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Ausgabe:

Juni/2005

Spalte:

591–608

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Saarinen, Risto

Titel/Untertitel:

Weder "sichtbare Einheit" noch "gemeinsames Verständnis"? Grundsatzfragen im Umfeld des VELKD-Textes "Ökumene nach evangelisch-lutherischem Verständnis"

Ökumenische Theologie versucht seit langem, eine allgemein anerkannte Zielvorstellung der ökumenischen Arbeit zu formulieren. Zu dieser Aufgabe gehört notwendigerweise auch, die konkreten Vorstellungen zu Weg und Methode zu diskutieren, auf dem und durch die die Kirchen vom jetzigen Zustand zum vorgestellten Ziel gelangen können. In den letzten 20 Jahren hat die ausführliche theologische Diskussion um die Methoden und Zielvorstellungen allerdings ein enttäuschendes Ergebnis gezeitigt. Anstatt einer einheitlichen ökumenischen Methode und Zielvorstellung näher zu kommen, kam es zur Konfessionalisierung der Methoden und Zielvorstellungen. Die Begründung dafür lautet, dass das evangelische Verständnis des Zieles und auch des Weges von dem katholischen Verständnis gründlich abweicht.1

Dem evangelischen Verständnis der Ökumene zufolge, so Christoph Schwöbel, verwirklicht sich die in Christus geschenkte Einheit "durch die Vielfalt der Kirchen".2 Der neue Text der Kirchenleitung der VELKD, Ökumene nach evangelisch-lutherischem Verständnis (ÖL) legt in seinem dritten Kapitel eine "Ökumenische Theorie und Praxis nach lutherischem Verständnis" dar. Nach dieser Theorie ist die Gemeinschaft der Glaubenden aller Zeiten und aller Orte eine "nicht sichtbare, aber geglaubte Einheit, die begründet ist durch den einen Herrn, den einen Glauben und die eine Taufe" (Eph 4,5). Im Rahmen dieser Zielvorstellung existieren "die sichtbaren, institutionell verfassten Kirchen ... nicht als Einheit" (ÖL 3.1.a).

Aus dieser Stellungnahme wird deutlich, dass die Kirchenleitung der VELKD sich kritisch zur "sichtbaren Einheit" als Zielvorstellung der Ökumene verhält. Schwöbel geht noch weiter, indem er von der bleibenden "Vielfalt" spricht und konstatiert, dass die Kirchen auch in der Zukunft und im vorgestellten Ziel in ihrer institutionellen Vielfalt existieren werden. Nach Ingolf U. Dalferth ist die Vorstellung der sichtbaren Einheit eine Folge falscher Hermeneutik. Dalferth kritisiert ein besonderes Ökumeneverständnis, "das man auch nicht wollen kann, wenn einem an Kirche und Ökumene liegt: visible unity, sichtbare Einheit der Kirche, in der die deuteropaulinische Devise ein Herr, ein Glaube, eine Taufe (Eph 4,5) zum ekklesiozentrischen Leitbild der Ökumene ein Amt, ein Glaubensverständnis, eine sichtbare Einheit der Kirche verkehrt ist".3

Die Preisgabe der "sichtbaren Einheit" und die Bejahung der bleibenden Vielfalt als genuin evangelische ökumenische Zielvorstellung ist im Rahmen der weltweiten Ökumene eine provokative These. Der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), den die deutschen evangelischen Landeskirchen seit langer Zeit kräftig unterstützen, hat die "sichtbare Einheit" als das ökumenische Ziel hervorgehoben.4 Darüber hinaus hat die EKD in ihren bilateralen Texten, zum Beispiel im Meissen-Abkommen mit der Kirche von England, betont, dass die Kirchen zusammen "auf dem Weg zu sichtbarer Einheit" sind.5 Wenn die sichtbare Einheit dem evangelischen Verständnis der Ökumene nicht entspricht, warum haben sich die deutschen Landeskirchen dann im ÖRK und in Meissen zu dieser Zielvorstellung bekannt?

Bevor wir auf diese Frage präziser zurückkommen, ist eine andere, grundlegendere Frage nötig. Ist es überhaupt sinnvoll, von einem "evangelisch-lutherischen Verständnis" der Ökumene zu sprechen? Wenn wir einem anderen begegnen, sollen wir ihm als dem Anderen begegnen, das heißt, ohne im Voraus die Regel dieser Begegnung zu bestimmen. Wenn ich dem Anderen nur im Rahmen meiner eigenen Perspektive begegnen will und nur meine eigene Spielregel für angemessen halte, geht es überhaupt nicht um die Begegnung mit dem Anderen, sondern um seine "Kolonisierung".6

Um eine echte Begegnung zu ermöglichen, sollten die Methoden und die Zielvorstellung der Begegnung gemeinsam bedacht und festgelegt werden. Für eine Begegnung zweier Konfessionen wäre es nach diesem Gedankengang am besten, wenn beide Seiten sich über eine konfessionsneutrale Methode einigen könnten und bestimmte Zielvorstellungen weder im Voraus festschrieben noch sie grundsätzlich ausschlössen. Wenn zum Beispiel der eine Partner sagt, nur die bleibende Vielfalt sei aus konfessionellen Gründen annehmbar, der andere aber die sichtbare Einheit als Zielvorstellung voraussetzt, ist die Begegnung grundsätzlich blockiert. Manchmal werden solche Pattsituationen dadurch legitimiert, dass alle Gruppen durch ihre besondere "Perspektive" gezwungen sind, innerhalb des eigenen Ausgangspunktes zu bleiben. Die philosophische Reflexion auf Perspektivität hat allerdings gezeigt, dass gerade die Vielfalt gleichzeitiger Perspektiven sowohl von verschiedenen Menschen als auch innerhalb jedes Einzelnen die Überwindung solcher Pattsituationen ermöglicht.7

Im Folgenden wird die Frage erläutert, ob sich die evangelisch-lutherische Theologie zu einer bestimmten ökumenischen Perspektive bzw. Zielvorstellung bekennen und gegebenenfalls andere Perspektiven bzw. Ziele ausschließen kann. Die Erläuterung geschieht in drei Schritten. Zuerst (1.) werden die Herkunft und der theologische Gehalt der Formel "sichtbare Einheit" diskutiert. Die Geschichte dieses Terminus kann etwas über die möglichen konfessionellen Bindungen und Spannungen in Blick auf diese Zielvorstellung aussagen. Letzten Endes geht es aber nicht um Begriffsgeschichte, sondern um die Bestimmung der theologischen Wahrheit, also um die Frage, wie die "sichtbare Einheit" im Rahmen evangelisch-lutherischer Ökumene zu bewerten ist.

Als zweiter Punkt (2.) wird die grundsätzliche Kritik Dalferths an der Konsensökumene erläutert. Weil Dalferths Sicht vom menschlichen Verstehen dabei eine ausschlaggebende Rolle spielt, wird sie eigens kommentiert. Im Weiteren werden die Bedingungen für die Entstehung von Konsensen nicht nur in der Ökumene, sondern auch in anderen Bereichen der menschlichen Lebenspraxis diskutiert. Um Dalferths Kritik zu begegnen, müssen die Ökumeniker die komplizierten Ähnlichkeiten und Unterschiede bei der Suche nach gemeinsamem Verständnis in drei Bereichen erörtern, nämlich in der Ökumene, in der Politik und in der Wissenschaft.

Mit Hilfe der gewonnenen Erkenntnisse wird zuletzt (3.) der VELKD-Text Ökumene nach evangelisch-lutherischem Verständnis kurz kommentiert. Zwei abgrenzende Bemerkungen sind schon jetzt nötig. Erstens, das Hauptgewicht der folgenden Ausführungen liegt nicht auf der Kommentierung von ÖL, sondern auf der Analyse der grundsätzlichen Fragen der so genannten Konsensökumene. Mit dem Wort "Umfeld" im Titel dieses Aufsatzes sind also die in den Kapiteln 1 und 2 besprochenen Themen gemeint. Zweitens, meine Kommentare zur ÖL sind bewusst aus der Perspektive des skandinavischen Luthertums geschrieben, in dem die Rolle der evangelisch-lutherischen Ökumene sich anders gestaltet als in Deutschland. Wie das Modell der Perspektivität zeigt, sind wir aber keineswegs endgültig an unsere partikularen Perspektiven gebunden.

