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Ausgabe:

Februar/2005

Spalte:

127–142

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dierken, Jörg

Titel/Untertitel:

Ist die Säkularisierung am Ende? Religionskulturelle Entwicklungen in theologischer Perspektive

I.

Die Frage, ob die Säkularisierung am Ende ist, hat etwas Schillerndes. Zustandsbeschreibung und Sollerwartung, Abbruch und Vollendung klingen an. Auch wer meint, massives religiöses Gegensteuern gegen die verweltlichte Kultur sei angesagt, wird empirisch keinen Abbruch der Säkularisierung konstatieren können. Dazu sind zentrale Säkularisierungsmerkmale viel zu evidente Tatbestände: so die institutionelle Differenzierung von Politik und Religion, ferner der Pluralismus mit seiner Religions-, Konfessions- und Weltanschauungsvielfalt, schließlich die durch das Religionsrecht gewährleistete Freiheit, sich für oder gegen Religion und ihre Institutionen zu entscheiden. Umgekehrt wird derjenige, der mit der Säkularität der Gesellschaft die Religion zur Angelegenheit bedeutungsloser Gestriger erklärt, die so genannte "Rückkehr der Religionen" nicht ausblenden können.1 Diese ist keineswegs auf den Nahen Osten oder den islamischen Raum beschränkt, auch nicht auf die Vermessung der Erde mittels Achsen des Bösen und, komplementär, des Guten durch präsidiale Rhetorik aus der Neuen Welt.2 Religion spielt auch in aktuelle Großdebatten der Alten Welt hinein, in denen es um essentials der liberalen, westlichen Kultur geht. Die biopolitische Diskussion wurde mit einem Kulturkampf zwischen christlich inspiriertem und szientistischem Menschenbild verglichen.3 In der Debatte um die Grenzen Europas angesichts des EU-Mitgliedschaftsbegehrens der Türkei werden implizit Legitimität und Bestand der Säkularisierung als Evolutionsmerkmale des Christlichen Abendlandes mitdiskutiert.4 Präsent ist auch das Ringen um die Rolle der Religion in der europäischen Verfassung, und Konfliktpotential bergen auch die unterschiedlichen europäischen Religionsrechtstraditionen zwischen offensivem Laizismus und staatskirchlichen Restbeständen.5 Kopftücher und Kruzifixe in staatlichen Schulen, christliche Leitkultur oder gleichgültige Toleranz - die Liste der Stichworte, die eine Präsenz von Religion in der säkularisierten Gegenwart anzeigen, lässt sich leicht verlängern.

All dies scheint kaum zu den alltäglichen Lebensvollzügen des etablierten Christentums zu passen.6 Die Kirchen befinden sich in einem stetigen Schrumpfungsprozess. Traditionelle Selbstverständlichkeiten der religiösen Bildung wie Katechismus- und Gesangbuchvertrautheit gehen signifikant zurück. Kirchlichkeit wird mit abnehmendem Sozialzwang unselbstverständlich. Von den religiösen Neuaufbrüchen ist das Kirchenchristentum insbesondere dadurch berührt, dass Esoterik und Meditationscamps auch etliche seiner Aktiven abziehen. Es scheint, als käme mit der Säkularisierung das institutionelle Christentum ans Ende. Das die alten Religionskämpfe befriedende Modell der liberalen Ordnung von religiös neutralem, demokratischem Rechtsstaat und grundrechtlich gewährleisteter Freiheit zu religiösem Leben mit kulturstaatlich geförderter Institutionalisierung findet allenfalls laue Resonanz in den Herzen; heiße Begeisterung vermag es trotz einiger fetter Jahre für die Kirchen in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s kaum zu entfachen. Die Orte religiöser Erhitzung liegen offenbar näher am Umkreis politischer Konflikte. Religion scheint es eher mit ihrer Aufladung zu tun zu haben als mit ihrer Entspannung. Religion hat nicht nur freundliche und nette Seiten. Dies zeigt nicht nur die Religionsgeographie weiter Teile Asiens, sondern auch ein Blick auf Nordirland oder ein Besuch in Kreuzberg zur rechten Zeit. Im badischen Hockenheim erregten sich kirchenferne Alteingesessene über den Ruf des Muezzins von einer teuer ausgestalteten Moschee im Industriegebiet, obwohl man Formel-1-Lärm sonst gern erträgt, sofern Geld in den Ort kommt.

Wer als Säkularisierungsfolge die politische Abkühlung des Kirchenchristentums beklagt, muss vor Augen haben, dass religiöse Hitze proportional zur Schärfe von Gegensätzen steigt. Dies belegen die blutigen Religionskämpfe im frühneuzeitlichen Europa, aber auch die aggressiven politischen Religionsmilieus im heutigen Islamismus. Noch die zu Personenkulten mutierten völkischen und kommunistischen Anti-Religionen des 20. Jh.s lebten von der Beschwörung endgeschichtlicher Gegner. Säkularisierung steht demgegenüber für Entwirrung religiös-politischer Frontlinien, einhergehend mit Neutralisierung kritischer Massenballungen durch Abscheidung explosiver Elemente. Im Mittelpunkt solcher Säkularisierungsprozesse stehen Differenzierung von Religion und Politik, Akzeptanz religiöser Verschiedenheit und Entkoppelung von individuellem Bürgerrecht und Konfession. Freilich kann dabei die Säkularisierung selbst zum Gegenstand religiöser Erregungen werden. Auch darum stemmen sich Religionsmilieus gegen die westliche Moderne; ihre Säkularität wird von außen mit Werte- und Sittenverfall, frivoler Orientierungslosigkeit und Autoritätsunterhöhlung gleichgesetzt. Doch auch in Teilen der christlichen Welt findet Opposition gegen den indifferenten Zeitgeist bis hin zu Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung7 gegen irritierende Tendenzen der Moderne unterschwellige Resonanz. Der Papst erregt gerade als Gegenfigur zur libertären Moderne, freilich als medial höchst modern inszenierte wertkonservative Gegengestalt, Aufmerksamkeit - auch jenseits der von ihm verkörperten Kirche.8 Auseinandersetzungen um die Moderne prägten die bis in die Gegenwart hineinreichenden Gegensätze zwischen Kulturprotestanten und Wort-Gottes-Theologen. Die Säkularisierungsdebatte vollzog sich vielfach im Zeichen eines Streits um Legitimität oder Illegitimität der Neuzeit, wobei der latente Maßstab der Christlichkeit seinerseits umstritten war.9 Säkularisierung ist mit einer Formulierung Hermann Lübbes eben nicht nur ein historisch-deskriptiver, sondern auch ein ideenpolitischer Begriff.10 Deutet man ihn als normatives Plädoyer für religions-kulturelle Modernisierung, so sind aber - so meine These - innere Spannungen und Dialektiken mitzulesen. Dies sei in religionssoziologischer, -theologischer und -praktischer Hinsicht skizziert.

II.

