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Ausgabe:

September/2004

Spalte:

875–896

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Engemann, Wilfried

Titel/Untertitel:

Die Lebenskunst und das Evangelium Über eine zentrale Aufgabe kirchlichen Handelns und deren Herausforderung für die Praktische Theologie1

1. "Gesammeltes Nachdenken über das Ganze des Lebens" - Lebenskunst als theologisches und philosophisches Thema

Was muss man können, um sein Leben zu führen? Welcher Kunst bedarf es, um angesichts dessen, was ist, herauszufinden, was im Blick auf das eigene Leben möglich und schließlich zu tun ist? Über welches Können muss man verfügen, um Entscheidungen zu treffen, die einen inneren Zusammenhang ergeben, "Sinn machen" und dem entsprechen, was man als richtig erkannt hat? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, wenn solches Entscheiden und Handeln auch mit der Erfahrung von Freiheit und Glück verbunden sein soll?

Es gibt nur wenige Fragen, die eine so lange Bearbeitungsgeschichte erfahren haben wie die Frage nach der Kunst zu leben. Das mag u. a. damit zusammenhängen, dass diese Frage in irgendeiner Form - und sei diese noch so vage - in jeder Biographie bearbeitet wird, weshalb sie in recht unterschiedlichen Nuancen und auf unterschiedlichen Niveaus2 zur Sprache kommt. Ihr Ursprung liegt wohl in einer Grunderfahrung des Menschen: Es ist unausweichlich, mit dem eigenen Leben etwas zu "machen"3. Man kann sich der Herausforderung nicht entziehen, dem eigenen Leben Gestalt zu geben, indem man sich selbst Urteile bildet, Entscheidungen trifft und handelt. Dazu gehört die Erfahrung von Spielräumen des Wünschens, Wollens und Handelns, angesichts derer zu klären ist, was man eigentlich wünschen, wollen und tun sollte. Immerhin ist es so - und auch das ist Teil dieser Erfahrung -, dass man, indem man diese Spielräume nutzt, Entscheidungen trifft und seinem Leben Gestalt gibt, zugleich etwas mit sich macht.4 Man wird jemand Bestimmtes. Deshalb ist es einem im Allgemeinen nicht gleichgültig, wer man wird, indem man sein Leben lebt. Die Mythen und großen Erzählungen der Menschheit, biblische Geschichten und antike Dramen lassen ihre Leser, Hörer und Zuschauer immer wieder Zeugen von Szenen und Situationen werden, in denen Menschen ihren Spielraum wahrnehmen (müssen), etwas für ihr Leben Substantielles entscheiden und dadurch in gewissem Sinne andere werden - zu ihrem Vorteil oder Nachteil.

Eines der Grundprobleme, die in der biblischen Überlieferung der Geschichte Israels angesprochen werden, ist die unangemessene Haltung zur eigenen Wirklichkeit, die sich bei den politischen Führern oder beim ganzen Volk immer wieder abzeichnet. Sie hindert die Betreffenden daran, neue Erfahrungen zu machen und dabei andere zu werden. Vgl. Jes 30, 8-17: Die hier Angesprochenen wollen die prophetische Wahrheit über das eigene Leben nicht hören und lassen sich lieber von spontanen Eingebungen treiben. Dabei könnten sie "stark sein durch Innehalten und Sich-Besinnen". - Für das Neue Testament sei an Erzählungen wie die vom Reichen Jüngling erinnert, in denen sich Menschen sich selbst gegenübergestellt sehen und mit der "Möglichkeit des Andersseins" konfrontiert werden (vgl. Mk 10,17-27 par.). Im Übrigen können bereits die Schöpfungsgeschichten (Gen 1 und 2) in diesem Sinne gelesen werden: Im Akt der Schöpfung stellt Gott dem Menschen einen Raum zur Verfügung, der nicht nur Lebensraum, sondern zugleich ein Entscheidungs- und Handlungsraum ist, der ihn, den Menschen, selbständig agieren und sich auf eine bestimmte Art zu leben festlegen lässt.5

Dass Menschen die Erfahrung des Gewinnens und Verlierens machen und gewisse Vorstellungen davon entwickeln, was es heißt, sein "Leben in den Griff zu bekommen" oder den "Alltag zu meistern", ist für die Kunst zu leben offensichtlich nicht genug. Leben will gelehrt sein. Es wird nicht nur geschenkt; und soweit es Geschenk ist, versteht sich sein Gebrauch nicht von selbst. So gewiss der Bedarf und das Bewusstsein für die Kunst namens Leben älter sind als die Modelle, mit denen sie erörtert wird, ist es der Methodik philosophischen und theologischen Nachdenkens zu verdanken, dieses Thema auf den Punkt gebracht zu haben.