1. Die schwache Pluralität: keine sichtbare Einheit

Seit 1975 nennt die Verfassung (III/1) des ÖRK als ihr Ziel, "die Kirchen aufzurufen zu dem Ziel der sichtbaren Einheit im einen Glauben und der einen eucharistischen Gemeinschaft". Ähnlich definiert die gegenwärtige Verfassung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung (Abs. 2).8 Weil diese Organisationen zusammen den größten Teil des Weltchristentums umfassen, würde man denken, die sichtbare Einheit sei die von allen Kirchen angenommene Zielvorstellung der ökumenischen Bewegung. Obwohl diese Zielvorstellung tatsächlich einen semioffiziellen Status in der Ökumene hat, sind die protestantischen Theologen in ihrer Benutzung dieser Vorstellung eher vorsichtig. Zwar wird sie von den Mitgliedskirchen des ÖRK nur selten ausdrücklich abgelehnt,9 aber in ihren bilateralen
Verträgen benutzen sie die Formel "sichtbare Einheit" nur selektiv. Die Leuenberger Konkordie (43,46) spricht allgemein von "der ökumenischen Gemeinschaft aller christlichen Kirchen". Die Evangelisch-Lutherische Kirche Finnlands sowie die EKD verwenden "sichtbare Einheit" in ihren Verträgen mit der Kirche von England,10 aber das neue Abkommen zwischen Finnland und der EKD spricht nur von der Kirchengemeinschaft, obwohl dieses Abkommen sonst Materialien aus den früheren Porvoo- und Meissen-Texten verwendet.11

Diese Beobachtungen weisen schon auf eine bestimmte theologische Richtung hin, die für den Ausdruck "sichtbare Einheit" charakteristisch ist. Die Formel ist in der anglikanischen Theologie beheimatet und wird besonders stark von der englischsprachigen Welt benutzt. Wenn man darüber hinaus die Begriffsgeschichte studiert, ist es überraschend, wie spät und zufällig diese Zielvorstellung in den Texten der ökumenischen Bewegung erscheint. In Edinburgh 1937 wird die sichtbare Einheit nur ausnahmsweise und ohne terminologische Festlegung erwähnt. Noch in Lund 1952 wird häufiger von der "Manifestierung" der bestehenden Einheit gesprochen, obwohl die "sichtbare Gemeinschaft" als Natur der angestrebten Einheit schon definiert wird. Die berühmte Neu-Delhi-Einheitsformel des ÖRK von 1961 spricht von der "Sichtbarmachung der Einheit" so, dass der Gedanke der Sichtbarkeit schon festgelegt ist, der Terminus "sichtbare Einheit" allerdings nicht.12 Erst in Nairobi 1975 gewinnt er den Stellenwert, den er bis heute hat.

Was den theologischen Inhalt dieser Entwicklung betrifft, sind dabei zwei Aspekte bedeutsam, die beide vorwiegend aus der englischsprachigen Welt stammen. Einerseits spricht man in Lund 1952 davon, wie die von allen anerkannte unsichtbare Einheit der Christen "manifestiert" werden kann. Der gute Wille und die Bereitschaft sind da, aber die institutionellen und kirchenrechtlichen Strukturen ermöglichen keine "sichtbare" Realisierung der Ökumene. Die "Sichtbarmachung" wird dabei zu einem Legitimationswort, mit dessen Hilfe eine institutionalisierte und stabile Ökumene aufgebaut werden kann. Andererseits ist die "Manifestation" der inneren Einheit in Lund 1952 ein Stichwort, in dessen Gebrauch sich die presbyterialen und die episkopalen Flügel des angelsächsischen Protestantismus einigen können. Die Presbyterialen sehen in der "Manifestation" ein konkretes Zeugnis und eine Verwirklichung ihres Einheitsbemühens, die Episkopalen aber finden im selben Gedanken das äußere Zeichen und die gestaltgebende Struktur, die für eine historisch legitime Kirchenverfassung notwendig sind.13

Auf diese Weise entsteht eine Konzeption der "sichtbaren Einheit", die 1. theologisch auf der Unterscheidung zwischen unsichtbar und sichtbar gründet und sich 2. darüber hinaus auf die äußere Kirchenverfassung konzentriert. Beide theologischen Motive können der evangelisch-lutherischen Theologie Schwierigkeiten bereiten. Der anglikanische Gebrauch der ersten Differenz ist stark durch die zwinglianische Unterscheidung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche geprägt, während das Luthertum anhand des theologischen Topos der "verborgenen Kirche" sein Kirchenverständnis dargelegt hat.14 Der zweite Aspekt der "manifesten" Kirchenverfassung wird in der lutherischen Tradition dem Inhalt des Glaubens untergeordnet: Wenn wir uns über Wort und Sakrament einigen können, können wir der äußeren Kirchenverfassung eine relative Freiheit einräumen. Diesem Gedankengang gemäß kann die sichtbare Einheit der institutionellen Kirche zwar eine Folge der gelungenen ökumenischen Arbeit sein, aber das eigentliche Ziel dieser Arbeit liegt in der inhaltlichen Bestimmung der rechten Lehre und Verkündigung bzw. im gemeinsamen Verständnis des Evangeliums.

So haben 1. und 2. zusammen eine implizite und manchmal auch explizite Spannung zwischen dem Weltkirchenrat und der Faith-and-Order-Bewegung einerseits und der evangelisch-lutherischen Ökumene andererseits gezeitigt. Im Lutherischen Weltbund, in den regionalen bilateralen Dialogen und in der Leuenberger Kirchengemeinschaft haben evangelisch-lutherische Ökumeniker andere Zielvorstellungen der Ökumene herausgearbeitet. Die "Einheit in versöhnter Verschiedenheit" wird dabei oft als evangelisch-lutherische Zielvorstellung hervorgehoben. Sie manifestiert sich als "Kirchengemeinschaft", die nicht durch eine neue Kirchenverfassung entsteht, sondern im gemeinsamen Verständnis des Evangeliums ihre Legitimation hat. Das gemeinsame Verständnis kann unter Umständen auch ein "differenzierter Konsens" sein, wobei man die bestehenden Unterschiede kritisch diskutieren muss, um ihren Stellenwert im Rahmen der erreichten Gemeinsamkeiten richtig einschätzen zu können.15

Bei dieser Lagebeschreibung setze ich eine solche Differenzierung des Konsenses und des gemeinsamen Verständnisses voraus, die als "schwache Pluralität" der theologischen und normativ-pädagogischen Lehrzeugnisse der Kirchen bezeichnet werden kann. Im Rahmen der schwachen Pluralität werden die kirchlichen Lehren und Traditionen so beschrieben, dass sie mit den Mitteln der Konsensökumene und der Zielvorstellung der "versöhnten Verschiedenheit" angemessen und glaubwürdig begriffen, diskutiert und Differenzen zum großen Teil auch beseitigt werden können. Nach dieser Auffassung geht es in der Ökumene um inhaltliche Lehren und Theologien, die gemeinsam verstanden werden können und auf denen die Identität einer Konfession zum großen Teil gründet.

Es kann aber auch argumentiert werden, dass ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums aus faktischen, praktischen oder theoretischen Gründen überhaupt nicht möglich ist. Auf die theoretische Variante dieser "starken Pluralität" wird im nächsten Abschnitt Bezug genommen. Vorher ist jedoch noch etwas zur evangelisch-lutherischen Ökumene im Sinne der "schwachen Pluralität" zu sagen. Diesen Sinn hat meines Erachtens die Dialogarbeit des Lutherischen Weltbundes vorausgesetzt.16

Die Dialoge des Weltluthertums sind sich angeblich der oben definierten Spannungsmomente zwischen "sichtbarer Einheit" einerseits und "Einheit in versöhnter Verschiedenheit" andererseits bewusst gewesen. Sie haben jedoch die Spannung nicht thematisiert. Teilweise wurde im Gegenteil die sichtbare Einheit auf sehr unproblematische Weise als Ziel der Ökumene festgestellt. An die Grenze der Glaubwürdigkeit ist der Dialogtext Kirche und Rechtfertigung (1993) zwischen Lutherischem Weltbund und Römisch-katholischer Kirche gegangen, indem er konstatiert: "Sichtbare Einheit war und ist immer das letzte Ziel des internationalen Dialogs zwischen der Römisch-katholischen Kirche und der lutherischen Gemeinschaft."17 Die früheren Texte dieses Dialogprozesses, die bisweilen die Modelle der Einheit ausführlich erörtern, belegen diese Behauptung kaum.

Um die Nichterwähnung der Spannung zwischen sichtbarer Einheit und lutherischer Theologie verstehen zu können, müsste die andere Seite, nämlich die Verwendung der Formel "sichtbare Einheit" im Anglikanismus, im Katholizismus und in der Orthodoxie beleuchtet werden. Das ist hier jedoch nicht möglich. Es kann aber als vorläufige These gesagt werden, dass seit den 60er Jahren diese drei Kirchenfamilien die Formel "sichtbare Einheit" ausführlich rezipiert und die mit der Formel ausgesprochene Zielvorstellung in ihren Dialogen vertreten haben. Das Zweite Vatikanische Konzil hat, vielleicht im Anschluss an die Neu-Delhi-Einheitsformel, "die eine sichtbare Kirche" als Ziel des Ökumenismus beschrieben.18 Weil die Orthodoxen im ÖRK und die Katholiken in der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung Mitglieder sind, ist es für diese Kirchen seit den 60er Jahren leicht gewesen, die sichtbare Einheit als ökumenische Zielvorstellung zu bejahen.