Entgegen manchem Vorurteil ist keineswegs ausgemacht, dass die Säkularisierung für Religion und Christentum nur eine Verlustrechnung darstellt. Lübbe hat auf säkularisierungsbegünstigte Religionsentwicklungen hingewiesen.11 Überhaupt ist zu betonen, dass die Religion nicht, wie manch ein Religionskritiker prognostizierte, mit fortschreitender Aufklärung zum Ende gekommen ist. Schon vor gut 200 Jahren wurde auch unter moderateren Geistern, wie am Tisch des preußischen Kultusministers Altenstein, diskutiert, ob das Christentum noch 20 oder gar 30Jahre vor sich habe. Prozessen der Dechristianisierung in Europa, vor allem im nachrevolutionären Frankreich, stehen Vorgänge der Rechristianisierung in Amerika gegenüber.12 Große Erweckungsbewegungen hat es insbesondere in der Neuen Welt gegeben, wo Staat und Kirche strikt getrennt sind - nicht zuletzt zwecks staatsfreier Religionsentfaltung. Vor allem in den USA floriert eine christlich grundierte zivilreligiöse Rhetorik. Sie gilt, wie die im Fernsehen verbreiteten Gebetsrituale des Präsidenten zeigen, einem Frieden, der das gemeinsame Leben bei verschiedenem Glauben ermöglicht.13 Die liberale Unterscheidung von Politik und Religion besitzt, sosehr sie politisch zu gestalten ist, eine religiöse Hintergrundsdimension. Gottvertrauen wird bekanntlich auf dem handgreiflichsten Element der Diesseitseinrichtung, der Dollarnote, beschworen. Pragmatische Lebenserfolgsfrömmigkeit plus selektiver Biblizismus, so charakterisiert Peter Sloterdijk in schillernder Rhetorik die moderne amerikanische Religion.14

Auch hierzulande werden in Krisenzeiten zentrale Werte unter Rückgriff auf religiöse Formen vergewissert. In die ökumenischen Gottesdienste strömten nach dem 11. September 2001 religiös Unmusikalische aus den Führungseliten der Gesellschaft. Selbst kritische Intellektuelle, die für sich selbst keine religiöse Praxis anstreben, wollen wie Dirk Kurbjuweit oder Leon Wieseltier die Möglichkeit der Religion nicht missen.15 Daher rührt ein distanzierter Respekt für die, die erste und letzte Themen präsent halten. Auch mancher, der selbst nicht glaubt, will, dass Andere stellvertretend die Sprachformen des Glaubens pflegen. Jürgen Habermas sieht hierin gar Artikulationskräfte, die auch für die säkulare Seite Ressourcen zur Sinnstiftung und Orientierung bieten, sofern sie nur behutsam übersetzt werden.16 Prominent ist die Gottebenbildlichkeitsmetapher als Sinnbild für die Würde des Humanum. Damit ein Rekurs auf solche Artikulationskräfte stattfinden kann, müssen sie gepflegt werden. Dauerhaft ist dies ohne die Kirchen kaum denkbar. Ihre Leistungen werden paradoxerweise auch von solchen erhofft, die ihnen distanziert gegenüberstehen.

Selbst nach kirchlichem Maßstab ist die Erhebung der Religionslage mit den Mitteln der Kirchenstatistik unzureichend. Gerade der Protestantismus unterscheidet Glauben und Kirche: Für das protestantische Glaubensverständnis ist die Heilsdimension des Glaubens nicht schon mit der Kirchenzugehörigkeit gegeben. Die Differenz von Glauben und Kirche schattet sich empirisch darin ab, dass Gottesglauben bei etwa einem Viertel der Konfessionslosen vorkommt - freilich zumeist in recht dogmatikfernen bis diffusen Vorstellungen. Das Christentum hat sich in seinen liberalen Teilen selbst als Kirchengrenzen überschreitende Kulturgröße inszeniert. Säkularisierung wurde auch aus theologischer Perspektive als kulturelles Allgemeinwerden christlicher Gehalte jenseits der partikularen Konfessionsformen verstanden.17 Dem soziologisch beschreibbaren, allerdings schwer abgrenzbaren Phänomen von unsichtbarer privater Religion diesseits der Kirche18 entspricht ein zentrales Merkmal des christlichen Glaubensverständnisses: nämlich dass das Glauben sich in der Innerlichkeit vollzieht. Und Herz und Gewissen kennt letztlich nur Gott allein. Das unterscheidet ihn vom Kultbeamten wie Religionssoziologen.

Ähnlich vielschichtig und uneindeutig wie Religion und Christentum ist die Kultur der säkularisierten Moderne. Die Politik neigt zu Heilsversprechen - und zwar uneinlösbaren, wie in der gegenwärtigen Vertrauenskrise sichtbar. Sakralisierungen finden sich in der Werbung für ultimative Produkte. Popevents bekommen kultisches Gepräge. Dies erschwert klare, aber eben auch simple Bilanzen. Ebendies schlägt sich in verschiedenartigen religionstheoretischen Diagnosen von Säkularisierung und Moderne nieder.

Auf der einen Seite wird die Religion gleichsam auf der Hinterseite der Modernisierungsprozesse verortet. Für Religionswissenschaftler und -soziologen wie Hans Kippenberg und mehr noch Martin Riesebrodt bezieht sich die Religion gegenwärtig insbesondere auf das, was in den Nischen, der offiziell ignorierten Hälfte oder gar auf der Hinterseite der zunehmenden Rationalisierung des gesellschaftlichen Lebens liegt.19 Andere Religionsbestände verschwinden danach zunehmend oder gehen in säkulare Äquivalente ein. Religion überlebt sich als Religion; sie wird stattdessen in eine Pragmatik der Lebensführungsregeln säkularisiert.20 Das gesellschaftstheoretische Stichwort Rationalisierung kommuniziert natürlich mit Max Webers Deutung der Moderne. Danach ist Modernisierung ein Inbegriff für soziale Entwicklungen, die die Lebensführung der Einzelnen in einer rationalen, rechenhaften Logik ordnen, mit steigernder wirtschaftlicher Effizienz belohnen, aber eben auch mit zunehmendem Zwang bestimmen.21 Hierfür stehen Stichworte wie Bürokratisierung und Disziplinierung, Industrialisierung und Kapitalismus, Verwissenschaftlichung und Technisierung, Versachlichung und Entzauberung. Zwar mag die Rationalisierung der Lebensführung religiöse Wurzeln im Calvinismus haben und sich die Geschichte der die westliche Kultur prägenden Säkularisierung auch als Religionsgeschichte schreiben lassen. Aber sie verläuft keineswegs geradlinig und bleibt im Resultat ambivalent. Für Riesebrodt wird darum das, was sich nicht in diese Rationalisierungsprozesse fügt, zum neuen Bezugspunkt für Religion.22 Religion bearbeitet danach Krisenphänomene auf der Rückseite der Rationalisierung: das Irrationale als dumpfes Gegenprinzip überhaupt, aber auch Risiken der Modernisierung wie Umweltlasten, Technikfolgenprobleme und soziale Desintegration durch beschleunigte Veränderungen von Lebensweltmilieus.

Solche und ähnliche Krisen werden auf vielfältige Weise zum Anlass religiöser Symbolisierung und ritueller Praxis. Höchst unterschiedliche Religionsmilieus entstehen. Ihr Feld liegt jenseits religionsdogmatischer Eindeutigkeit. Vom Unbehagen an der Moderne über die Töne von Krisis, Kritik und Nein bis hin zur Inszenierung von Gegenwelten reicht das religionstypologische Spektrum. Säkularisierung und Rückkehr der Religionen gehören mithin spiegelverkehrt zusammen. Fundamentalistisch wird solche Religion, so Riesebrodt, wenn Gegenmilieus zu modernistischen Milieus durch reflexionsfeindliche Dramatisierung homogener, zeitlos-endzeitlicher Ideale aufgebaut wer- den.23 Ein zentrales Charakteristikum solchen Fundamentalismus ist, dass anderen Lebensweisen und Wertwelten keine religiöse Legitimität auf Anderssein zugestanden wird.