Es gibt noch immer keine (geschriebene) Geschichte der Lebenskunst, die in dem Sinne vollständig wäre, dass sie theologische und philosophische Ansätze gleichermaßen berücksichtigte. Sie würde zeigen, wie fragwürdig die immer wieder anzutreffende Einschätzung ist, dass die Entdeckung des Bedarfs an Lebenskunst - ebenso wie die Formulierung ihrer Voraussetzungen - eine Leistung der Philosophie der Antike sei. Für die Ausprägung des Begriffs der Lebenskunst trifft das zweifellos zu, nicht aber für ihre ungeschriebene Entwicklungsgeschichte. So findet sich schon in der Weisheitsliteratur des Alten Testaments oder in den Psalmen eine Fülle von Einsichten, Ratschlägen und Regeln, deren Beherzigung ein gelingendes Leben in Aussicht stellt. Auch inhaltlich nehmen diese Texte vieles von dem vorweg, was in der philosophischen Tradition - angefangen bei den Sprüchen der "Sieben Weisen"6 (um 550 v. Chr.) bis hin zu den ethischen Maximen der Spätantike, etwa bei Epiktet (50-138) - über die Kunst des Lebens vermittelt wird.

Die Parallelität theologischer und philosophischer Entwicklungslinien ist auch bei der Institutionalisierung der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst als Element von Lebenskunst anzutreffen. Dabei geht es um die Tugend der kritischen Distanz zur eigenen Person, die dem Menschen hilft, fatalen Irrtümern und destruktiven Neigungen nicht zu erliegen, seelische oder geistige Verwirrungen zu überwinden und umzudenken. "Selbsterkenntnis" ist nicht nur das Hauptmotiv sokratischen Philosophierens; sie gehört schon vorher zu den Elementaria der religiösen, insbesondere der prophetischen Praxis Israels und wird später zu einem festen Bestandteil christlicher Lebenskultur. Von daher bestehen gewisse Parallelen zwischen dem antiken Gnothi seauton7 und dem neutestamentlichen metanoeite (vgl. z. B. Mk 1,15 sowie unten 3.2.3). Natürlich haben die jüdisch-christlichen Vorstellungen von "Besinnung", "Umkehr" und gelingendem Leben den Gottesbezug des Menschen mit im Blick: Zu der Wirklichkeit, in der sich der Mensch erkennen und bewähren - der er sich stellen soll, gehört die Präsenz Gottes. Dies bedeutet aber nicht, dass die ethischen Leitlinien des Alten und Neuen Testaments uneigentliche Maximen der Lebenskunst wären; es bedeutet vielmehr darüber hinaus, dass die Bedingungen, unter denen ein Leben geführt wird, von der Wirklichkeit Gottes mitbestimmt sind. Das entbindet den Menschen keineswegs davon, in dem ihm eröffneten Spielraum seinen Part zu übernehmen. Weitere Analogien und Parallelen zwischen religiösen bzw. theologischen und philosophischen Vorstellungen und Praktiken zur Bewältigung des Lebens ließen sich nennen.