Die Hervorhebung der "Sichtbarkeit" kann für Orthodoxe und Katholiken denselben theologischen Zweck haben wie für die episkopalen Protestanten in Lund 1952: Das Verlangen nach Sichtbarkeit bejaht das äußere, institutionelle und zeichenhafte Wesen der Kirche. Darum passt diese Zielvorstellung mit dem Selbstverständnis dieser Kirchen gut zusammen. Auf der anderen Seite kann allerdings gefragt werden, ob die episkopal strukturierten Kirchen durch die Aneignung dieser Redewendung, vielleicht unbewusst und unbemerkt, eine anglikanisch-zwinglianische Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche rezipiert haben.19 Die Entstehungsgeschichte der ökumenischen "Manifestierung" der Einheit zwischen Edinburgh 1937 und Lund 1952 trägt unmissverständlich die Spuren dieses protestantischen ekklesiologischen Gegensatzes. Dass die Idee der "sichtbaren Einheit" eine so dominierende Rolle in der ökumenischen Bewegung gewinnen konnte, hängt entscheidend mit dieser Prägung durch die zwei Flügel des englischsprachigen Protestantismus zusammen.

Allerdings ist diese Idee jetzt eine Realität, an der die Lutheraner in ihren Dialogen mit den Anglikanern, Katholiken und Orthodoxen nicht vorbeikommen. Deswegen spielt diese Zielvorstellung auch in den Dialogen der evangelisch-lutherischen Kirchen eine bedeutende Rolle. Oft begegnen die evangelisch-lutherischen Theologen einer Auffassung, derzufolge die ökumenische Arbeit sich letzten Endes auf die Kirchenverfassung bzw. auf die Institution der Kirche mit ihrem zeichenhaften und in dem Sinne sichtbaren Charakter konzentrieren muss. Die Zentralität der Amtsfrage ist ebenfalls mit der Gedankenfigur der Sichtbarkeit eng verbunden. Natürlich sollte man nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Zielvorstellung der "sichtbaren Einheit" die Zentralität der Amtsfrage verursacht hätte. Es kann aber als These behauptet werden, dass die Hervorhebung dieser Zielvorstellung das zeichenhafte Amtsverständnis implizit unterstützt und folglich die Kluft zwischen evangelischer und katholischer Amtstheologie auf unglückliche Weise vergrößert hat.

Viele Aspekte der Verwendungsgeschichte der "sichtbaren Einheit" müssen Thesen und Hypothesen für die zukünftige Forschung bleiben. Wir stellen nur fest, dass bestimmte ökumenische Zielvorstellungen mit bestimmten konfessionellen Prägungen theologisch und faktisch verwandt zu sein scheinen. Im Rahmen der so genannten schwachen Pluralität braucht dieses Ergebnis nicht besonders problematisch zu sein, da die gemeinsamen lehrhaften Inhalte viel stärker sind als die an sich vagen Zielvorstellungen. Für die konkrete ökumenische Arbeit bedeuten aber die Verbindung der "sichtbaren Einheit" mit dem Anglikanismus sowie die lutherische Herkunft der "Einheit in versöhnter Verschiedenheit" zusätzliche Herausforderungen. Es ist für die Ökumene enttäuschend, wenn wir fast notwendigerweise ein je eigenes konfessionelles Verständnis der Einheit mit uns tragen.

2. Die starke Pluralität: kein gemeinsames Verständnis

Die oben dargestellte Spannung zwischen sichtbarer Einheit einerseits und "Einheit in versöhnter Verschiedenheit" andererseits setzt voraus, dass das gemeinsame Verständnis des Evangeliums gemeinsam diskutiert und festgestellt werden kann. Im Rahmen der "schwachen Pluralität" ist es grundsätzlich möglich, zum Beispiel darüber zu diskutieren, a) ob und in welchem Sinne die Einheit der Kirche sichtbar zu sein braucht, b) ob das gemeinsame Verständnis im Glauben schon gegeben ist oder erst im Prozess der Lehrgespräche entsteht, und c) ob der so genannte differenzierte Konsens überhaupt ein gemeinsames Verständnis darstellt. Alle in a) bis c) vorgestellten Alternativen gehen nämlich davon aus, dass das Evangelium gemeinsam verstanden werden kann und in dem Sinne das Gemeinsame trotz der bestehenden Pluralität bewahrt.

Wenn wir aber sagen, dass schon der individuelle Charakter des Verstehens das "gemeinsame Verständnis" der theologischen Lehrinhalte grundsätzlich verhindert oder sogar unmöglich macht und im strengen Sinne nur individuelle Interpretationen zulässt, bejahen wir eine viel stärkere Variante von Pluralität. Auch wenn wir sagen, es gehe in der christlichen Religion nicht um die Lehren, sondern um die Lebenspraxis bzw. gar um den unaussprechlichen Lebens- oder Glaubensgrund, auf den die Lehren in ihrer ganzen Vielfalt hinweisen, ohne ihn jedoch sprachlich zu bestimmen, vertreten wir eine Auffassung von Glauben, die auf generelle Verstehbarkeit verzichtet. Wer die "Konsensökumene" grundsätzlich in Frage stellt, dem geht es oft um solche erheblich individuierende Variationen des Glaubens. Wenn sie im Folgenden als Instanzen der "starken Pluralität" bezeichnet werden, geschieht das im Bewusstsein dessen, dass insbesondere die letztgenannte Variante (Lebenspraxis bzw. Glaubensgrund) auf sehr unterschiedliche Weisen aufgefasst und qualifiziert werden kann. Ich werde die erste Variante (die Unmöglichkeit des gemeinsamen Verstehens) näher analysieren, weil sie meines Erachtens eine echte Alternative zur Konsensökumene darstellt. Neulich hat Ingolf Dalferth diese Variante sorgfältig formuliert; ich werde mich auf seine Interpretation konzentrieren.20

Dalferth formuliert allgemeine Regeln des menschlichen Verstehens und wendet sie auf die ökumenische Arbeit an. Im Anschluss an Nietzsche stellt Dalferth als Grundthese fest, "dass Verstehen immer eigenes Verstehen ist"21. Diese These qualifiziert das gemeinsame Verständnis auf grundlegende Weise: "Zwar gibt es durchaus so etwas wie ein gemeinsames Verständnis von etwas, aber nur, weil und insofern die Beteiligten es jeweils selbst verstehen, also ein je eigenes Verständnis dessen haben, was sie gemeinsam verstehen. ... Gemeinsamkeiten gibt es daher allenfalls im Verständnis, nicht im Verstehen von etwas. Verstehen individualisiert in fundamentalem Sinne, und weil jedes Verständnis Resultat individuellen Verstehens ist, gibt es kein vollständig gemeinsames und identisch verstehbares oder verstandenes Verständnis."22

Diese starke Individuation des Verstehens verdeutlicht Dalferth unter anderem mit den Begriffen "Perspektive" und "Horizont". Phänomene, die verstanden werden, haben Horizonte und können nur im Rahmen dieser Horizonte begriffen werden. Nach Dalferth können die Religionen am besten verstanden werden mittels der Metapher von Perspektiven und Horizonten.23 Wenn wir einen Gegenstand in einem Wahrnehmungshorizont erfahren, integrieren wir ihn nicht als Teil eines Ganzen, sondern wir setzen ihn in eine Perspektive, die uns eine partikulare Weise des Aufgreifens ermöglicht.24 Dieser phänomenologische Perspektivismus ist gegen ein vormodernes substantialistisches Denken25 sowie gegen eine "rationale Esperanto-Religion"26 gerichtet, die eine objektive Wahrheitsbe- stimmung zu erreichen meinen.

Dalferth will zeigen, dass das Gemeinsame im Rahmen dieser grundsätzlichen Pluralität des Verstehens nicht in der rationalen Bestimmung der Lehren, sondern in der gemeinsamen Lebenspraxis besteht. Verstehen gibt es nicht isoliert, sondern "nur im Horizont einer gemeinsamen Lebenspraxis mit anderen"27. Wegen der starken Pluralität des Perspektivismus kann der Konsens zwischen Individuen kein gemeinsames Verständnis auf der Basis identischen Verstehens sein, sondern "der Zusammenhang zweier je eigener Verständnisse im Blick auf etwas, von dem beide Seiten unterstellen, die jeweils andere würde es in hinreichender - nämlich für das gemeinsame Leben und Handeln hier und jetzt hinreichender - Weise ähnlich sehen."28 Nach diesen Formulierungen gehören die individuellen Perspektiven und Horizonte also zu einer gemeinsamen Lebenspraxis, innerhalb derer die Menschen Ähnlichkeiten begreifen können. Diese Ähnlichkeiten stellen aber nicht ein im strengen Sinne gemeinsames Verständnis von "etwas" dar, sondern der Zusammenklang ist durch die gegenwärtige Lebenspraxis bedingt, an der sich die Partner beteiligen.