Auf der anderen Seite der religionstheoretischen Zeitdiagnosen versteht Hermann Lübbe die Religion nach der Aufklärung nicht im Zeichen von Stichworten wie Krise und Rückseite der Modernisierung.24 Im Gegenteil, Aufklärung, Moderne und Religion bilden einen insgesamt entspannten Zusammenhang produktiver Wechselwirkung. In ihm materialisieren sich Teile des geschichtsphilosophischen Fortschrittsgedankens.25 Mit der Säkularisierung ist die Funktionalisierung der Religion für politische Zwecke entfallen. Deshalb kann sich die Religion nach der Aufklärung auf das ihr Eigene kaprizieren. Das ist für Lübbe der sinnstiftende Umgang mit den lebensweltlichen Kontingenzen, deren Bewältigung jenseits innerweltlicher Organisierbarkeit liegt. Religion, als anthropologisches Universal verstan- den, bewältigt diejenigen Fährnisse des Lebens, die nicht durch Handeln verändert oder abgeschafft werden können, es aber doch elementar bestimmen. Hierzu gehören Ort und Zeit der Geburt, die Eltern mitsamt den eigenen Sozialisationsbedingungen - die man sich nicht ausgesucht hat -, der Ausschluss von alternativen Lebensmöglichkeiten durch die Wahl dieser bestimmten - etwa im Blick auf Lebenspartner, Kinder, Beruf -, unterschiedliche Begabungen und vieles mehr bis hin zu Krankheit, Not und Tod. Hinzu kommen noch die Kontingenzen, die durch die technisierte Lebenswelt verschärft hervortreten, etwa die Sorge um gesunden Nachwuchs bei ansteigenden pränatalmedizinischen Diagnosemöglichkeiten. Bewältigt werden solche Kontingenzen des Daseins dadurch, dass sie anerkannt und als Teile einer Ganzheit in ein lebensdienliches Sinngefüge integriert werden. Dieses Ganze verkörpert in religiöser Sprache natürlich Gott, und jene Integration besagt, dass solche Kontingenzen Gottes unerforschlichem Willen anheim gestellt werden. Ist die Religion im Blick auf die Kontingenzbewältigungsfunktion aufklärungsresistent, so haben sich durch die Säkularisierung allerdings Form und Rahmen der Religion verändert. Fortgefallen sind der soziale Zwang zur Religionsteilnahme, die Verquickung von staatlichen und religiösen Institutionen und die Bedeutung der Religion als Quelle von populär-kosmologischen Weltbildern. Differenzierungsvorgänge haben die Religion in die paradoxe Lage geführt, dass sie als Instanz für Letztsinn und Ganzheit keineswegs für alles zuständig ist. Aber dies ist der Religion nicht unangemessen. Ihre Aufgabe ist nicht, der Politik zur Macht, der Wissenschaft zur Wahrheit oder der Wirtschaft zum Gewinn zu verhelfen. Religion ist nach Schleiermachers genialer Formel "Sinn und Geschmack fürs Unendliche";26 für Endliches verzweckt zu werden, widerspricht ihr. Ebendiese Unterscheidung wird in der Dialektik der Säkularisierung verdeutlicht. Säkularisierende Modernisierungsprozesse begünstigen darum auch die Religion. Und sie begünstigen gleichermaßen die Evolution der nichtreligiösen, eben säkularen Lebensformen. Die Dynamik von Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft folgt eigenen Prinzipien und ist glücklicherweise auch nicht für Letztsinn oder Ganzheit zuständig. Anderenfalls drohen Totalisierungen. Das 20. Jh. hat dies an den zu Anti- oder Ersatzreligionen mutierten Nationalismen und Weltanschauungen mit totalitaristischen Politik- und Staatsdoktrinen leidvoll erfahren müssen.27 Die Moderne eröffnet Perspektiven für die Sphären des Säkularen und des Religiösen durch sachgemäße Unterscheidungen von Endlichem und Unendlichem, Handlungssinntranszendentem und -immanentem. Dies geschieht zu beiderseitigem Nutzen.

III.

Sosehr sich die beiden Zeitdiagnosen darin ähneln, dass sie Religion unter den Bedingungen der beschleunigten Moderne keineswegs verschwinden sehen, sosehr unterscheidet sich der Akzent bei der Verhältnisbestimmung von Religion und Moderne: Einerseits dominieren Gegenläufigkeit und Konflikt, andererseits entspannte Koordination. Die soziologisch explizierten Unterschiede im Verhältnis von Religion und Moderne setzten sich in der Fokussierung verschiedener religiöser Themen fort. Auf der einen Seite ist das Religionsverständnis vor allem durch die Topoi des Schöpfungs- und Erhaltungsglaubens geleitet, auf der anderen Seite wird einer von prophetischer Opposition gegen die sündhafte Welt geprägten Religiosität analytische Aufmerksamkeit zuteil.28 Einstimmung in die Tatbestände des Soseins steht rhetorischer Erzeugung von Gegenwelten gegenüber. Anerkennende Hinnahme änderungsfester Gegebenheiten hier, das Wesentliche anders sehen wollen dort. Religion in der Moderne beinhaltet offenbar ebenso Motive des Schöpfungsglaubens wie Erlösungsvisionen - und sei es durch Beschwörung archaisch- oder utopisch-heiler Verhältnisse. Natürlich werden beide Motivlagen nicht am selben Ort vom selben empirischen Trägerkreis betont. Die schöpfungstheologische Religiosität, deren Grundton auf Bitte um und Dank für gelingendes Leben in seinen Kontingenzen gestimmt ist, hat ihren Ort in eher bürgerlichen christlichen Kreisen, während die Religionsmilieus, die auf oppositionelle Gegenwelten und deren im Namen des Allerhöchsten dekretierte Grundlagen abzielen, sich in Kontexten ausbilden, die stärker von gesellschaftlichen Verschiebungen betroffen sind. Diese gibt es nicht nur in der islamischen Welt mit ihrem Zusammentreffen von semifeudalen Strukturen bei gleichzeitiger Nutzung modernster Technik und Dauerkonfrontation mit medial vermittelten Lifestylealternativen, sondern auch im bible-belt in God's own country und in neu entstehenden urbanen Subkulturen in den Zentren des Westens. Religion ist kein monolithischer Block, sondern existiert im Plural von Arten und Typen, und Frömmigkeitsprägungen sind immer auch auf die Herausforderungen ihrer sozialen Umwelt bezogen.

Der empirische Befund gegenläufiger religiöser Prägungen suggeriert die Ambivalenzen der Säkularisierung als normative Alternativen. Diese Alternativen finden auch in der christlichen Welt Resonanz, soweit sie nicht schon in ihr hervorgetreten sind. Auch im Christentum erzeugen die unterschiedlichen Religionstypen Widerhall - bis hin zum Fundamentalismus. Insofern werden sie auch zum Thema christlicher Theologie. Sie muss sich hierzu konstruktiv verhalten können, will sie sich auf die Bedingungen ihrer Zeit einlassen. Dazu muss sie die unterschiedlichen religiösen Prägungen in ihrer Dialektik deuten, aber auch die Problematik ihrer Alternativstellung klären. Aus christlicher Perspektive lässt sich der Schöpfungsglaube nicht abstrakt gegen eine prophetische Sünden- und Erlösungstheologie ausspielen, so sehr eine Spannung zwischen den Artikeln bleibt. Auch wer glaubt, dass das, was ist, vom Allerhöchsten geschaffen ist, kann sub specie Dei die Konstellationen des Lebens auch noch einmal anders sehen. Im Optimalfall entfaltet sich damit eine integrative religiöse Dynamik, die die im Bezugsfeld der Religion waltenden Spannungen aufnehmen kann, statt sie, schlechtestenfalls, ausblenden zu müssen.

