der Sinntotalität um gedeutet werden.87 Sofern Sinntotalität in metaphysischen Kategorien gedacht wird, gilt gerade aus der Sicht einer biblisch begründeten Eschatologie die Feststellung Th. W. Adornos: »Das Ganze ist das Unwahre«.88
Einer grundlegenden Kritik unterzieht auch der Medizinsoziologe J. Bauch die Eschatologie der durch Transzendenzverlust gekennzeichneten salutokorrekten Gesellschaft, in der das Naturrecht des aufgeklärten Absolutismus grüßen lässt: »Wenn die Menschen durch sanitaristische Sozialisationsbedingungen und genetische Merkmalsplanung alle gesund und normiert sind, ist dann noch Gesellschaft, so wie wir glauben, sie zu kennen, möglich? Wenn Abweichungen minimiert werden, gibt es dann noch gesellschaftliche Evolution oder Geschichte? Oder be finden wir uns dann im post-histoire? ... Wenn durch Normierungen die Kontingenzformel für Kommunikation zunehmend eingeschränkt wird, dann ist die Gesellschaft zu einer letzten Ordnung gekommen und damit totalitär.«89
Vor dem Hintergrund eigener Krankheitserfahrung wehrt sich Schneider-Flume gegen die verbreitete Forderung, dass Krankheit in jedem Fall in das eigene Leben integriert werden müsse und ihr unbedingt ein Sinn abzugewinnen sei. »Mit der Forderung nach Sinngebung steht der Umgang mit Krankheit unter einem Erfolgsdruck und Kranken wird aufgebürdet, was kein Gesunder von Krankheit eingestehen würde, nämlich dass ihr ein Sinn abzugewinnen sei.«90 Der Sinn von Krankheit und Leiden muss dann vom Kranken selbst ständig geleistet und aufrecht erhalten werden.
Dementsprechend kritisch äußert sich Schneider-Flume auch zum Konzept des »coping«, d. h. des Fertigwerdens mit Krankheit, das in der Literatur zum Umgang mit chronischer Krankheit begegnet. D. von Engelhardt versteht unter »coping« »eine glückende, positive und nicht nur neutrale Reaktion auf Probleme und Krisen«.91 Dementsprechend sei auch Krankheit in das eigene Lebens- und Selbstverständnis zu integrieren. Auch plädiert von Engelhardt für eine Diätetik als »Stilistik des Lebens« bzw. als »ganzheitliche Lebenskunst, die Krankheit und Sterben umfaßt, die Natur und Kultur verbindet«.92 Aus Schneider-Flumes Sicht sind solche Forderungen ebenso problematisch wie die Idee eines »gelingenden bedingten Gesundseins« bei chronischer Krankheit.93 Dies sei ein »Gelingen auf Kosten des Realitätssinns«.94 Chronische Krankheit sei »entgegen aller Beschönigung der bleibende Stachel im Fleisch, wie der Apostel Paulus sagt«.95 Wo es irgend möglich ist, müsse Krankheit bekämpft und ihr das Recht auf das Leben bestritten werden, weil sie die Kraft zum Leben einschränkt und somit lebenswidrig ist.
Werden Gesundheit und Integration von Krankheit zum Gegenstand der Selbstverwirklichung erklärt, hat dies erhebliche soziale Auswirkungen. Der Einzelne wird dann nämlich zum eigenverantwortlichen Produzenten seiner Gesundheit. Dies führt dazu, worauf auch J. Blech hinweist, dass die Ursache sämtlicher Gesundheitsprobleme und die Lösungen ausschließlich beim Individuum gesucht werden. »Die Schuld für Probleme und Krankheiten wird auf das Individuum abgewälzt – während Politik und Gesellschaft sich aus der Verantwortung stehlen.«96 Darin zeigt sich abermals die strukturelle Mitleidslosigkeit des Ganzheitsideals, vor der H. Luther gewarnt hat.