Mit Hilfe dieser Theorie des menschlichen Verstehens übt Dalferth Kritik an den neueren ökumenischen Dokumenten. Sie seien naiv, weil sie die fundamentale Individuation des Verstehens nicht beachten. Wenn die ökumenischen Dokumente behaupten, sie haben ein gemeinsames Verständnis erreicht, oder wenn sie eine ökumenische Hermeneutik zu formulieren meinen, bemerken sie nicht, dass Verstehen kein Ziel ist, "das man direkt anvisieren oder mit Hilfe hermeneutischer Methoden direkt bewirken kann".29 Dalferth empfiehlt den Ökumenikern, "eine Hermeneutik pluralen Verstehens (von Dialogtexten)" zu entwickeln. Ein gemeinsamer Text ist notwen- digerweise "mehrfachkodiert" in dem Sinne, dass jeder den Text individuell versteht und verstehen muss.30

Dalferth will aber nicht in Relativismus abgleiten, sondern er meint, durch eine "Definition von Spielräumen"31 könne man gewissermaßen zu einem "gegenseitigen Verstehen" kommen. Mit diesem Ausdruck ist kein gemeinsames Verständnis gemeint, sondern die prinzipielle Anerkennung einer bestimmten Handlungsweise. Dalferth illustriert diese Einsicht mit dem Bild einer Koalition, in der man eine Handlung zulässt, obwohl man persönlich mit dem Koalitionspartner nicht einig ist. Weil innerhalb dieses Spielraums nicht nur das rationale Sagen beachtet wird, sondern das Handeln unter den Regeln der Lebenspraxis gilt, erweist sich "im Lebensvollzug", "ob eine hinreichende Gleichheit im Verstehen vorausgesetzt werden kann".32 Mit anderen Worten: Die hinreichende Gleichheit oder Gegenseitigkeit ist nicht durch das Verstehen allein, sondern erst im Rahmen des größeren Horizontes der Lebensvollzüge feststellbar.

Ich kann Dalferths Kritik in dem Sinne zustimmen, dass Ökumeniker oft die strenge philosophische Arbeit vernachlässigen. Die ökumenische Hermeneutik sollte über seine Kritik sorgfältig nachdenken. Im Folgenden werde ich allerdings nicht die konkrete Ökumene behandeln, sondern eine Grundsatzfrage in Dalferths Darlegung der starken Pluralität des Verstehens kommentieren. Es sieht so aus, als ob seine Theorie von dem Lebensvollzug als Kriterium des Gemeinsamen oder wenigstens des Gegenseitigen bestimmte Analogien benützt. Es geht um die Analogien zwischen drei Lebensvollzügen, in denen Konsens und Wahrheit gesucht werden: politischer Prozess, wissenschaftliche Arbeit und ökumenischer Dialog. Es lohnt sich, Analogien zwischen diesen Lebensvollzügen näher zu analysieren.

Die phänomenologische Philosophie allein kann die starke Individualität des Verstehens nicht begründen. Wenn man zum Beispiel Hans-Georg Gadamers oder Jean-Luc Marions Gebrauch der phänomenologischen Begriffe betrachtet, ergibt sich ein anderes Bild. Bei Gadamer repräsentiert der Horizont eines Individuums ein Vorverständnis des kollektiven Gedächtnisses der Kultur und Ausbildung. Gadamers "Horizontverschmelzung" resultiert eher in einem kollektiven Verständnis der Sprache und der Phänomene.33 Bei Marions Radikalisierung der Phänomenologie von Husserl wird die "Gegebenheit" der Phänomene ebenfalls als Argument für die Relativierung und sogar Beseitigung der subjektiven Perspektive benutzt.34 Dalferths Auffassung von Horizonten und Perspektiven folgt dagegen Josef Simon, der das "Andersverstehen" eines jeden Verstehensvorganges betont und die kulturelle Verstehenspraxis als ausschlaggebend in diesem Vorgang sieht.35 Weil Simon die Dimension der kulturellen Praxis betont, können seine Theorien im Kontext der Analogien zwischen den drei Lebensvollzügen der Politik, der Wissenschaft und der Ökumene angewandt werden.

Dalferth legt die Ähnlichkeiten zwischen politischem Konsens und religiöser Übereinstimmung ausführlich dar. Seines Erachtens hat die moderne politische Theorie - insbesondere die von Niklas Luhmann und der politische Liberalismus von John Rawls - gezeigt, dass die demokratische Gesellschaft keinen inhaltlichen Konsens bzw. gemeinsame Werte für ihre Stabilität braucht. Eine multikulturelle liberale Gesellschaft braucht zwar 1. die allgemeine Anerkennung der Regel des demokratischen Verfahrens bzw. eine verbindliche Rechtskultur, und 2. die Anerkennung der Möglichkeit, unvertretbare Differenzen (indefensible differences, z. B. Rassismus) auszuschließen. Über diese zwei Sachen hinaus soll die multikulturelle Demokratie aber die vertretbaren Unterschiede (defensible differences) fördern und nicht die Absicht haben, einen inhaltlichen Konsens über Werte und Ziele unter den Bürgern zu bilden.36

Dieses liberale Bild der Gesellschaft soll auch die Religionen und Kirchen in ihrer Suche nach gegenseitiger Verständigung leiten. Das liberale Bild passt zu der oben erläuterten Theorie der Perspektiven und Horizonte, weil es die Individualität jeden Verstehens ernst nimmt. Wenn man diese Individualität aufgreift, "dann wird sofort klar, warum Religionen niemals nur einen gemeinsamen Sinn des Ganzen zur Verfügung stellen können. Wer das von Religionen erwartete, würde etwas Unmögliches von ihnen erwarten. Aber genau dazu werden wir durch Konsens-Denker verleitet ..."37. Wegen der Perspektivität allen Verstehens müssen die Religionen und die Kirchen tolerant bleiben für Andersdenkende und nicht eine grundsätzliche Einheit suchen.

Dalferth gebraucht die Analogie zwischen politischem und religiösem Liberalismus rigoros in dem Sinne, dass er nicht einfach eine Trennung von Kirche und Staat empfiehlt. Vielmehr will er eine Gleichförmigkeit zwischen den beiden Lebensvollzügen darin sehen, dass Kirche und Gesellschaft die Unterschiede innerhalb ihrer Gemeinschaften fördern sollten. Der soziale Konsens zielt also nicht auf die Beseitigung der bestehenden Unterschiede, sondern auf deren Pflege. Dies ist möglich, weil der Konsens nicht die eigentlichen Inhalte betrifft, sondern nur die Rechtskultur und die Beseitigung der unvertretbaren Differenzen bzw. der Intoleranz. In religiöser Perspektive ist "der Sinn der Gegenwart Gottes zu fördern, der Verschiedenheit nicht aufhebt, sondern begründet und Menschen in die Lage setzt, Differenz als etwas zu sehen, was durch sozialen Konsens geschützt und nicht etwa beseitigt werden sollte"38. Auch wenn Dalferth keine politische Theologie entwirft, ist es interessant, dass die rigoros angewandte Analogie mit der Lebenspraxis der liberalen, multikulturellen Politik schließlich mit einem Gottesbild vereint wird, das die starke Pluralität begründet.

Auf diese Weise wird der Lebensvollzug der spätmodernen liberalen Gesellschaft zu einem analogischen Sinnbild des gegenseitigen Verstehens, wie die Theorie Simons und Dalferths auch voraussetzt. Als theologisches Modell ist das Sinnbild von Gott als Begründer der Differenzen faszinierend und erschreckend zugleich. Faszinierend, weil offenbar viele evangelische Christen und auch viele Ökumeniker tatsächlich an einen solchen toleranten und multikulturellen Gott glauben. Erschreckend, weil das so verstandene Gottesbild in Dalferths Argumentation als Analogie zum Lebensvollzug des politischen Liberalismus entsteht und somit einem soziologisch reduzierten Ideal nahe kommt. Ich werde allerdings das Problem der Reduktion beiseite lassen und mich stattdessen auf die Analogie an sich konzentrieren.