Religion nach der Aufklärung wird dann zur religiösen Aufklärung von Religion. Freilich bezieht sich diese religiöse Aufklärung von Religion zunächst auf Bestände im Radius des Christentums. Hier ist ihre Aufgabe, zu einem reflektierten Blick der Religionskulturen auf ihre eigenen symbolischen Gehalte beizutragen. Diese Aufklärung von Religion kann nicht durch distanzierte Außenbeobachtung oder staatliche Religionspolitik ersetzt werden; Aufklärung von Religion geschieht durch Religion - und zwar eine solche Religion, die in ihren eigenen Beständen des Rechts von Andersseiendem inne geworden ist. Das geht nicht, wenn die normative Dimension von Religion ausgeblendet wird. Stattdessen ist ein solches religiöses Denken erforderlich, das den religionseigenen Geltungsanspruch mit religiös fundierten Einsichten in das Gefüge verschiedener Sichtweisen verbindet. Dies geht zugleich mit reflektierten normativen Positionierungen einher: etwa gegen Weltbildsimplifizierungen und für eine Kultur der institutionell garantierten Anerkennung von Subjektivität, Selbstbestimmung und Glaubensinnerlichkeit.

Als Ausgangspunkt zur Erkundung beider Dimensionen von Religion mag Lübbes Beschreibung der Funktion von Religion als Kontingenzbewältigung dienen.29 Kontingenz, landläufig Zufall, besagt, dass etwas ebenso auch anders sein kann. Der Schöpfungsglaube hat es mit der existentiell empfundenen Spannung zu tun, dass gerade das eigene, je selbst gelebte Leben von Umständen abhängig ist, die so, aber auch anders sein könnten. Natürlich hat dies zum Gegenpol, dass ich mir selbst nicht gleichgültig bin - also dass es für mich nicht gleich gültig ist, ob ich bin oder nicht, ob ich eine eigene Identität habe oder vielleicht alle Gewissheit zerrinnt. Jede biographische Reflexion zeigt, dass das, was aus mir geworden ist, von Lebens- und Bildungsmöglichkeiten abhängig ist, von der gemeinsamen Geschichte mit Partnern und Kindern und natürlich von den Bedingungen der Gesellschaft und Geschichte überhaupt. Und jede biographische Reflexion zeigt zugleich die nicht wahrgenommenen Chancen, die verpassten Gelegenheiten, das Fragmentarische und Fragile der eigenen Existenz. Kontingenz widerfährt nicht nur von außen, sondern steckt auch in den ureigensten Entscheidungen. Sie bergen immer das Risiko, andersherum besser auszugehen. Genau diese Spannungen bis hin zu dem Umstand, dass das eigene Leben ein Zufallsprodukt der Natur ist, in seiner Selbstwahrnehmung jedoch unhintergehbar und unbedingt, werden zu Themen des Schöpfungs-, Erhaltungs- oder Vorsehungsglaubens. Die Theodizeeproblematik ist natürlich die mitgesetzte Kehrseite. Wo auch immer man ansetzen mag: An irgendeiner Stelle drängt sich uns die Spannung auf, in der ureigenen Lebensführung zugleich in elementarem Sinne abhängig zu sein - und sei es vom Zwang, uns entscheiden zu müssen. Unser Selbstsein, unsere biographisch herausgeschälte Individualität ist nicht autark, sondern von Lebenskonstellationen abhängig, die wir nicht in der Hand haben und die auch anders sein könnten. Dies betrifft noch unser Dasein als solches. Das lässt sich als Endlichkeitserfahrung beschreiben, aber auch in Anlehnung an ältere Terminologien Schicksal nennen. Ohne Schicksal gibt es kein Sosein, ohne Endlichkeit keine Individualität. Zum Thema von Religion wird dies, wenn die vielfältige Verwobenheit dieser Größen im Horizont einer Ganzheit sinnvoll geordnet erscheint. Gott steht dann für eine Deutungsperspektive, in der die Fäden zusammenlaufen. Ihm kann man darum seine Wege anbefehlen.

Schon in diesem Verständnis des Schöpfungsglaubens steckt eine implizite Erlösungsdimension. Was sich zunächst als Zufall darstellt, wird sub specie Dei als geordnet gedeutet. Kontingenz wird in Gott begrenzt.30 Und was dem Selbst als bedrohlich erscheint, wird in das fragile Selbstverhältnis integriert. Schöpfungs- und Vorsehungsglauben stehen dafür, dass die Erfahrungen der Endlichkeit und des Schicksals eingehen in das Gepräge meiner Person als eines individuellen Charakters. Dieser repräsentiert dann eine Ganzheit, die im Unterschied zu Gott nicht alles umfasst, sondern lebensgeschichtlich einmalig ist. Natürlich meint solche Einmaligkeit keine einsame Autarkie. Zur individuellen Ganzheit gelangt nur, wer die Fülle lebensgeschichtlicher und sozialer Verhältnisse in die Eigenarten von Stil und Charakter verflechten kann. Und dazu braucht das Individuum, dessen Ganzheit der Ganzheit Gottes umgekehrt entspricht, den Austausch mit den Anderen in ihrer virtuellen Allheit. Allein für sich wird keiner etwas. Darum entspricht die Ganzheit des Einzelnen spiegelbildlich der Ganzheit Gottes. Die Erlösungsdimension des Schöpfungsglaubens liegt darin, dass er einen Weg zur versöhnenden Aneignung eigener Endlichkeit weist. Er deutet die Unbedingtheitsdimension des für sich individuellen Selbst, das in seiner Ganzheit vom eigenen Schicksal untrennbar ist. Erlösung ist dabei nicht ein Abheben ins Jenseits, sondern der Gewinn gelingenden Lebens im ambivalenten Hier und Jetzt.