Eine bemerkenswerte, in gewisser Weise komplementäre Entwicklung ist z. B. der Rückgang der Philosophenschulen einerseits und die Etablierung klösterlichen Lebens mit z. T. ähnlichen (etwa asketischen) Grundsätzen und geistigen Übungen andererseits. In der Phase der überwiegenden Kommentierung philosophischer Texte und Lehren, in deren Verlauf der Philosophieunterricht quasi verbeamtet wird, geht die existentielle Komponente des Ringens um die Kunst, richtig zu leben, keineswegs verloren, sondern tritt in anderen Kontexten und unter anderen Vorzeichen wieder auf. Wie auch immer man die frühmittelalterliche Kultur klösterlichen Lebens beurteilen, wie hoch oder gering man ihren Beitrag zur Lebenskunst bewerten mag: Sie verstand sich als ein Modell durchaus gekonnten Lebens - dessen Ansprüchen sich nur Einzelne gewachsen fühlten. Einen weiteren Bereich, in dem sich philosophische und theologische Perspektiven der Lebensführung berühren, bildet eine größere Anzahl von Texten, in denen - ausgehend von bestimmen Beobachtungen, Vorgängen und Vorfällen im Alltag- Betrachtungen über das Ganze des Lebens angestellt werden. So sind z. B. die von Platon überlieferten sokratischen Dialoge, die Logienquelle Q8 und die Apophthegmata Patrum9 in bestimmter Hinsicht miteinander vergleichbar: Hier werden Lehrinhalte eingebettet in Szenen und Dialoge, markante Sätze werden zusammen mit der Situation tradiert, zu der sie (zunächst) gehören - alles dies immer auch in der Absicht, zu verstehen zu geben, wie man leben kann.

Lebenskunst ist also ein genuin theologisches Thema. Das gilt umso mehr, als sich christliche Theologie einem Evangelium verpflichtet weiß, das nicht nur zu glauben, sondern auch Gegenstand von Unterweisung in Sachen Lebens-Kunde ist.10 Soweit die theoretische Behandlung des Themas Lebenskunst Unterbrechungen ausgesetzt war, galt das für die philosophische wie für die theologische Reflexion gleichermaßen. Und es waren sowohl Philosophen als auch Theologen (soweit man diese Trennung angesichts der starken, bis ins Zeitalter der frühen Aufklärung reichenden Verschränkung von Theologie- und Philosophiegeschichte überhaupt vornehmen kann), die das Nachdenken über die Möglichkeiten des Menschen in Bezug auf die Gestaltung seines Lebens wieder in den Blick genommen haben: Der Mystiker Meister Eckart (um 1260-1328) entwirft auf dem Höhepunkt der Scholastik das ethische Modell des "Lebemeisters", im Zeitalter der Renaissance begründet Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494) die Notwendigkeit der Selbstbestimmung des Menschen, und Erasmus (1469- 1536) vertritt das Postulat vom freien Willen.11

Wir können in diesem Beitrag, der vor allem die Potentiale und Hypotheken der Praktischen Theologie bzw. der Pastoraltheologie in Bezug auf die Erfordernisse der Lebenskunst thematisieren soll, nicht en passant eine Geschichte des Begriffs oder des Themas Lebenskunst selbst bieten. In Anbetracht der ausgesprochenen Zurückhaltung, mit der dieses wichtige Thema in der Praktischen Theologie verhandelt wurde, soll aber zumindest festgehalten werden, dass es von der Sache her zu ihr gehört und in ihren Anfängen durchaus präsent war.

Schleiermacher resümiert in seinem großen Essay Über den Wert des Lebens: "Weil das Leben so ununterbrochen fortströmt, werd ich jeden Augenblick von Vernunft und Gefühl an Handlung und Genuß gemahnt: Die Vernunft verdammt mir, wie billig, jedes müßige Spiel der Phantasie mit Vergangenheit und Zukunft; die Empfindung reißt mich ungeduldig von jeder kalten Betrachtung darüber hinweg, welche ihr keinen unmittelbaren Genuß darbietet - und doch! Was ist gesammeltes Nachdenken über das Ganze des Lebens mir für ein großes Bedürfnis! Hier ist es endlich, wo sie beide [- Vernunft und Gefühl -] zu diesem Endzweck übereinstimmen, und wo ich nicht eine hinwegzustoßen brauche, um der anderen folgen zu können: [...] Die Gegenwart [...].12

Indem Schleiermacher die Fähigkeit sowohl vernünftigen Bilanzierens als auch spielerischen Antizipierens als Voraussetzung für ein stimmiges Verhältnis des Menschen zu sich selbst betrachtet, indem er die Gegenwart als den Raum versteht, in dem der Mensch ankommen muss, um sich überhaupt auf das Ganze seines Lebens beziehen zu können, bahnt er eine Fragestellung an, die in der Praktischen Philosophie heute eine besondere Rolle spielt: Welcher Kompetenz bedarf es, um wirklich "präsent" zu sein und in der eigenen Gegenwart zu leben?