Wenn man die Analogie zwischen religiösem und politischem Konsens betrachtet, fällt erstens auf, dass es innerhalb der politischen Theorie umstritten bleibt, inwiefern die stabile und multikulturelle Demokratie auch durch einen inhaltlichen Konsens unterstützt werden muss. Sowohl empirische als auch theoretische Studien haben erstens darauf aufmerksam gemacht, dass im politischen Liberalismus die prozeduralen und die inhaltlichen Konsense nicht voneinander getrennt existieren. Gegenseitiger Respekt, die grundlegenden Menschenrechte und "fairness" sind teils prozedurale, teils inhaltliche Komponenten des liberalen Konsenses. Zweitens, im Rahmen dieser Diskussion stellt die Religionsfreiheit ein besonders komplexes Problem dar, weil die Förderung der religiösen Freiheit die Isolierung der religiösen Gruppen voneinander und von der gesamten Gesellschaft zur Folge haben kann. Multikulturelle Gesellschaft kann auf diese Weise auch den religiösen Extremismus fördern.39

Drittens, manche Ökumeniker und Kirchenleiter meinen, dass die Analogie schon deshalb unangemessen ist, weil der ökumenische Dialog sich nicht wie eine politische Verhandlung gestaltet. In Lehrgesprächen darf man Inhalte und Ziele nicht einfach deswegen annehmen, weil sie die Mehrheit, oder die Mehrheit meiner Koalition, annimmt. Es geht um die Suche nach der vereinenden Wahrheit, nicht um Mehrheitsentscheidungen oder Kompromisse. In dem Sinne wäre die Lebenspraxis der religiösen Gespräche von der Politik verschieden. Höchstens könnte man die administrativen Beschlüsse einer Synode mit den politischen Entscheidungen vergleichen, aber nicht Beschlüsse, die die Glaubensüberzeugung betreffen.

Viertens muss auf die grundlegenden Unterschiede zwischen den Horizonten der Zukunft und der Vergangenheit verwiesen werden. Politische Entscheidungen basieren auf unserem Wissen von der Vergangenheit und Gegenwart, aber zugleich und vor allem versuchen sie, die Zukunft zu gestalten. Gute politische Entscheidungen sollen so vorbereitet werden, dass sie möglichst zuverlässig zum Beispiel die künftigen Kosten und Wirkungen auf die Bürger voraussagen können. Die Unsicherheit der Zukunft ist ein elementarer Grund dafür, dass es so viele unterschiedliche politische Meinungen gibt. Auch wenn alle das Gute fördern möchten, sind die verschiedenen Ideologien und Wertvorstellungen der demokratischen Politik durch unterschiedliche Vorstellungen von der guten Zukunft bedingt. Die Perspektiven und Erwartungshorizonte spielen gerade deshalb in der Politik eine so entscheidende Rolle, weil der eigentliche Gegenstand der Entscheidung erst in der Zukunft liegt.

Ökumenische Lehrgespräche sind dagegen wesentlich auf die Vergangenheit orientiert. Normalerweise verstehen die Teilnehmer ihre Aufgabe als eine Art von Vergangenheitsbewältigung. Nichtsdestoweniger beeinflussen der Lebensvollzug der Gegenwart sowie die Absichten der Teilnehmer die Diskussionen. In dem Sinne sind die perspektivischen Probleme des Verstehens auch relevant. Aber der grundlegende temporale Unterschied macht es schwierig, den ökumenischen Prozess mit einem politischen Prozess zu vergleichen. Die künftige Rezeption der ökumenischen Entscheidung ist wichtig, aber sie unterscheidet sich deutlich vom politischen Plan. Während die Verbindlichkeit des politischen Handlungsergebnisses für die nahe Zukunft maßgebend sein soll, können ökumenische Verhandlungen die Zukunft kaum vorhersagen. Die ökumenische Rezeption der Lehrgespräche ist durch eine Freiheit charakterisiert, die für eine politische Entscheidung unverantwortlich wäre.

Weil die ökumenische Arbeit der Wahrheitsfindung dient und als Bewältigung der Vergangenheit mit der Geschichtswissenschaft Ähnlichkeiten hat, könnte man denken, dass die Diskussion um Konsens in der Wissenschaft eine fruchtbare Analogie zur Ökumene bilden würde. Interessanterweise stützt Dalferth seine Perspektivitätstheorie durch die Wissenschaftstheorie Nicholas Reschers.40 Rescher argumentiert gegen Jürgen Habermas, dass der rationale Fortgang der Wissenschaft nicht zum Konsens führt. Mit Hinweis auf Rescher konstatiert Dalferth, dass "es viele Formen der Rationalität gibt, da das menschliche Leben und Denken keine monolithische Aktivität ist".41 Deshalb sollte man auch die Religionen als "localized rationalities" verstehen. Dalferth übernimmt diesen Ausdruck von John Clayton und stellt fest, dass die Religionen nur in einem schwachen und kontextspezifischen Sinn rational sind.42 Sie können nie einen "gemeinsamen Sinn des Ganzen" zur Verfügung stellen. Wenn Konsens-Denker einen solchen Sinn herzustellen meinen, versuchen sie etwas zu therapieren, was keine Krankheit darstellt.43

Auch im Vergleich mit der Wissenschaftstheorie geht es Dalferth darum, die stark plurale Art der Lebenswelten44 und die damit verbundenen Horizonte bzw. individuellen Verstehensvorgänge zu betonen. Die gesamte Rationalität besteht aus vielen lokalen Formen, die die diversen Aktivitäten des menschlichen Lebens widerspiegeln. Es geht also wieder um den Lebensvollzug, der das Kriterium für gegenseitiges Verstehen liefert. Im Bereich der lokalen Rationalität ist gegenseitiges Verstehen möglich, aber dieses taugt nicht als Grund des breiteren Konsenses, da die Rationalität selbst durch die Lebenskontexte bedingt ist.

Der pragmatistische Pluralismus von Rescher bietet allerdings keine wirkliche Unterstützung für Dalferths pluralistische Auffassung von Rationalität. Rescher geht es letzten Endes darum, neben Habermas auch dem Postmodernismus zu widersprechen und der Wissenschaftstheorie einen mittleren Weg zu zeigen. Auch wenn die Wissenschaft viele verschiedene glaubwürdige (plausible) Antworten auf eine umstrittene Frage bietet, argumentiert Rescher, dass unter den plausiblen Antworten oft nur die die beste Antwort ist, die rational angenommen werden kann. Diese Position ist einerseits pluralistisch, weil sie, anders als Habermas, viele plausible Antworten zulässt und sich in Blick auf das Erreichen einer endgültigen Antwort skeptisch verhält. Andererseits ist diese Position zugleich "preferentialist" und rational, weil sie, anders als die Postmodernisten, trotz der Unerreichbarkeit der endgültigen Antwort an die rationale Fähigkeit der Wissenschaft glaubt, zwischen besseren und schlechteren Antwortmöglichkeiten zu unterscheiden.45

Deshalb ist Dalferths Theorie von "lokalen Rationalitäten" viel relativistischer als Reschers Pragmatismus. Überhaupt eignet sich aber die Analogie von Wissenschaft und Ökumene nicht besonders gut für eine Apologie des Pluralismus. Eher ist der Gebrauch dieser Analogie für das Postulat der "starken Pluralität" problematisch, da die Wissenschaft in der Regel auf gemeinsames Verständnis angelegt ist und die Anerkennung der allgemeinen oder wenigstens zwischenkulturellen und überlokalen Wahrheiten sucht. Wissenschaftstheoretisch neigt Dalferths Gebrauch von Josef Simons und John Claytons Überlegungen eher zum postmodernen Relativismus als zu Reschers Pragmatismus.

Es ist allerdings Dalferths großes Verdienst und seine bleibende Anfrage an die Ökumeniker, die genannten Analogien und deren Rolle im Verstehensprozess und in der Konsensbildung ernst zu nehmen und provokativ zur Diskussion zu stellen. Es ist in der Tat erstaunlich, wie wenig die Ökumeniker die Konsensdiskussionen der politischen Theorie und der Wissenschaftstheorie berücksichtigt haben. Dalferths Angriff auf die ökumenischen Konsenstheorien ist zwar übertrieben und setzt eine viel zu starke Pluralität des individuellen und gruppenmäßigen Verstehens voraus. Aber gleichzeitig unterstreicht er die Notwendigkeit, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Bereichen der menschlichen Konsensbildung sorgfältig zu bestimmen. Zu dieser Aufgabe sind die Ökumeniker mit Recht herausgefordert.