7. Ethik des Krankseins

So berechtigt der Protest gegen die Tyrannei des gelingenden Lebens auch ist, so wenig Grund besteht, den Begriff der Bewältigung von Krankheit überhaupt abzulehnen. Auch der Begriff der Lebensführung muss nicht zwangsläufig mit der Ideologie des gelingenden Lebens verbunden sein. Von Lebensführung lässt sich mit J. Fischer jedenfalls dann theologisch verantwortbar sprechen, wenn im Unterschied etwa zur Konzeption T.Rendtorffs die für den christlichen Glauben und seine Anthropologie grundlegende Erfahrung menschlicher Grundpassivität und Rezeptivität mitbedacht wird. »Lebensführung ist dann immer auch ein Geführt-Werden, oder besser: Sie ist ein Sich-führen-Lassen, das sowohl ein passivisches Moment wie ein Moment der Eigenverantwortung enthält«.97
In diesem Sinne ist nun auch das Leben mit Krankheit eine ethische Aufgabe. F. Akashe-Böhme und G. Böhme sprechen geradezu von einer »Ethik des Krankseins«.98 Sie stellt sich in besonderem Maße im Umgang mit chronischer Krankheit. Ist Krankheit ein fester Bestandteil des Lebens, dann lässt sich das Kranksein selbst als eine besondere Form der »Lebenskunst« deuten. Dieser Gedanke begegnet häufig in der gegenwärtigen bioethischen Literatur. Das Ehepaar Böhme nimmt dabei Anleihen bei der Stoa.99 Es gelte, die Krankheit einerseits als Widerfahrnis ernst zu nehmen, andererseits aber als je meine Krankheit anzunehmen.
Weiterführend sind die Ausführungen Akashe-Böhmes und ihres Mannes zum Autonomiebegriff. Gegenüber paternalistischen Medizinkonzepten spielt die Autonomie des Patienten in den gegenwärtigen medizinethischen Debatten – gerade auch in der Diskussion über Therapieabbruch, Sterbehilfe und Patientenverfügungen – eine tragende Rolle. Oftmals besteht die Ge fahr, dass von einem abstrakten Autonomiebegriff ausgegangen wird, welcher der tatsächlichen Hilfs- und Schutzbedürftigkeit kranker Menschen nicht gerecht wird. Gehört Krankheit zum Leben dazu, ist, wie das Ehepaar Böhme argumentiert, nicht Autonomie, sondern Souveränität das angemessene Persönlichkeitsideal. »Ein Mensch ist souverän, wenn er mit sich etwas geschehen lassen und Abhängigkeiten hinnehmen kann.«100
Dieser Gedanke berührt sich mit wesentlichen Einsichten des christlichen Glaubens und seines Verständnisses von Menschenwürde, die auch Schwerstkranke und Menschen mit Behinderungen nicht verlieren können. Wie die Hilfsbereitschaft gehört auch die Hilfsbedürftigkeit zu den grundlegenden Merkmalen menschlichen Lebens. Von Beginn an zeichnet sich unser Leben durch eine »chronische Bedürftigkeit« und eine »unendliche Angewiesenheit« aus.101 Nicht nur in den ersten Lebensmonaten und -jahren, im Krankheitsfall oder bei Unfällen, in Notlagen und akuten Krisen und zunehmend am Lebensende, sondern auch in guten Zeiten sind Menschen auf wechselseitige Hilfe und Unterstützung angewiesen. Konzeptionen einer »Care«-Ethik, die vor allem in der heutigen Medizinethik eine wichtige Rolle spielen, setzen voraus, dass Sorge, lateinisch »cura«, im Sinne der Selbstsorge und der Fürsorge ein entscheidendes Grundmotiv menschlicher Lebensführung ist.102 Das Ethos des Helfens und seine Menschlichkeit gründen ganz wesentlich in der Erfahrung unserer Verletzlichkeit, der eigenen wie der Verletzlichkeit des Anderen.103 Wechselseitige Hilfsbedürftigkeit ist gerade kein Mangel, sondern im Gegenteil eine Grundbedingung menschlicher Lebensfülle und menschlicher Daseinserfüllung. Zeiten eigener Krankheit, aber auch die Erfahrung der Krankheit des Anderen machen uns dies auf besonders eindringliche Weise bewusst.