Dass sich die Praktische Theologie bislang nicht stärker mit der Frage der Lebenskunst befasst hat, ist angesichts ihres humanwissenschaftlichen Reflexionshorizontes erstaunlich. Während vornehmlich in der Seelsorgetheorie und in der Predigtlehre fast alle halbwegs geläufigen Konzeptionen der Psychologie und Soziologie poimenisch bzw. homiletisch reformuliert und punktuell durchaus weitergeführt wurden, ist der Dialog mit der (Praktischen) Philosophie, die sich erklärtermaßen mit dem Führen und Gelingen menschlichen Lebens befasst und christlichen Lebensmaximen in vielen Punkten verwandt ist, weitgehend ignoriert worden. Dafür, dass ungeachtet dessen die Lebenskunst zu verschiedenen Zeiten aus vergleichbaren Gründen je neu in den Blick kommt, sind offenkundig bestimmte sozialgeschichtliche Höhe- und Tiefpunkte der gesellschaftlichen Entwicklung mitverantwortlich. Dementsprechend wird im Folgenden eine kleine Bedarfsanalyse für die Einübung in die Kunst zu leben vorgenommen.

2. Herausforderung Leben -
zur neuen Brisanz einer alten Frage


Die Kunst zu leben, stellt für jeden Menschen eine Herausforderung dar. Dies bedarf keiner groß angelegten Beweisführung. Wir geben unserem Leben tagtäglich Gestalt: indem wir uns über unsere Situation ein Urteil bilden und überlegen, ob und wie wir unsere Lebenszusammenhänge verändern möchten; indem wir uns angesichts von Alternativen für die eine Handlungsweise entscheiden und unseren Willen dabei freiwillig binden; indem wir einen bestimmten Wunsch favorisieren und uns von konkurrierenden Wünschen trennen.

Der Bedarf an Lebenskunst erwächst aus der uns zukommenden Aufgabe, unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen. Angesichts bestehender Spielräume unseres Handelns gilt es zu klären, was - unter Einsatz unseres Lebens - der Fall sein soll, was also zu tun und zu lassen ist. Objektiven Bedingungen und Systemen unterworfen, nehmen wir die Herausforderung an, Subjekt unseres Lebens zu sein. Und indem wir dies tun, üben wir uns in der Kunst zu leben. Das heißt, von Üben kann eigentlich keine Rede sein. Wir proben ja nicht für einen angenommenen Ernstfall; mit jedem Tag ist es ernst, sofern er wirklich und einmalig zu unserem Leben gehört. Wir können uns nicht darin vertreten lassen, uns einen Willen anzueignen, Entscheidungen zu treffen, sie durchzustehen oder zu revidieren und schließlich zu handeln.

Jener "Ernst" des Lebens drückt sich insbesondere darin aus, dass wir, indem wir unser Leben auf diese Weise gestalten, Einfluss nehmen auf unsere Person. Die Wünsche, deren Anwesenheit wir mögen oder doch tolerieren, die Entscheidungen, mit denen wir gestaltend in unser Leben eingreifen, der Willen, den wir uns "leisten", die Handlungen, die wir uns zutrauen, sind zusammengenommen wichtige Facetten unserer Identität. Sie lassen erkennen, wer wir sind. Von daher ergibt sich ein beachtliches Interesse an Fragen der Gestaltung des Lebens,13 und ein gewisses Maß an Selbstsorge ist jedermann geläufig. Doch wie kümmert man sich um sich? Was will gelernt sein im Blick auf das eigene Leben? Wie ich Regie führe? Wie ich mir im Bewusstsein meiner Grenzen Spielräume erschließe? Wie ich meinen schwankenden Willen durch Gründe binde und dabei zu einer freien Entscheidung gelange? Immerhin sind solche Fragen von jeher mit heiklen Erfahrungen belastet, allen voran die Erfahrung der Unfreiheit. Wer sich etwa dabei erlebt, wie er etwas tut, was dem eigenen Urteil entgegensteht, wer spürt, wie er sich einem fremden Willen anpasst und sich gar sagen hört, es sei der eigene, ist nicht frei: Er führt sein Leben nicht; es ist, als käme er mit seinen Vorstellungen in seinem Leben nicht vor. Vielleicht weiß er nicht einmal, was er wünschen könnte und hinter welchen seiner Wünsche er sich mit seinem Willen stellen sollte.