Die Motive des Erlösungsgedankens verweisen auf eine bislang unerläutert in Anspruch genommene Unbedingtheitsdimension des Selbst. Sie ist in aller religiösen Lebensreflexion enthalten. Nicht nur die Erlösungsgehalte des Schöpfungsglaubens, sondern auch die Erlösungsmotive der prophetischen Oppositionsreligiosität mit ihren sündentheologischen Motiven kreisen um diese Unbedingtheitsdimension. In ihr geht es implizit um die Freiheit des Menschen. Wem sich Gegenwelten aufdrängen, urteilt, dass etwas nicht so sein soll, wie es ist. Damit begibt er sich zum Seienden in Distanz. Er lässt sich nicht festlegen durch das Gegebene. Nicht das Daseiende, sondern das Seinsollende rückt für ihn in den Vordergrund. Damit steht er auf sich selbst und seiner lebensgeschichtlich gebildeten Urteilskompetenz, nicht auf einem objektiv Gegebenen. Sein Standpunkt ist der ortlose Ort des Selbstverhältnisses. Es korrespondiert allenfalls mit dem empirisch ebenso ortlosen Absoluten - welches seinerseits wiederum nur durch das Selbstverhältnis repräsentiert wird. Von diesem her wird dem Gegenentwurf zu dem, was ist, größere Realität zugemessen. Freilich lässt sich das Selbstverhältnis nicht abstrakt von sozialen Zusammenhängen lösen. Ohne sie wird es leer - und die Gegenwelt reduziert sich zum hohlen Spiegel selbstischen Wollens. Im Selbstverhältnis schattet sich dieser Sozialbezug als innere Allgemeinheit des Sollens ab: Gesollt kann für mich nur sein, was für alle gleichermaßen gilt. In dieser mich ebenso verpflichtenden wie überschreitenden Ordnung bestimmt das Sollen das Sein - natürlich nicht abstrakt, sondern in der Form der urteilsstarken Alternative, dass etwas anders sein soll. Das Anders-sein-Sollen und die Unbedingtheit des Selbstverhältnisses verweisen aufeinander. Die Entdeckung der Freiheit ist darum das Thema des religiösen Erlösungsmotivs. Ihm korrespondiert das der Sünde. Dies erhellt sich schon aus der Selbstzuschreibung von negativ beurteilten Taten in den Formen von Schuld und Buße. Der große Gedanke der Sünde meint kein ontologisches Prädikat des Menschseins - auch wenn unsere Tradition geneigt ist, den Menschen als solchen erbsündentheologisch zu naturalisieren. Das Sündenbewusstsein steht vielmehr für eine Selbstbeurteilung in eigener Freiheit, die ihre Taten sich selbst in der Form der Verantwortlichkeit zurechnet: Ich hätte anders handeln sollen und mithin auch können, als es der Fall ist. Von hier aus lässt sich eine Linie zum Gedanken einer Ver-änderung im Selbst ziehen. Er beinhaltet das religiöse Thema der Umkehr. Solch mehrsinnige Freiheit des Kontrafaktischen fußt ganz auf ihr selbst. Darin spiegelt sie einen Charakter Gottes ab. Die Erlösungsdimension des Sündenbewusstseins liegt mithin darin, die Unbedingtheit geschöpflicher Freiheit zu entdecken und darin eine Teilhabe des Menschen am Absoluten.

Die skizzierte Integration des Schöpfungs-, Sünden- und Erlösungsmotivs stellt religiöse Urteilsmaßstäbe bereit. Einer Religiosität, deren Gegenentwurf einer anderen Welt freiheitsverneinende Totalhingabe verlangt, ist aus religiösen Gründen und mit religiösen Einsichten entgegenzutreten. Ihre Logik ist gegenzulesen. Unbedingtheit und Geltung liegen nicht in der Dramatisierung von Gegenmilieus zur bestehenden modernen Welt, sondern in der auch in einem solchen Gegenentwurf beanspruchten, aber unverstandenen Freiheit. Diese Freiheit ist durch religiöse Aufklärung der Gegenweltsreligion freizulegen. Zugleich ist diese Freiheit angesichts der schöpfungstheologisch gedeuteten Verschränktheit des Individuellen mit dem Ganzen so zu gestalten, dass sie als eigene, endliche Freiheit auch die der Anderen in den Blick nimmt. Als endliche ist die eigene Freiheit zugleich die Freiheit aller, die ihrerseits endlich sind. So verstanden, mahnt der Schöpfungsglaube ethisch die universale Realisierung der Freiheit an. Schöpfungsglaube und Erlösungsreligion verbinden sich über ein dynamisches Subjektivitätsverständnis in einem kontrafaktischen Ethos der Freiheit.

IV.

Mit dieser theologischen Deutung religiöser Dispositionen treten Schlüsselbegriffe der Moderne wie Autonomie und Individualität in den Mittelpunkt. Sie werden zu religiösen Themen, weil mit ihnen innere Transzendenzen verbunden sind.31 Zu einem gefüllten Selbst vermag das Individuum nur über den Umweg zu den Anderen zu gelangen, und es greift virtuell auf eine Ganzheit aus, deren Teil es zugleich ist. Und Autonomie impliziert eine innere Unbedingtheit von Freiheit, die immer mehr als ein empirischer Befund ist, da sie sich zwar in der Welt, aber hier als Kontrafaktisches manifestiert. Das dialektische Ineinander von Freiheit und Ganzheit, fraglos basale Charaktere der Gottesidee, lässt Autonomie und Individualität in den ambivalenten endlichen Lebensverhältnissen durchsichtig werden. Autonomie wird von bloßer Selbstbehauptung unterscheidbar und Individualität vom kultischen Tanz ums leere Selbst. Gleichwohl bleibt das Individuum fragil, und Freiheit hat die Möglichkeit des Absturzes in Unfreiheit im Rücken. Mit ihrer immanenten Transzendenz werden auch solche inneren Ambivalenzen von Individualität und Freiheit zu religiösen Themen. Auch hierin spiegelt sich die Gottesidee - freilich in Umkehrung. Insofern sie religiös auf tatsächliche Lebensverhältnisse im Diesseits bezogen wird, steigert sie Ambivalenzsensibilität. Der Gottesglaube hilft, im Komplizierten leben zu können, ohne es durch gewaltsame Vereinfachungen zur fahlen Räson bringen zu müssen.

Genau darum enthält das skizzierte Religionsverständnis ein aufklärendes Widerlager gegen Fundamentalismen. Es steht quer zu Bestrebungen, die Freiheit um größerer Ziele willen auszuhebeln oder das Individuum im Kollektiv einzuebnen - und sei es im Namen des Allerhöchsten. Gegen solche Religion steht religiöse Aufklärung. Gleiches gilt für simple Dualisierungen, etwa die allzu bekannte, tendenziell gnostische Einteilung der Welt in gut und böse. Sosehr die Unterscheidung von gut und böse gut ist, ist die dualistische Aufteilung der guten und bösen Weltachse selbst nicht gut, obwohl oder gerade weil sie sich immer schon auf der Seite des Guten wähnt. Dementsprechend ist es vom Teufel, wenn nur die Anderen vom Teufel sind, etwa als großer Satan in Verkörperung der westlichen Moderne. Religiöse Aufklärung muss sich freilich auch auf Traditionsbestände des Reformationschristentums richten. Von der Freiheit eines Christenmenschen in Autoritätssemantiken zu reden, untergräbt heute ihren Gehalt. Supranaturalistische Dualisierungen von Himmel und Erde, Gott und Mensch greifen an dem christlichen Zentralmotiv der Menschwerdung Gottes vorbei, da das remoto Christo in den Figuren der Freiheit und der Individualität präsent ist. Und ein Pathos der blanken Passivität in Heilsdingen, geleitet durch eine Ontologie des vor dem Allgewaltigen immer schon sündhaften Menschen, verliert die Dynamik des Selbstverhältnisses als Weg zu Gott. Auch das Christentum muss seine Bestände umformen, um in der Moderne ankommen zu können.