Summary

Sickness and health are not objective facts, but rather a social construction containing biological, psychological and cultural aspects. Thus we draw a distinction between illness and disease. Moreover, every illness must be interpreted within the context of a biography. Fundamental religious and ideological convictions also play an important role in our interpretation of sick ness and suffering. Our notion of illness has changed profoundly under the influence of modern medicine. At the same time, health has been defined as the highest good with quasi religious overtones. The reverse side of this utopian notion of health is the progressive medicalisation of natural life processes. Both tendencies are problematic from a medical-ethical perspective. It is essential to counter them with the recognition that illnesses are a fundamental aspect of life. Living with illness is not only a matter of destiny but is also an ethical task. These issues are particularly significant in regard to the way we deal with chron ic illnesses.

Fussnoten:

1) Vgl. auch die Parallelen in Mk 2,17; Mt 9,12, wo an Stelle von den Gesunden (hygiaiontes) von den Starken (ischyontes) gesprochen wird.
2) Vgl. A. Labisch/N. Paul, Art. Medizin 1, Lexikon der Bioethik, Bd. 2, Gütersloh 1998, 630–642, hier 631.
3) Vgl. W. Wieland, Diagnose. Überlegungen zur Medizintheorie, Berlin u. a. 1975.
4) H.-G. Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt a. M. 41996.
5) Morris, David B.: Krankheit und Kultur. Plädoyer für ein neues Körperverständnis. Aus d. Engl. V. B. Steckhan, Th. Wollermann u. B. Jendricke. München: Antje Kunstmann 2000. 392 S. m. Abb. 8°. Geb. €22,50. ISBN 3-88897-251-1. Zitat: 56.
6) Ebd.
7) Engelhardt, Dietrich von: Krankheit, Schmerz und Lebenskunst. Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung. München: Beck 1999. 194 S. m. 18 Abb. 8° = Becksche Reihe, 1298. Kart. € 9,90. ISBN 3-406-42098-2. Zitat: 13.
8) Akashe-Böhme, Farideh, u. Gernot Böhme: Mit Krankheit leben. Von der Kunst, mit Schmerz und Leid umzugehen. München: Beck 2005. 144 S. 8° = Becksche Reihe, 1620. Kart. € 9,90. ISBN 3-406-52790-6. Hier: 16 ff.
9) D. B. Morris, a. a. O. (Anm. 5), 7.
10) F. Akashe-Böhme/G. Böhme, a. a. O. (Anm. 8), 19 ff.
11) Vgl. G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, Frankfurt a. M 1977.
12) Zu dieser Unterscheidung vgl. E. J. Cassell, »Illness and Disease«, Hastings Center Report 6, 1976, 27–37; U. Gerhardt, Gesellschaft und Gesundheit. Begründung der Medizinsoziologie, Frankfurt a. M. 1991.
13) Vgl. P. Hahn (Hrsg.), Psychosomatische Medizin (WdF 222), Darmstadt 1985.
14) D. Rössler, Der Arzt zwischen Technik und Humanität. Religiöse und ethische Aspekte der Krise im Gesundheitswesen, München 1977, 63.
15) Vgl. F. Akashe-Böhme/G. Böhme, a. a. O. (Anm. 8), 8.
16) Vgl. K. Jaspers, Die Idee des Arztes und ihre Erneuerung, Universitas 8, 1953, 1121–1131.
17) V. v. Weizsäcker, Der Arzt und der Kranke, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1987, 9–26, hier 13.