Verschiedene kultursoziologische Analysen zu spezifischen Verhaltensmustern von Menschen im heutigen Westeuropa lassen den Schluss zu, dass solche, allen Generationen geläufigen Schwierigkeiten mit dem Leben in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben. Dies hängt mit dem so noch nie da gewesenen Angebot an Möglichkeiten zusammen, das Leben in Form konsumierbarer Fertigprodukte "wählen" zu können, statt es - z. B. um des Überlebens willen - durch Handeln gestalten zu müssen.14 Dabei sind auch landläufige Vorstellungen von einem erfüllten Leben im Spiel, wonach derjenige es am besten getroffen hat, der möglichst viele Highlights mitbekommt und auf Grund eines langen Lebens viel Zeit zum Konsumieren hat. Hingegen wird das Leben als schlecht empfunden, wenn die Zeit des Genießens zu kurz ist oder wenn die Abstände zwischen den wirklich guten Events zu lang sind und wenn man infolge der Beanspruchung durch Dritte gehindert wird, zu tun, was man eigentlich tun will. Unfähig, eine innere Distanz zu den Inhalten ihres Verlangens aufzubauen, leben viele Menschen von einem Erfüllungs- bzw. Frustrationsmoment zum anderen. Dabei verlernen sie ihren Part an der Gestaltung ihres Lebens, verlieren den Kontakt zu ihrer Gegenwart, sind nicht mehr "ganz da" und wissen schließlich auch nicht mehr, was sie, über den Verbrauch von Welt hinaus, substantiell - also in Bezug auf sich selbst - wollen.

Was ist angesichts dessen von der Praktischen Theologie zu erwarten? Welche Untersuchungsfelder sind zu umreißen und abzuschreiten, welche interdisziplinären Dialoge und fachinternen Inventuren stehen an? Oder - pastoraltheologisch15 gefragt: In welche Richtung müssen Pfarrerinnen und Pfarrer ihr Seelsorge- und Predigtverständnis präzisieren bzw. erweitern, wenn ihr Dienst dazu beitragen soll, dass Menschen sich nicht nur als "erlöst" und "geheilt" erfahren, sondern auch ihr Leben besser meistern können?16

Was die Seelsorge angeht, wird es nicht um neue Therapien gehen, denn Ungeübtheit in der Selbstwahrnehmung, Ratlosigkeit angesichts widerstreitender Wünsche, unsinnige Vorstellungen von einem erfüllten Leben sind keine Krankheiten. Als Symptome ungekonnter Lebensführung bedürfen sie nicht der Heilung oder Linderung, auch nicht einfach der Vergebung, sondern einer von Nachdenken bestimmten Unterredung, die u. a. darauf zielt, die Selbsterkenntnis und damit die Urteils- und Entscheidungskompetenz eines Menschen zu stärken, ihm zu helfen, seine Wünsche zu bewerten und sich einen Willen anzueignen. Analog dazu geht es in homiletischer Sicht um eine Predigt, die den Einzelnen dazu anleitet, sich ein Urteil über sein Leben zu bilden, seine Beziehungen zu Menschen und Dingen zu klären, das eigene Handeln zu bilanzieren und von den eigenen Spielräumen Gebrauch zu machen.17

3. (Praktische) Theologie und (Praktische) Philosophie - Zur Wiederaufnahme eines vernachlässigten Dialogs