Ein erster Versuch in diese Richtung könnte die These sein, dass der ökumenische Konsens stärker inhaltsbezogen und stärker auf historische Wahrheit orientiert sein muss als der weitgehend prozedural bestimmbare und zukunftsorientierte politische Konsens. Auf der anderen Seite muss der ökumenische Konsens vager bleiben als der wissenschaftliche Konsens. Die wissenschaftlichen Kriterien der möglichst großen Präzision und der prinzipiellen Falsifizierbarkeit eignen sich nur bedingt für religiösen Konsens, der einen Spielraum für die berechtigten individuellen und gruppenmäßigen Auslegungen offen lassen muss.

Des Weiteren soll betont werden, dass ein Vergleich zwischen politischem, ökumenischem und wissenschaftlichem Konsens nicht im Rahmen einer eindimensionalen Analogie fruchtbar gemacht werden kann. Einerseits sind die Glaubensaussagen von anderen Konsens-Aussagen genuin verschieden. Trotz dieser prinzipiellen Eigenart der Glaubenslehre beinhaltet der ökumenische Konsens aber andererseits auch Elemente der politikähnlichen Verhandlungen. Und trotz der Überzeugung von der Wirksamkeit des Heiligen Geistes und des kirchlichen Charakters der ökumenischen Arbeit beinhaltet diese Arbeit Momente, die der wissenschaftlichen Wahrheitssuche ähnlich sind. Zum Beispiel braucht die Ökumene dringend theologiegeschichtliche und soziologische Grundlagenarbeit. Für alle hier diskutierten Lebensvollzüge gilt schließlich, dass ein genuin gemeinsames Verständnis gesucht wird bei gleichzeitiger Bewusstheit der Individualität des je eigenen Verstehens.

3. Totalperspektive?
Bemerkungen zum neuen VELKD-Text


Bevor wir zur näheren Analyse von ÖL fortschreiten können, muss eine andere Variante des Perspektivismus kurz erwähnt werden. Nach Eilert Herms geht "jede weltanschaulich-ethische Position ... in sich selbst aufs Ganze; die Perspektive ihrer Überzeugungen legt Wahrnehmung und Steuerung aller Lebensbereiche fest".46 Für Herms ist der gegenwärtige Pluralismus der Gesellschaft auch eine weltanschaulich-ethische Position, die aus ihrer Perspektive "das Ganze" interpretiert.47 Charakteristisch für eine ganzheitliche Position ist die Gewissheit, die der Perspektive eine besondere Stabilität verleiht. Im Rahmen einer solchen Situationsbeschreibung soll auch der christliche Glaube "aufgrund seiner spezifischen ethisch orientierenden Gewissheit" an der Gesellschaftsgestaltung als Position teilnehmen.48

Die von Herms dargelegte Perspektivität unterscheidet sich von Dalferths Ansatz erstens dadurch, dass jede Position in sich selbst "aufs Ganze" orientiert ist. Dalferth argumentiert gegen solche Ganzheiten und plädiert für den Pluralismus der vielen lokalen und an sich unvollständigen Perspektiven. Zweitens sind die Perspektiven bei Dalferth von den jeweiligen Lebensbezügen abhängig und schon deshalb keineswegs stabil, während das Verlangen nach der inneren Gewissheit die Positionen und Perspektiven von Herms stabil und sogar unveränderbar macht. Wegen dieser zwei Merkmale - Ganzheit und Gewissheit - wird die Hermssche Variante im Folgenden als "Totalperspektive" bezeichnet. Diese Bezeichnung hat natürlich nichts mit dem Totalitarismus zu tun; im Gegenteil bejaht sie die Stabilität der unterschiedlichen gleichzeitigen Positionen und Perspektiven, die gerade wegen ihrer Gewissheit und Ganzheit kaum miteinander versöhnt werden können.

Die folgenden fünf Bemerkungen zu ÖL ergeben sich größtenteils aus den oben dargelegten zwei Grundsatzfragen: nach der sichtbaren Einheit einerseits und nach dem perspektivischen Charakter allen Verstehens andererseits.

1. Nach der Präambel von ÖL kann das evangelisch-lutherische Verständnis der Ökumene "nicht aus einer Perspektive jenseits der Konfessionen oder über ihnen geschehen, sondern nur aus der lutherischen Perspektive heraus" zur Geltung gebracht werden. Wenn dieser Satz mehr als eine Tautologie ausdrücken will, scheint er zu sagen, dass es unmöglich ist, uns an die Stelle des Anderen als Anderer zu setzen. Der konfessionelle Zugang wird als erkenntnistheoretisches Prinzip eingeführt, das die Perspektive des Fremden auszuschließen scheint.

Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die häufige Verwendung des Wortes "Perspektive" am Anfang des Dokumentes. ÖL 1.d spricht von "unhintergehbarer Perspektivität" der Schriftauslegung. Wegen dieser Perspektivität sei es zu Differenzen und Gegensätzen in der Kirche gekommen. In ÖL 1.g wird die Perspektivität allerdings moderiert: Trotz "der Perspektivität jedes Auslegungsvorganges" besteht "die Möglichkeit textgemäßen Verstehens". Der eigene Sinn der Texte kann "durch sachgemäße Auslegungsmethoden erfasst werden". Wie kann er erfasst werden, wenn wir nur aus unserer lutherischen Perspektive überhaupt denken können?

Auf den ersten Blick wird der Begriff der Perspektive in diesen Abschnitten wie bei Dalferth benutzt: als grundlegende Bedingung jeden individuellen Verstehens. Näher betrachtet ergeben sich allerdings erhebliche Unterschiede. Es geht eigentlich nicht um die Perspektive des verstehenden Subjekts, sondern um die lutherische Perspektive, die nicht einen Ermöglichungsgrund, sondern ein an sich kollektives "Verständnis" darstellt. Dass dieses Verständnis ein konfessionelles, d. h. lutherisches, ist, wird mit dem Wort "Perspektive" sozusagen legitimiert. Es gibt viele Perspektiven, aber jeder bleibt innerhalb der Perspektive seiner Konfession. Es geht also an dieser Stelle um die Totalperspektive, die wir oben anhand von Eilert Herms Überlegungen skizzierten.

In ÖL will man die erkenntnistheoretische Partikularität betonen, die das Wort "Perspektive" mit sich bringt. Allerdings will man die individualistischen Folgen für das menschliche Verstehen vermeiden. ÖL denkt, dass trotz der Perspektivität das "lutherische Verständnis" und das "textgemäße Verständnis" als kollektive Größen im Rahmen der Totalperspektive aufrecht erhalten bleiben. Im Weiteren fehlt in ÖL der philosophisch normalerweise vorausgesetzte gegenwärtige Lebensvollzug der "Perspektive". Stattdessen wird in der Präambel vorausgesetzt, dass die Perspektivität "durch die Auslegung des lutherischen Bekenntnisses" gewahrt bleibt. Dann bleibt aber die Perspektive mit dem Verständnis gleichbedeutend und hat mit dem gegenwärtigen Lebensvollzug wenig zu tun.

2. Das Postulat der Perspektivität verschwindet in den späteren Abschnitten. In ÖL 3.2. und 3.3. wird sehr prägnant das gemeinsame Verständnis des Evangeliums als lutherische Lösung angeboten. "Wenn zwischen Kirchen dieses gemeinsame Verständnis des Evangeliums gegeben ist, ist die Einheit der Kirche als Faktum zu konstatieren" (3.2.b). Die ökumenischen Gespräche haben den Sinn, "zu klären, ob zwischen den beteiligten Kirchen das gemeinsame schriftgemäße Verständnis des Evangeliums gegeben ist" (3.3.a).

Dalferth betont, dass gerade die Perspektivität allen Verstehens das gemeinsame Verständnis im strengen Sinne unmöglich macht. Höchstens ist es im Rahmen des Lebensvollzuges als Zusammenklang von zwei Subjekten möglich. Das Dokument will aber sowohl starke Perspektivität als auch "gemeinsames", "schriftgemäßes" und "rechtes" (3.1.d) Verständnis der Lehre haben. Dadurch entsteht das Problem, dass das "gemeinsame Verständnis" mit dem Verlangen nach der "unhintergehbaren" Perspektivität grundsätzlich unvereinbar ist. Mit anderen Worten: Gerade die Gewissheit und die Ganzheit der Totalperspektive verhindern das gemeinsame Verständnis mit dem Anderen.