18) E. Amelung, in: Ders. (Hrsg.), Ethisches Denken in der Medizin. Ein Lehrbuch, Berlin u. a. 1992, 19–53, hier 36.
19) D. v. Engelhardt, a. a. O. (Anm. 7), 7.
20) Bauch, Jost: Krankheit und Gesundheit als gesellschaftliche Konstruktion. Gesundheits- und medizinsoziologische Schriften 1979– 2003. Konstanz: Hartung-Gorre 2004. VI, 187 S. 8° = Konstanzer Schriften zur Sozialwissenschaft, 62. Kart. € 19,80. ISBN 3-89649-929-7.
21) A. a. O. (Anm. 20), 8.
22) A. a. O. (Anm. 20), 4.
23) Vgl. D. B. Moris, a. a. O. (Anm. 5), 79 ff.
24) Vgl. J. Willi/E. Heim, Psychosoziale Medizin. Gesundheit und Krankheit in bio-psycho-sozialer Sicht, 2 Bde., Berlin u. a. 1986.
25) Vgl. dazu F. Akashe-Böhme/G. Böhme, a. a. O. (Anm. 8), 93 ff., sowie D. B. Morris, a. a. O. (Anm. 5), 171 ff., und seine Analyse der Biologie der Magersucht.
26) Ritschl, Dietrich: Zur Theorie und Ethik der Medizin. Philosophische und theologische Anmerkungen. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2004. 280 S. 8°. Kart. € 24,90. ISBN 3-7887-2006-9. Vgl. 232 ff.248 ff.
27) F. Akashe-Böhme/G. Böhme, a. a. O. (Anm. 8), 113 ff.
28) Vgl. P. L. Berger/Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 1969.
29) Zitiert nach D. v. Engelhardt, a. a. O. (Anm. 7), 88. Die Definition stammt bereits aus dem Jahr 1947.
30) So schon die Kritik bei K. Jaspers, Der Arzt im technischen Zeitalter, München 1986, 53: »Solche Gesundheit gibt es nicht. Nach diesem Begriff sind in der Tat alle Menschen und jederzeit irgendwie krank.«
31) J. Blech, Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden, Frankfurt a. M. 72004, 18.
32) A. a. O. (Anm. 31), 217.
33) Vgl. D. B. Morris, a. a. O. (Anm. 5), 121 ff.
34) D. v. Engelhardt, a. a. O. (Anm. 7), 102 ff.
35) Vgl. S. Sontag, Krankheit als Metapher, Frankfurt a. M. 1996. Krankheit bedeutet bei Sontag, wie der englische Originaltitel besagt, »illness«.
36) D. B. Morris, a. a. O. (Anm. 5), 234.
37) A. a. O. (Anm. 5), 236.
38) A. a. O. (Anm. 5), 263.
39) Vgl. D. Ritschl, a. a. O. (Anm. 26), 53 ff.131 ff. u. ö. Siehe auch D. Ritschl/H. O. Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, München 1976, sowie D. Ritschl, Zur Logik der Theologie, München 1984.
40) Vgl. D. B. Morris, a. a. O. (Anm. 5), 231 ff.; F. Akashe-Böhme/G. Böhme, a. a. O. (Anm. 8), 23 ff.
41) W. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 31985.
42) P. Ricœur, Zeit und Erzählung, 3 Bde., München 1988/89/91.
43) D. Ritschl, a. a. O. (Anm. 26), 138.
44) A. a. O. (Anm. 26), 133.
45) A. a. O. (Anm. 26), 139.
46) Vgl. a. a. O. (Anm. 26), 219 ff.
47) D. B. Morris, a. a. O. (Anm. 5), 303 ff.
48) A. a. O. (Anm. 5), 314.
49) D. Ritschl, a. a. O. (Anm. 26), 43.
50) Vgl. a. a. O. (Anm. 26), 135 ff.
51) J. Bauch, a. a. O. (Anm. 20), 4.