Die inhaltliche und methodische Integration des Themas Lebenskunst sowohl in die Praktische Theologie als auch in die Pastoraltheologie bringt es mit sich, den Dialog mit der Praktischen Philosophie aufzunehmen, in der die Frage nach einer durchdachten Lebensführung18 von alters her zu den Grundlagen gehört.19 Letzteres gilt, wie erläutert, nicht minder für die Theologie; beide Wissenschaften implizieren eine hohe Kultur der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst auf der Basis einer Umorientierung seines Denkens. Es ist bemerkenswert, dass sich z. B. die Seelsorge, in der jene Kultur theoretisch und praktisch verfeinert wird, zwar mit der Psychologie und den Sozialwissenschaften verschwistert, jedoch den viel nahe liegenderen Dialog mit der Philosophie versäumt bzw. gescheut hat. Ist die angestrebte Ganzheitlichkeit seelsorgerischen Agierens in der jahrzehntelang bipolar geführten Debatte um therapeutische und kerygmatische Maximen womöglich deshalb nicht erreicht worden, weil man neben dem "Heilen" und "Bezeugen" das Lehren vernachlässigt hat?



3.1 Problemanzeigen

3.1.1 Der "unmethodische Charakter der
lutherischen Lebensführung"



Die blinden Flecken der Pastoraltheologie und der Praktischen Theologie des 20. Jh.s resultieren z. T. aus den historischen Schwierigkeiten des Protestantismus, Ethik und Anthropologie in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen; dies hat wiederum mit der schwachen Kontur des protestantischen Persönlichkeitsbegriffs zu tun. In der Tradition des Protestantismus wird der Mensch vor allem in der Krise gesehen, wobei die Krise, in der er sich auf Grund seiner Sünde befindet, die einzig existentielle zu sein scheint. Am menschlichen Handeln interessiert besonders, ob es unter der Sünde steht oder aus ihrer Vergebung erfolgt. Die theologische Charakterisierung des Menschen als simul iustus et peccator, seine Verortung in den Koordinaten von Hamartiologie und Soteriologie, reicht aber nicht aus, um zu erörtern, wie dieser Mensch - von seiner Freiheit Gebrauch machend - sein nur von ihm zu verantwortendes Leben führen soll. Wo dieses Vermögen überhaupt in den Blick kommt, wird es häufig verdächtigt, dem Willen Gottes Konkurrenz zu machen. Oder es wird als Ausdruck der Heiligung des Menschen verstanden, wobei sogleich davor gewarnt wird, wieder unter das Gesetz zu kommen und sich die Zuwendung Gottes durch eine anständige Lebensführung verdienen zu wollen - oder gar der völligen Eigengesetzlichkeit zu verfallen, also weder aus der Gnade zu leben noch von der Erfüllung des Gesetzes etwas zu erwarten. In Summa gewinnt man den Eindruck, dass die Persönlichkeit des Menschen einfach nicht dazu taugt, eine ernst zu nehmende Rolle in einem "zusammenhängenden ethischen Lebensganzen"20 zu übernehmen.

In der Tradition Melanchthons hat man zwar versucht, dem Bußakt die Kraft zuzuschreiben, die Entschlüsse Gottes zu wandeln und auf diese Weise auch dem Willen des Menschen eine gewisse Freiheit zuzugestehen. Weil diese Freiheit jedoch nicht auf die Lebensführung insgesamt bezogen, sondern sogleich wieder mit der Möglichkeit verbunden wurde, "gute Werke" zu vollbringen und das "Gesetz" wenigstens ein bisschen zu erfüllen, erschien das Postulat der Freiheit seines Willens als eine permanente Bedrohung des sola fide. So blieb das christliche Leben eine "Summe bloßer, niemals ganz gelingender Anläufe". Der Versuch, das Leben auch als "sittliche Leistung" verstehen zu wollen, wurde unnötigerweise "zu einer tödlichen Konkurrenz für das Grunddogma von der Rechtfertigung."21 Max Weber war der Ansicht, dass man im Protestantismus "aus Scheu, die dogmatische Grundlage (sola fide) zu verlieren, nicht zur asketischen Rationalisierung des Gesamtlebens als sittlicher Aufgabe des einzelnen kommen" konnte. Statt christlicher Lebenskunst etablierte sich ein allgemeines "Sich-Schicken in die gegebene Lebenslage im Kleinen wie im Großen. [...] All das entschied den unmethodischen Charakter der lutherischen Lebensführung."22

Andererseits bietet die protestantische Religiosität dank ihrer Fähigkeit, sich in und durch Krisensituationen je neu zu profilieren und auf das Ganze und Alltägliche des Lebens zu beziehen,23 durchaus geeignete Basiskompetenzen in Sachen Lebenskunst.