Wenn in den ökumenischen Gesprächen darüber diskutiert wird, ob ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums vorhanden ist, muss zwischen drei grundsätzlichen Möglichkeiten unterschieden werden. Die "Totalperspektive" erlaubt es a) nicht, die eigene Perspektive zu überschreiten, weil man in solcher Überschreitung die eigene Gewissheit und die Einstellung "aufs Ganze" preisgeben müsste, was jedoch unter dem Postulat der unhintergehbaren Totalperspektive nicht möglich ist. Die "starke Pluralität" der Perspektiventheorie von Dalferth (Abs. 2.) bejaht b) die bleibende Pluralität und verneint das gemeinsame Verständnis. Im Rahmen der "schwachen Pluralität" der Konsensökumene (Abs. 1.) hofft man c), durch den Dialog und gegebenenfalls auch durch die Bereitschaft zur Umkehr ein gemeinsames Verständnis zu erreichen. In diesem dritten Fall müssen wir in Wirklichkeit unsere Perspektive durch die Optik anderer Perspektiven ergänzen, um das Andere als das Andere zu verstehen. Die Feststellung der eigenen Perspektive ist nur der Anfang dieses Weges, bei dem man sich ständig in die Perspektive des Anderen als dem Anderen setzen muss.49

Wenn dieser dritte Weg theoretisch bzw. faktisch unmöglich ist, dann hat Dalferth Recht und das Verlangen nach einem "gemeinsamen Verständnis" muss einfach aufgegeben werden. Stattdessen könnten wir in der starken Pluralität - sowohl innerhalb als auch außerhalb unserer Konfession - weiterleben. Oder wir müssten vielleicht im Rahmen der Totalperspektive das eigene Verständnis als das einzig wahre Verständnis kultivieren. Wenn wir aber das Wagnis eingehen, ein gemeinsames Verständnis des Evangeliums mit einem anderen zu behaupten, dann haben die in a) und b) vorausgesetzten Perspektiven nur einen relativen Stellenwert, der die Möglichkeit des gemeinsamen Verständnisses prinzipiell nicht ausschließt.

3. Die ÖL will aber sowohl die starke Pluralität b) als auch die traditionelle Konsensökumene c) aufgeben und statt deren die Totalperspektive a) mit dem Verlangen nach einem gemeinsamen Verständnis vereinbaren. Da aber die Totalperspektive ein gemeinsames Verständnis der Lehrinhalte im Sinne eines Konsenses nicht erlaubt, muss ÖL eine merkwürdige Hermeneutik entwickeln, damit der Spagat zwischen Perspektivität und Gemeinsamkeit vollzogen werden kann. ÖL arbeitet nach der folgenden hermeneutischen Strategie. In ÖL 2.2. wird die "Konstitution des Glaubens" anhand von vier Punkten geschildert: In 3.2.b wird das "gemeinsame Verständnis" dann als gegeben definiert, "wenn die beteiligten Kirchen gemäß ihrem Bekenntnis und ihrer Ordnung so mit dem Evangelium und den Sakramenten umgehen", wie ÖL 2.2. beschreibt. Als Kontrapunkt dieser Definition wird in 3.2. f. gesagt, dass Kirchengemeinschaft dort ausgeschlossen ist, wo solcher "Umgang mit Evangelium und Sakrament nicht vorliegt". - Das gemeinsame Verständnis ist also in einem bestimmten "Umgang" zu finden. In den ökumenischen Gesprächen geht es nach ÖL 3.3.c nicht um "Verhandlungen über Lehrdifferenzen"- angeblich weil die Totalperspektive es nicht ermöglicht, "unter Hintanstellung der Wahrheitsfrage ... zur Formulierung von Konvergenzen zu kommen". Stattdessen geht es in der Ökumene um die "wechselseitige Bezeugung der erkannten Wahrheit", die die jeweilige Totalperspektive in ihrer Gewissheit schon liefern kann. So dienen die ökumenischen Gespräche "der Bezeugung des Glaubens, der einer Kirche gewiss geworden ist" (ÖL 3.3.e).

Wie kann diese "Bezeugung" aber ein gemeinsames Verständnis zum Ausdruck bringen? Nicht anhand von Konvergenzen und Konsensen, die den Lehrinhalt betreffen. Das Gemeinsame ist nur im "Umgang" mit Wort und Sakrament zu finden. Die in ÖL 2.2. beschriebenen konstitutiven Punkte dieses Umgangs sind letzten Endes nicht inhaltlicher Art, sondern sie sollen eine "Totalbestimmung menschlicher Existenz" (2.2.a) bilden, und zwar eine solche Bestimmung, bei der der Glaube als "unverfügbares Werk des Geistes Gottes" (2.2.d) verstanden wird. Darum ist das gemeinsame Verständnis zwischen unterschiedlichen Totalperspektiven nicht inhaltlicher Art, sondern kann vielmehr in der Einstellung oder "Totalbestimmung" des Christseins gefunden werden - mit anderen Worten darin, wie die Menschen ihren Glauben als unverfügbar bezeugen können.

Die Echtheit dieser Einstellungen sowie deren Einklang miteinander können nach der Kirchenleitung der VELKD gemeinsam verstanden werden, obwohl die inhaltlichen Überzeugungen der jeweiligen Totalperspektive zugleich "unhintergehbar" bleiben. Das gemeinsame Verständnis zwischen den Kirchen liegt nicht in inhaltlicher Lehre, sondern im alles bestimmenden Einstellungskriterium der Unverfügbarkeit, die als "Umgang" und als "Bezeugung" konkretisiert wird. So entsteht ein merkwürdiger Spagat, bei dem einerseits die Totalperspektive der eigenen Konfession unhintergehbar bleibt, andererseits aber ein gemeinsames Verständnis mit dem Anderen behauptet werden kann. Die so entstandene Hybride muss allerdings einen Preis bezahlen, der darin besteht, dass das gemeinsame Verständnis auf sehr eigenartige bzw. willkürliche Weise definiert wird.

4. Nach diesem langen Kommentar zu den Problemen des Verstehens und der Perspektivität komme ich auf das Problem der "sichtbaren Einheit" zurück. Das Verständnis von Kircheneinheit als "verborgene Gemeinschaft", die "nicht sichtbare, aber geglaubte Einheit" (ÖL 3.1.a) ist, möchte ich vorsichtig positiv bewerten. Wenn man sagt, dass "die sichtbaren, institutionell verfassten Kirchen ... nicht als Einheit" (ebd.) existieren, muss man sich allerdings bewusst sein, dass diese Bestimmung ausdrücklich gegen die Verfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen sowie der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung verstößt. Dass meine Bewertung positiv ist, hängt damit zusammen, dass die traditionelle Formel "sichtbare Einheit" aus lutherischer Sicht problematisch oder wenigstens unklar gewesen ist.

Für die lutherische Dialogarbeit ist diese neue Richtlinie der VELKD allerdings nicht einfach, vor allem deshalb, weil Anglikaner, Katholiken und Orthodoxe sich daran gewöhnt haben, die sichtbare Einheit als gemeinsames Modell zu betrachten. Ebenfalls hat die EKD nicht nur in Meissen, sondern vor allem im ÖRK die sichtbare Einheit seit langem bejaht. Für den Lutherischen Weltbund (LWB) wird diese deutsche Neubestimmung des ökumenischen Zieles einerseits eine Herausforderung sein. Andererseits ist auch klar, dass der LWB die "versöhnte Verschiedenheit" und die damit implizierte schwache Pluralität der Konsensökumene so lange praktiziert hat, dass er die neue Richtlinie wahrscheinlich in seine Dialogarbeit relativ leicht integrieren kann. Es bleibt aber abzuwarten, ob der ÖRK Abschied von der "sichtbaren Einheit" nehmen wird.

5. Wenn es eher schädlich als hilfreich ist, konfessionelle "Perspektiven" der ökumenischen Arbeit zu formulieren, kann als Kontrapunkt zu dieser Fragestellung diskutiert werden, ob denn die Zielvorstellungen der ökumenischen Arbeit überhaupt festgelegt werden sollen. Wenn die Situation entsteht, dass die versöhnte Verschiedenheit (und vielleicht auch die starke Pluralität) als das protestantische Ziel der Ökumene betrachtet wird, die sichtbare Einheit aber das katholische, anglikanische und orthodoxe Ziel bleibt, dann haben wir wahrscheinlich mit der Herausarbeitung dieser Zielvorstellungen die ökumenische Arbeit mehr behindert als gefördert.

Es wäre radikal vorzuschlagen, sowohl die ökumenischen Perspektiven als auch die ökumenischen Zielvorstellungen aufzugeben. Um dem Anderen als Anderen begegnen und mit ihm "etwas" zumindest annäherungsweise gemeinsam verstehen zu können, wäre aber immerhin vorstellbar, dass wir sowohl unsere Perspektiven als auch unsere Zielvorstellungen durch andere Perspektiven und Denkweisen ergänzen und sie schließlich vielleicht sogar überholen.

Ein solcher Begegnungsprozess kann utopisch bleiben, aber die in diesem Aufsatz kurz angedeutete Analyse des menschlichen Verstehensvorganges legt es nahe, eine derartige Renuntiation der eigenen Denkweisen zu praktizieren. Zu diesem Verzicht auf perspektivische Konfessionalität könnte auch der Horizont des gemeinsamen Lebens gehören.