52) Vgl. E. Amelung, a. a. O. (Anm. 18), 19–53; D. Ritschl, a. a. O. (Anm. 26), 134.
53) Siehe dazu ausführlich U. Körtner, Wie lange noch, wie lange? Über das Böse, Leid und Tod, Neukirchen-Vluyn 1998, 53ff.
54) Vgl. dazu ausführlich U. Körtner, Grundkurs Pflegeethik (UTB 2514), Wien 2004, 103 ff.
55) Vgl. dazu F. Akashe-Böhme/G. Böhme, a. a. O. (Anm. 8), 121 ff.; U. Körtner/F. Aksu/P. J. Scheer, Leidens- und Krankheitsverhalten im Spannungsfeld zwischen Religion und Ethik, in: Monatsschrift Kinderheilkunde 153, 2005, 34–41.
56) A. v. Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 1924, 129 ff.
57) E. Biser, Die Heilkraft des Glaubens, Conc (D) 34, 1998, 534– 544, hier 534.
58) Dörnemann, Michael: Krankheit und Heilung in der Theologie der Kirchenväter. Tübingen: Mohr Siebeck 2003. XIV, 380 S. gr.8° = Studien und Texte zu Antike und Christentum, 20. Kart. € 59,00. ISBN 3-16-148161-5.
59) Vgl. Joh 9,1–3; Lk 13,1–5.
60) D. Ritschl, a. a. O. (Anm. 26), 166 f.
61) M. Beck, Der Krebs und die Seele. Gen – Geist – Gehirn – Gott, Paderborn 2004.
62) A. a. O. (Anm. 61), 186 ff., bes. 218 ff.
63) A. a. O. (Anm. 61), 226.
64) D. Melzer/R. Zimmern, Genetics and Medicalisation, British Medical Journal 324, 2003, 863–864.
65) Vgl. M. Zaumseil, Ein neues Verständnis von chronischer Krankheit? Einleitung, in: Hermann, Anja, Schürmann, Ingeborg, u. Manfred Zaumseil [Hrsg.]: Chronische Krankheit als Aufgabe. Betroffene, Angehörige und Behandler zwischen Resignation und Aufbruch. Tübingen: dgvt-Verlag 2000. 270 S. m. Abb. gr.8° = Fortschritte der Gemeindepsychologie und Gesundheitsförderung, 7. Kart. € 19,00. ISBN 3-87159-607-8; 7–20, hier 18.
66) F. Akashe-Böhme/G. Böhme, a. a. O. (Anm. 8), 42.
67) D. B. Morris, a. a. O. (Anm. 5), 42.
68) Vgl. J. Bech, a. a. O. (Anm. 31), 24 ff.
69) R. Leinmüller, Gentests: Manchmal ein Geschäft mit der Angst, http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/pdf.asp?id=31826; H. Berth/A. Dinkel/F. Balck, Gentests für alle?, http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/pdf. asp?id=31170.
70) Siehe z. B. Abschnitt IV des österreichischen Gentechnikgesetzes (§§ 64–79 GTG).
71) European Group on Ethics, Statement »Advertising Genetic Te¬ st¬ing via Internet«, http://europa.eu.int/comm/european_group_ethics/ docs/statgentest-en.pdf (Februar 2003).
72) R. Smith, In search of »non-disease«, British Medical Journal 342, 2002, 883–885.
73) G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2002, 85 ff.
74) Vgl. z. B. U. Bach, »Gesunde« und »Behinderte«. Gegen ein Apartheitsdenken in Kirche und Gesellschaft. Mit einer Einführung von Th. Strohm, Gütersloh 1994, 100 ff.; U. Eibach, Heilung für den ganzen Menschen? Ganzheitliches Denken als Herausforderung von Theologie und Kirche, Neukirchen-Vluyn 1991, 50 ff.
75) G. Schneider-Flume, a. a. O. (Anm. 73), 82 ff.