Ankommen in der Moderne meint aber keine Zeitgeisttaufe im Namen höherer Weisheit. Es bedeutet vielmehr, dass sich das Christentum selbst konstruktiv und kritisch auf die normativen Kräfte der Moderne bezieht. Hierzu gehört eben auch die Säkularisierung. Dass das politische System prozedural auf die Selbstbestimmung der Bürger abstellt, dass die Wissenschaft im tendenziell unendlichen Prozess von trial and error eine unbekannte Wahrheit sucht und dass das Recht sich an der Positivität seiner Satzungen ausrichtet: Ebendies ist auch für das Christentum ein Gewinn. Es kann sich auf das Eigene, also seine religiösen Gehalte, kaprizieren und davon entlastet sehen, stattdessen etwas anderes zu machen. Zugleich kann es untergründige Korrespondenzen seiner eigenen Gehalte mit denen anderer kultureller Formationen artikulieren. Mit der politisch umzusetzenden Autonomie des Menschen ist für das Gemeinwesen ein auch christlich zentrales Prinzip bestimmt. Die Unendlichkeit wissenschaftlichen Forschens impliziert in permanenter Kritik des erreichten Wissensstandes unterschwellig einen immanenten Ausgriff auf ein unerreichtes Ganzes der Wahrheit. Und hinter dem Gebrauch positiven Rechts steht eine regulative Idee von Gerechtigkeit, die das Individuum und die Gesellschaft im freien Ausgleich besonderer Interessen miteinander verbindet. Dennoch kann das Christentum nicht wollen, dass sich Politik, Wissenschaft oder Recht in Religion verwandeln.

Es kann aber wollen, dass zentrale Werte wie Freiheit, Wahrhaftigkeit und allgemeine Achtung von Individualität kulturelle Bedeutung haben. Klassisch steht dafür das Menschenwürdeprinzip als normativer Grundsatz der sozialen Ordnung. Es besagt, dass die Personalität der Einzelnen eine gerade allgemein gültige Letztgröße ist. Obwohl solche Personalität von hoher innerer Dynamik wie Fragilität geprägt ist, steht der Respekt hiervor nicht zur Disposition: Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist gewissermaßen ein säkularisiertes Tabu.32 Es zu brechen, bräche zugleich mit der zentralen normativen Grundlage der Moderne.

Geht das Christentum mit wesentlichen normativen Grundlagen der säkularisierten Moderne konform, so kann es aus den eigenen Gehalten heraus zu deren empirischer Stärkung beitragen. Dies bedeutet aber keine Heimholung entlaufener Abkömmlinge. Vielmehr kann es diese Grundlagen gerade in ihrer Säkularität anerkennen, ohne sie mit höheren Weihen ausstatten zu müssen. Die gesellschaftliche Anerkennung von Freiheit und der Respekt von individueller Personalität basieren nicht auf einer Begründung durch die empirisch existente Religion. Dann wären sie mit jeder religionskulturellen Verschiebung hochgradig gefährdet. Allerdings hat die christliche Religion ein deutliches Interesse daran, dass die ihr konformen Freiheits- und Personalitätskräfte Widerhall in den Überzeugungen finden - nicht nur diesseits, sondern auch jenseits der Kirchenmauern. Zu solch kultureller Resonanz trägt sie, hoffentlich, auch selbst durch ihr öffentliches Wirken bei,33 ohne deshalb Alleinvertretungsansprüche zu stellen. Man mag die kulturelle Resonanz mit entsprechender öffentlicher Kommunikation zivilreligiös nennen.34 Sosehr zivilreligiöse Gehalte etwa als Unbedingtheit des Humanum auf die Gestaltung der gleichsam harten gesellschaftlichen Objektivität bezogen sind und hier in politische Formen wie Biopolitik oder Sozialgesetzgebung übersetzt werden, so sehr stellt die zivilreligiöse Form auf die gleichsam weichen Hintergrundsüberzeugungen und deren kommunikative Inszenierungen ab. Das verbindet Zivilreligion und Christentum. Allerdings unterscheidet es sich von jener dadurch, dass es seine Gehalte nicht unmittelbar in gesellschaftliche Objektivität überführt. Das Christentum hält Distanz. Und Gott lässt sich niemals als empirische Größe ausmünzen.

Genau deshalb aber kann Gott als Inbegriff von Freiheit und Ganzheit, von Individualität und Singularität indirekt auf empirische Verhältnisse des sozialen und personalen Lebens bezogen werden: nämlich als deren innere Balancierung durch Kritik und Korrektur. Dieser indirekte Bezug korrespondiert mit der gesellschaftlichen Bedeutung der Vollzugsweise der christlichen Religion, dem innerlichen, in individuellem Herz und Gewissen verorteten Glauben. Es ist geradezu ein Kriterium für die Liberalität moderner Gesellschaften, diese Sphäre der subjektiven Innerlichkeit anzuerkennen, sie nicht von außen zu besetzen oder gar für endliche Zwecke zu instrumentalisieren. Stattdessen ist die gehaltvolle Pflege dieser Sphäre Sache der Religion und ihrer Lebensformen. Darum erfüllt die Religion in ihrem Eigensten zugleich eine zentrale politische Funktion für das liberale Gemeinwesen. Sie tut das, indem sie in ihren Institutionen, den Kirchen, die Innerlichkeit des Glaubens nach außen kommuniziert. Damit wird auch die Freiheit des Einzelnen, zu glauben oder nicht zu glauben, mitkommuniziert. Die kirchliche Kommunikation des Glaubens beinhaltet auch, dass über den Herzens- oder Fiduzialglauben der Einzelnen Gott im Geist befindet - und nicht die Kirche. Deshalb geht es in der kirchlichen Vergemeinschaftung zugleich um die Einzelnen als solche. Das ist die Chance, aber auch Gefährdung der religiösen Institutionen, die darum nicht das Ganze der Gesellschaft umfassen können.

Übersetzt man die Formel von den Einzelnen als solchen in soziologische Figuren, so heißt dies: im Unterschied zu ihren gesellschaftlichen Partikularrollen und -funktionen. Soziologisch meint Individualität das Schnittfeld der verschiedenen sozialen Einzelrollen. Deshalb ist sie mehr als deren Summe. Darum ist Individualität jeder einzelnen Rolle gegenüber immer auch transzendent. Individuen sind wir nicht schon als umworbene Käufer von Waren oder einmalige Nummern im Telefonbuch. Sondern wir sind Individuen, insofern wir uns in der je eigentümlichen Mischung von Kind und Familienvater, Staatsbürger und Kinogänger, unersetzlichem Liebespartner und austauschbarem Konsumenten erfassen. Als Ganzes dieser Rollen müssen wir uns von einer jeden von ihnen noch einmal unterscheiden können - und zwar kraft eigener Freiheit. Diese die Summe der Partikularrollen - oder gut protestantisch: der Ämter - übersteigende Freiheit der Person als solcher lässt sich im Gottesverhältnis vergewissern. Gesellschaftlich wird dieses Gottesverhältnis als Religion gottunmittelbaren Glaubens kommuniziert. Eben darum ist die Pflege dieser innerlichkeitsbestimmten Religion von äußerer Bedeutung für das Gemeinwesen. Angesichts dieser gesellschaftlichen Funktion der Religion ist die Säkularisierung nicht am Ende.