Summary

This article reviews recent German Protestant ecumenical discussions, in particular a new study paper of the German Lutheran churches (VELKD) and several new writings by Ingolf U. Dalferth. The article discusses different variants of doctrinal plurality acceptable for Protestant theology: 1. a "weak" plurality is critical of visible unity but requires common understanding, 2. a "strong" plurality qualifies the very possibility of reaching a common understanding concerning religious doctrines, 3. a consistent "perspectivism" is also critical of the established ecumenical goals of unity. The author argues that a "perspectivist" theory of ecumenism, put forward in different ways by both VELKD and Dalferth, may lead in such a particularist understanding of theology which is hardly compatible with other churches and their understanding of ecumenism.

Fussnoten:

1) Dieses Phänomen ist schon bei P. Neuner, Ökumenische Theologie, Darmstadt 1997, 281-296, sowie bei H. Meyer, Ökumenische Zielvorstellungen, Göttingen 1996, sichtbar. Der neue VELKD-Text Ökumene nach evangelisch-lutherischem Verständnis (Texte aus der VELKD 123, 2004) radikalisiert dieses Problem auch innerhalb einer Kirche, indem es im Vorwort sagt, dass "in der lutherischen Theologie und Kirche unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Auffassungen von Ziel und Methode der ökumenischen Bemühungen bestehen."

2) C. Schwöbel, Ökumene, in: RGG4, Bd. 6, 509.

3) I. U. Dalferth, Auf dem Weg der Ökumene: Die Gemeinschaft evangelischer und anglikanischer Kirchen nach der Meissener Erklärung, Leipzig 2002, 257 (kursiv im Original). Vgl. die Rezension von U. H. J. Körtner in ThLZ 129 (2004), 109 f.

4) Insbesondere seit Nairobi 1975 (siehe z. B. Report of Section II, in: The Ecumenical Movement: An Anthology of Key Texts and Voices, Genf 1997, 110-113). Siehe genauer u. Abs. 1.

5) So der Titel von Meissener Gemeinsamer Feststellung 1988, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 3, hrsg. von H. Meyer u.a., Paderborn 2003, 734.

6) Zu diesem Begriff vgl. T. Brandner, Einheit gegeben - verloren - erstrebt, Göttingen 1996, 277-280.

7) Vgl. H.-P. Großhans, Perspektivität des Erkennens und Verstehens als Grundproblem theologischer Rationalität, ThLZ 128 (2003), 351- 368. Es geht also um "das Verhältnis der vielen verschiedenen Augen zueinander" (357).

8) So H. Meyer, a. a. O., 20-21.

9) In ÖL bleibt unklar, ob die sichtbare Einheit letzten Endes tatsächlich abgelehnt wird oder ob die oben zitierten Texte nur eine prinzipielle Kritik an dieser Einheitsvorstellung signalisieren. Es wäre wünschenwert, dass eine kirchliche Richtlinie die Position der VELKD klar und eindeutig und nicht auf verdeckte Weise ausdrücken könnte.

10) Porvoo 22-23, Meissen III, in: Dokumente, a. a. O., 735-736. 760-761.

11) Vertrag zwischen der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands und der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hannover, 20.10.2002), 1: Theologische Grundlage.

12) Die Texte in: A Documentary History of the Faith and Order Movement 1927-1963, ed. by L. Vischer, St. Louis 1963: Edinburgh 1937, 34 (visible body), 111 (visible unity), 158 (outward unity); Lund 1952, 3-4 (manifest the oneness), 63 (visible expression), 86 (visible fellowship); New Delhi 1961, 2 (unity ... is being made visible). Meine Bewertung der Begriffsgeschichte weicht ab von H. Meyer, a. a. O., 20- 22. Im deutschen Sprachraum hat darüber hinaus das Buch von M. Thurian, Sichtbare Einheit, Gütersloh 1963 (franz. 1961), eine Rolle gespielt.

13) Die Idee der "Manifestation" wird besonders in Lund 1952 (Documentary History, a. a. O., 52.62-63) als Überwindung der ekklesiologischen Differenz unsichtbar - sichtbar angeboten. Die ganze Geschichte ist noch viel komplizierter, vgl. R. Frieling, Die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung 1910-1937, Göttingen 1970, sowie G. Gassmann, Konzeptionen der Einheit in der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung 1910-1937, Göttingen 1979.

14) Vgl. z. B. Unsichtbare oder sichtbare Kirche? Hrsg. von M. Hauser, Freiburg 1992, sowie ÖL 2.1.a, 3.1.a.

15) Aus der Fülle von Literatur sei exemplarisch H. Meyer, Versöhnte Verschiedenheit, Aufsätze zur ökumenischen Theologie 1, Frankfurt 1998, erwähnt.

16) In R. Saarinen, Faith and Holiness: Lutheran - Orthodox Dialogue 1959-1994, Göttingen 1997, wird sowohl die faktische (179-209) als auch die grundsätzliche (210-231) Methodik eines Dialoges geschildert. Ein anderes Beispiel ist R. Saarinen, Adventisten und Lutheraner im Gespräch, ÖR 50, 2001, 475-489.

17) Dokumente, a. a. O., 317.

18) Unitatis redintegratio 1.

19) Das sonst wertvolle Buch von O. Tjorhom, Visible Church - Visible Unity, Collegeville 2004, könnte noch in diese Richtung ergänzt werden.

20) I. U. Dalferth, a. a. O. (= D1); ders. Die Wirklichkeit des Möglichen, Eine hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003 (= D2); ders., Paradigm Lost, From the Sense of the Whole to the Sense of the Presence of God, in: Religion in a Pluralistic Age, ed. D. A. Crosby & C. D. Hardwick, New York 2001, 21-48 (= D3). Vgl. die Rezension von E. Herrmann in ThLZ 129 (2004), 968 ff.

21) D1, 245.

22) D1, 246. Anders z. B. Großhans, a. a. O., 366, der im Anschluss an Ernst Fuchs denkt, alles Verstehen gründe im Einverständnis.

23) D2, 253; D3, 45.

24) D2, 251-252; D3, 45-46.

25) D1, 47.

26) D2, 256; D3, 48.

27) D1, 246.

28) D1, 248.

29) D1, 251.

30) D1, 249-250.255-256.

31) D1, 272.

32) D1, 274-275.

33) H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960; M. Kusch, Language as Calculus vs. Language as Universal Medium, Dordrecht 1989.

34) Z. B. J.-L. Marion, Etant donné, Paris 1997; God, the Gift and Postmodernism, ed. by J. Caputo & M. Scanlon, Indianapolis 1999.

35) D2, 30-31.

36) D2, 246-247.255-256; D3, 42-44.47-48.

37) D2, 255; D3, 46.

38) D2, 256. Die englische Formulierung (D3, 47) ist noch direkter: "We should ... foster a sense of the presence of God that grounds diversity and helps to see difference as something which social consensus must safeguard rather than overcome."

39) Im Anschluss an Rawls werden mein erster und zweiter Punkt empirisch und theoretisch ausführlich diskutiert von G. Klosko, Democratic Procedures and Liberal Consensus, Oxford 2000. Kloskos Ergebnisse weichen deutlich von Dalferth ab.

40) N. Rescher, Pluralism: Against the Demand of Consensus, Oxford 1993.

41) D2, 241.255-256.

42) D2, 241-242.

43) D2, 255.

44) D2, 255.

45) So z. B. Rescher, a. a. O., 99. R. Saarinen, After Rescher: Pluralism as Preferentialism, in: Theology and the Religions, ed. by V. Mortensen, Grand Rapids 2003, 409-413.

46) E. Herms, Gesellschaft gestalten, Tübingen 1991, 100.

47) Herms, a. a. O., 96.100.

48) Herms, a. a. O., 100-101.

49) An dieser Stelle ist es nicht möglich, die Bedingungen dieses Prozesses detailliert zu diskutieren. Vgl. exemplarisch Brandner, a. a. O., 277-291; A. Meyer, Sprache der Einheit im Epheserbrief und in der Ökumene, Tübingen 2002, 249-272.324-338 sowie Großhans, a. a. O., 366: "Insofern Theologie kritische kirchliche Reflexion ist, kann sie sich dann nicht mit konfessionellen Positionen als Ausdruck verschiedener Perspektiven abfinden, sondern wird von den einzelnen perspektivischen Glaubenserkenntnissen aus auf einen sachgemäßen, stimmigen Begriff hinarbeiten, mit dem Ziel, dass das, was bisher verschieden geglaubt und auch verschieden gedacht wird und deshalb auch als Verschiedenes betrachtet wird, als ein- und dasselbe geglaubt und gedacht wird."