76) Vgl. D. Rössler, a. a. O. (Anm. 14), 32; G. Schneider-Flume, a. a. O. (Anm. 73), 95.
77) Vgl. H. Luther, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: Ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160–183.
78) G. Schneider-Flume, a. a. O. (Anm. 73), 12.
79) D. Schellong, Die Krise der Ehe und die Weisheit der Theologie, in: Einwürfe, hrsg. v. F.-M. Marquardt, D. Schellong, M. Weinrich u. dem Chr. Kaiser Verlag, Bd. 1, 1983, 14–89, hier 68 f.
80) H. Luther, Leben als Fragment. Der Mythos von der Ganzheit, WzM 43, 1991, 262–273, hier 263.
81) Vgl. dazu H. Schipperges, Gesundheit – Krankheit – Heilung, in: F. Böckle u. a. (Hrsg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 10, Freiburg-Basel-Wien 1980, 51–84, hier 68 ff.; J. Mayer-Scheu/R. Kautzky (Hrsg.), Vom Behandeln zum Heilen. Die vergessene Dimension im Krankenhaus, Freiburg i. Br.-Göttingen 1980.
82) Zur Kritik siehe auch U. Eibach, a. a. O. (Anm. 74), 50 ff.
83) Vgl. D. Beck, Krankheit als Selbstheilung. Wie körperliche Krankheiten ein Versuch zur seelischen Heilung sein können. Mit einem Nachwort von E. Kübler-Ross, Frankfurt a. M. 1985.
84) R. Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 41998, 85.
85) Vgl. T. Rendtorff, Ethik, Bd. 1 (ThW 13,1), Stuttgart 21990, 96.
86) Vgl. G. Schneider-Flume, a. a. O. (Anm. 73), 105: »Man muss immer wieder darauf hinweisen, dass Jesus von Nazareth diesem Ideal nicht gerecht geworden ist.«
87) So z. B. W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 206. Zur Kritik an Pannenberg siehe F. Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, 471 ff., sowie G. Schneider-Flume, a. a. O. (Anm. 73), 114 ff.
88) Th. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1970, 57.
89) J. Bauch, a. a. O. (Anm. 20), 11.
90) G. Schneider-Flume, a. a. O. (Anm. 73), 97.
91) D. v. Engelhardt, Mit der Krankheit leben. Grundlagen und Perspektiven der Copingstruktur der Patienten, Heidelberg 1986, 9.
92) D. v. Engelhardt, a. a. O. (Anm. 7), 175.
93) Vgl. F. Hartmann, »Qualität« von Leben in chronischem Kranksein, in: Medizinische Klinik 87, 1992, 215–219.
94) G. Schneider-Flume, a. a. O. (Anm. 73), 98.
95) A. a. O. (Anm. 73), 97.
96) J. Blech, a. a. O. (Anm. 31), 223.
97) J. Fischer, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung (Forum Systematik 11), Stuttgart 2002, 136.
98) F. Akashe-Böhme/G. Böhme, a. a. O. (Anm. 8), 85.
99) Vgl. F. Akashe-Böhme/G. Böhme, a. a. O. (Anm. 8), 137 ff.
100) A. a. O. (Anm. 8), 62; vgl. 85.
101) W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, Göttingen 1964, 11. Im Anschluss daran J. Ziemer, In Freiheit helfen. Zur psychologischen und theologischen Problematik der helfenden Berufe, ZdZ 44, 1990, H. 1, 6–11, hier 7.
102) Vgl. dazu W. T. Reich, History of the Notion of Care, in: Ders. (Hrsg.), Encyclopedia of Bioethics, New York 1995, 319–331; ders., Historical Dimensions of an Ethic of Care in Health Care, ebd., 331–336.
103) Auf die Bedeutung der Verletzlichkeit des Menschen für Moral und Ethik haben in der neueren Philosophie vor allem E. Levinas, P. Ricœur und J. Habermas hingewiesen.