Sowenig Säkularisierung und Christentum einen simplen Gegensatz bilden, sosehr verschärfen sich in der säkularen Moderne indes die Konkurrenzbedingungen des Christentums. Nützlichkeitsdenken und Erwerbsstreben avancieren zu sprudelnden Sinnquellen. Ehemals religiös begründete Triebkräfte für die Kultur des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden anderweitig besetzt. Das Sozialstaatsprinzip hat im Wohlfahrtsversprechen der auf Wahlakzeptanz bedachten Politik ein stärkeres Bollwerk als im Nächstenliebegebot, und Wahrhaftigkeit wird wirksamer durch Enthüllungsjournalismus erzwungen als durch ein transzendenzsanktioniertes Ehrlichkeitsethos. Vor allem die mediale Kommunikationskultur mit ihrer schnellen Folge aufmerksamkeitsheischender events lässt die klassischen Lebensformen der Religion verblassen.35 Die Teilnahme am Gottesdienst erfordert nicht nur Sitzfleisch, sondern auch Bereitschaft, sich auf Riten ohne allzu heftige Reize einzustellen. Die auf die Form des Wortes abstellende geistliche Kommunikation geht mit höheren Verstehenszumutungen einher als das Zappen im bunten Bilderangebot des Fernsehens. Der Neuigkeitswert der Lektüre des altehrwürdigen Buchs der Bücher ist im Verhältnis zum hohen Neuigkeitstempo elektronischer Informationsmedien gering. Und Innerlichkeit, sowenig sie dumpfes Brüten ist, lässt sich gern von außen stören. Dies verdeutlichen die Schwierigkeiten, der - innerlichkeitsverwandten- Bildung tatsächliche politische Wertschätzung zu verleihen.

Angesichts der zunehmenden Tendenz der Massenkultur, Individualität durch möglichst schrilles Outfit darzustellen und Freiheit als permanente Wahl in der industriell erzeugten Angebotspalette zu verstehen, begleiten auch tragische Untertöne das Verhältnis von Christentum und säkularisierter Moderne. Es wird die verbreitete Kultur eines solch expressiven Individualismus36 nicht an empirischer Breitenwirkung übertrumpfen können. Es kann sich ihr auch nicht anverwandeln wollen. Es kann aber kulturhermeneutisch den religionsähnlichen Sinngehalten nachspüren, die in Moden und Medien, Lebensformen und Körperwelten enthalten sind.37 Und es kann die Personalitätsideale kultivieren, die im Untergrund jener Formen von Individualitäts- und Freiheitsinszenierungen liegen. Es kann dies auf Grund seiner religiösen Freiheits- und Individualitätsgehalte selbstbewusst tun. Dabei kann sein rechtfertigungstheologisches Wissen darum, dass es den Glauben nur in der Zweideutigkeit der Welt gibt, das Christentum vor kulturpessimistischem Ressentiment bewahren. Seine Größe zeigt sich im Umgang mit der Tragik, durch die Moderne mehr auf sein Ureigenstes, den Glauben, gewiesen zu sein - aber den darin enthaltenen Wert der Seele vor Gott als geistliche Kommunikation weniger öffentlichkeitswirksam explizieren zu können. Deshalb geht mit der religionshermeneutischen Erkundung der Gegenwartskultur einher, die Personalitätsideale des Glaubens in hintergründige Größen der säkularen Kultur zu übersetzen - obwohl diese Kultur nicht unmittelbar mit Religion zur Deckung kommen wird und soll. Diese Dialektik gehört untrennbar zur Säkularisierung hinzu.

Mit ihr ist darum auch ein Christentum, das diese Dialektik als eigenes Thema bearbeitet, nicht am Ende.

Summary

Cultural developments such as the disappearance of religion from the public sphere and its fundamentalist return are usually examined in terms of secularization. The term stands for the modernization of society and religion through processes of social differentiation between politics, economics, the sciences, law and religion, the rise of idea of religious freedom and the social acceptance of religious pluralism. But while religion is released from service to alien instrumentalization (i. e. serving the aims of the State), it seems to exhaust itself increasingly in the private sphere and traditional religious institutions. This in turn provokes reactions that seek to use religion as a social opposition force against these irritating tendencies of modernity.

Against this background, this article argues that secularization is characterised by an inner dialectic in the process of religious and cultural modernization. This is shown with respect to sociological, theological, and practical aspects of religion. Sociologically it involves not only individual religiosity that is open to modernity but also types of religion that form a critical counterpart to the spirit of the age. From a Christian and theological perspective, the task is to use the motives expressed in the traditional doctrines of creation, sin, and redemption in order to explain different forms of religiosity. And from a practical and social perspective, one has to accentuate the political function of explicit religious communication insofar as it recalls the importance of human personality in the intersubjective sphere.

Fussnoten:

1) Vgl. V. Krech, Götterdämmerung. Auf der Suche nach Religion, Bielefeld 2003, 19 ff.; M. Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der "Kampf der Kulturen", München 2000.

2) Vgl. die analytischen Teile des Porträts von W. Kinzig, Warum er an seine Berufung glaubt. Zur Anatomie einer Berufung: Der Methodist George W. Bush und der Krieg im Irak, in: FAZ, 14. Juli 2003, 38.

3) So W. Frühwald.

4) Vgl. die Problembeschreibung von E.-W. Böckenförde, Grundlagen europäischer Solidarität, in: FAZ, 20. Juni 2003, 8.

5) Vgl. dazu T. Rendtorff, Wie christlich wird Europa sein? Ein religionstheoretischer Seitenblick auf den europäischen Einigungsprozeß, in: Politik und Kultur nach der Aufklärung, hrsg. v. K. Röttgers (FS H. Lübbe), Basel 1992, 152-165.

6) Vgl. den Überblick von J. v. Soosten, Öffentlichkeit und Evidenz - Evangelische Kirchen im öffentlichen Wettbewerb. Ein Bericht zur Lage in Deutschland, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, Bd. 44 (2003), 37-51.

7) Vgl. M. Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990.

8) Vgl. die Analysen von J. Derrida, Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der "Religion" an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Ders. u. G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt a. M. 2001, 9-106; hier 69 ff.

9) Die Formulierung spielt natürlich an auf H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966. Die genannten theologischen, philosophischen und historischen Debatten können hier nicht referiert werden. Vgl. die Zusammenfassung von U. Barth, Säkularisierung und Moderne. Die soziokulturelle Transformation der Religion, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 127-165; bes. 127-145.

10) Vgl. H. Lübbe, Säkularisierung als geschichtsphilosophische Kategorie, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, hrsg. v. H. Kuhn u. F. Wiedmann, München 1964, 221-239; ders., Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg-München 1965. Vgl. zur Begriffsgeschichte W. Conze, H.-W. Strätz, H. Zabel, Säkularisation, Säkularisierung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, 789-829.

11) Vgl. H. Lübbe, Säkularisation. Modernisierung und Zukunft der Religion, Münster 2003 (Schriften des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe).

12) Vgl. H. Lehmann, Protestantisches Christentum im Prozeß der Säkularisierung, Göttingen 2001, 159 ff.; ders. (Hrsg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa, Göttingen 1997.

13) Vgl. H. Lübbe, Aufklärung anlaßhalber. Philosophische Essays zu Politik, Religion und Moral, Gräfelfing 2001, 94 ff.

14) Vgl. P. Sloterdijk, Chancen im Ungeheuren. Notizen zum Gestaltwandel des Religiösen in der modernen Welt im Anschluß an einige Motive bei William James, Vorwort von: W. James, Die Vielfalt der religiösen Erfahrung, dt. v. E. Herms u. Ch. Stahlhut, Neuausgabe Frankfurt a. M. 1997, 11-34.

15) Vgl. D. Kurbjuweit, Unser effizientes Leben, Reinbek 2003; L. Wieseltier, Kaddisch, München 2000.

16) Vgl. J. Habermas, Glauben und Wissen (Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels), Frankfurt a. M. 2001.

17) Vgl. U. Barth, Säkularisierung und Moderne, a. a. O., 142 ff.

18) Vgl. nur P. L. Berger, Sehnsucht nach Sinn. Glauben in einer Zeit der Leichtgläubigkeit, Gütersloh 1999; in stärker sozialtheoretischer Perspektive mit einem Gefälle zu intermediären Institutionen, die private und öffentliche Sinndimensionen vermitteln sollen, vgl. P. L. Berger u. Th. Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen, Gütersloh 1995.

19) Vgl. H. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997, bes. 259 ff.268; M. Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen, a. a. O., 35 ff.

20) Dies vor allem von Kippenberg akzentuierte Säkularisierungsverständnis evoziert die Frage nach einem Begriff von Religion, der Religion als Religion einigermaßen trennscharf zu identifizieren erlaubt und zugleich die Elastizität aufweist, um die Überführung religiöser Herkunftsbestände in säkulare Äquivalente zu beschreiben.

21) Vgl. M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus; Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, hier bes. die Einleitung und die "Zwischenbetrachtung", in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Nachdr. d. Ausg. von 1920, Tübingen 81986.

22) Stärker als Kippenbergs Religionspragmatik wenden sich Riesebrodts Fundamentalismusanalysen diesen Bereichen zu, um die mit der Rationalisierung aufkommenden, gleichsam neuen Religionsphänomene zu erkunden.

23) Vgl. Riesebrodt, a. a. O., 59 ff. Vgl. auch: "Fundamentalismus stellt somit keineswegs nur eine rein defensive oder gar passive Reaktion auf die Risiken der Moderne dar, sondern einen aktiven Versuch, den antinomischen Tendenzen der für die betroffenen Personenkreise real existierenden Moderne eine lebbare und angemessene kognitive und normative Ordnung entgegenzusetzen." (M. Riesebrodt, Fundamentalismus, Säkularisierung und die Risiken der Moderne, in: Politisierte Religion. Ursachen und Erscheinungsformen des modernen Fundamentalismus, hrsg. v. H. Bielefeldt u. W. Heitmeyer, Frankfurt a. M. 1998, 67-80; hier 87. - Ähnlich deuten W. Heitmeyer und H. Bielefeldt den Fundamentalismus als "moderne Reaktion auf die Risiken der Moderne" (Dies., Einleitung: Politisierte Religion in der Moderne, in: Politisierte Religion, a. a. O., 11-33; hier 20).

24) Vgl. zum Folgenden H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz-Wien-Köln 1986; ders., Religion nach der Aufklärung, in: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, hrsg. v. H.-J. Höhn, Stuttgart 1996, 93-111.

25) Vgl. etwa H. Lübbe, Aufklärung anlaßhalber, a. a. O., 213.

26) F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799, 52), hrsg. v. H.-J. Rothert, Nachdr. d. Ausg. von 1958, Hamburg 1970, 30.

27) Natürlich ist die Anwendung des Religionsbegriffs auf politische Totalitarismen mit weltanschaulichem Exklusivanspruch nur möglich, wenn Religion in einem weiten Sinne verstanden wird und insbesondere auf Merkmale wie verpflichtende Unbedingtheit, endgeschichtliche Alternativlosigkeit, kollektive Gesamtsinnstiftung und kultische Inszenierung politischer Allmacht abstellt. Dieser sozialtheoretisch-funktionale Religionsbegriff blendet aber zentrale Momente von Religion in christlichem Verständnis aus, so etwa den Endliches entabsolutierenden bzw. gerade in seiner relativen Ambivalenz anerkennenden Transzendenzbezug sowie die grundsätzliche Differenzierung von Religion und Politik. Überdies abstrahiert er von dem aggressiv-antireligiösen Selbstverständnis der politischen Totalitarismen des 20. Jh.s. Gleichwohl lassen sich in diesen die genannten religionsähnlichen Dimensionen nicht übersehen. Dem sucht die Formulierung Anti- oder Ersatzreligionen Rechnung zu tragen. Vgl. zu diesem Problem: Totalitarismus und Politische Religion. Konzepte des Diktaturenvergleichs, Bde. I u. II, hrsg. v. H. Maier, Paderborn 1996/97. Vgl. darin bes. die Beiträge von H. Mommsen, Nationalsozialismus als politische Religion, Bd. II, 173-181; H. Meier, Politische Religionen. Möglichkeiten und Grenzen eines Begriffs, Bd. II, 299-310; H. Lübbe, Aufklärung und Terror. Geschichtsmetaphysische Voraussetzungen totalitärer Demokratie, Bd. I, 401-411.

28) Und während Lübbe die Religion der Moderne mit klarer Sympathie beschreibt, herrscht bei Kippenberg und Riesebrodt die vornehme Distanz normativ neutraler Religionswissenschaft.

29) Vgl. H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, a. a. O., 127 ff.

30) Wie diese Kontingenzbegrenzung theo-logisch zu denken ist, wäre ein eigenes Thema. Es führte in eine spekulativ-theologische Konstruktion der Modalkategorien. Dabei wäre einerseits zu berücksichtigen, dass Gott, bei dem nichts unmöglich ist, der Inbegriff von Kontingenz als Anders-sein-Können ist. Andererseits ist Gott gerade darin als Notwendigkeit zu denken - eine Notwendigkeit freilich, die in keine Außenrelationen mehr eingestellt ist und damit Notwendigkeit als Erfordernis von Selbstbestimmung in der Fülle ihrer Möglichkeiten manifestiert. Dies geht mit Differenzierungen von Gott und dem, für das Gott Gott ist, einher.

31) Damit wird ein fruchtbares Motiv der Religionssoziologie von Th. Luckmann theologisch aufgenommen. Vgl. ders., Religion - Gesellschaft- Transzendenz, in: Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Moderne, hrsg. v. H.-J. Höhn, Stuttgart 1996, 112-128.

32) Vgl. U. Barth, Religion in der Moderne, a. a. O., 345 ff.; J. Dierken, Die Würde des Menschen in bioethischen Konflikten, in: Stammzellforschung. Debatte zwischen Ethik, Politik und Geschäft, hrsg. v. St. Albrecht, J. Dierken, H. Freese, C. Hößle, Hamburg 2003, 25-42. - In keinem Falle können die schwierigen Probleme des Umgangs mit menschlichem Leben an seinem frühesten Anfang und an seinem Ende dadurch gelöst werden, dass die Unbedingtheit der Würde relativiert oder die Würde graduiert wird. Daraus folgt aber kein Maximalismus vermeintlich naturgegebener Positionen in den strittigen biopolitischen Grenzfeldern.

33) Vgl. aus rechtstheoretischer Perspektive zu einem differenzierten Verhältnis von Religion und säkularem Staat: H. Bielefeldt, Zwischen laizistischem Kulturkampf und religiösem Integralismus: Der säkulare Rechtsstaat in der modernen Gesellschaft, in: Politisierte Religion, a. a. O., 474-492.

34) Vgl. H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, a. a. O., 257 ff.; ders., Zivilreligion. Definitionen und Interessen, in: Religionspolitik und Zivilreligion, hrsg. v. R. Schieder, Baden-Baden 2001, 23-35; R. Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland?, Frankfurt a. M. 2001.

35) Die Veränderungen der medialen Welt und ihrer Leitgrößen dürften von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Religion sein. Am ehesten dürfte hier die beschleunigte Entwicklung der Moderne Folgen für die Religion zeitigen.

36) Vgl. Ch. Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2002, 71 ff.

37) Vgl. hierzu W. Gräb, Kirche für die Religion der Menschen - Chancen der Kirchen im wiedervereinigten Deutschland, in: Aufschwung oder Niedergang? Religion und Glauben in Religion und Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Strausberg 2003, 113-138.