3.1.2 Zur Hypothek der Lehre vom unfreien Willen



Die Zurückhaltung des lutherischen Protestantismus bezüglich einer positiven Beurteilung des menschlichen Wollens hängt mit Fernwirkungen der Debatte um den freien bzw. unfreien Willen zusammen: Weil der Mensch im Blick auf sein Heil von seinem Willen nichts zu erwarten habe - der sei natürlicherweise darauf aus, der Sünde zu frönen -, sei seelsorgerlich beim Willen gar nichts zu holen. Der Mensch solle sich daher im Leben und im Sterben ganz an die Gnade Gottes halten.

Wer sich an einer protestantischen Positionsbestimmung in der Frage der Willensfreiheit versucht, befasst sich mit einem Problem, das Martin Luther nach eigenen Worten "bis an den Abgrund und die Hölle der Verzweiflung" getrieben hat.24 Die facettenreiche Rezeption der Schrift De servo arbitrio spiegelt die Problematik der lutherischen Lehre vom unfreien Willen in ganzer Breite wider.25 Wie kann der gerechte Gott den
Sünder anklagen, obgleich dieser weder aus eigener Kraft die Sünde lassen noch das Gute wollen kann? Trotz der offenkundigen Versuche Erasmus', Luther dazu zu bewegen, in dieser Sache auch ethische Gesichtspunkte gelten zu lassen, hat dieser darauf bestanden, Freiheit und Unfreiheit des menschlichen Willens ausschließlich in soteriologischer Perspektive zu erörtern. Weil die Befreiung des Menschen aus Sünde und Verlorenheit ausschließlich vom barmherzigen Willen Gottes abhängt, muss der Mensch unfähig sein, sich selbst - unter Beteiligung seines Willens - zu befreien. Luther hat zweifellos mehr die Credenda als die Facienda der Seelsorge im Blick, wenn er die Flucht unters Kreuz als einzige Überlebenschance proklamiert, ohne die am freien Willen hängenden Lebenschancen zu würdigen.

Andererseits hat Luther das Feld von Seelsorge zur Lebenskunst recht genau beschrieben, indem er dem Menschen ein liberum arbitrium im Blick auf alles das zugesteht, "was niedriger ist als er [d. h. der Mensch]; ihm gegenüber hat er Recht und freien Willen, so dass jenes gehorcht und tut, was er selbst denkt."26 "Dagegen Gott gegenüber oder in Dingen, die Heil und Verdammnis betreffen, hat er keinen freien Willen, sondern ist Gefangener [...] entweder des Willens Gottes oder des Willens Satans."27 Diese Zuordnung hat jedoch mehrere Probleme.

Zum einen vertritt Luther offenbar einen theologischen Determinismus im Blick auf das menschliche Entscheiden überhaupt.28 Zum anderen sagt die konsequente Verknüpfung der Heils- mit der Willensfrage zwar viel über die Erlösung des Menschen, jedoch kaum etwas über die Möglichkeiten seines Willens in Bezug auf die Lebensführung. Vom Vermögen des menschlichen Willens kann aber sinnvoll nur in Bezug auf das gesprochen werden, was zu erreichen ein Mensch auch die Macht hat, wozu seine Erlösung natürlich nicht gehört. Die Lehre vom unfreien Willen ist also genau genommen (nur) eine Facette der Rechtfertigungslehre, die nicht dazu taugt, den Zusammenhang von Wollen, Tun und Lassen im Leben eines Menschen besser zu verstehen. - Zudem wird der Freiheit des menschlichen Willens immer wieder mit Hinweisen auf dessen Bedingtheit widersprochen. Dieser Widerspruch besteht jedoch nicht: Wenn es zur Freiheit des Willens gehört, sich ein eigenes Urteil zu bilden, um eine Entscheidung zu treffen, setzt das voraus, dass das Subjekt seinen Willen an eigene, begründete Urteile bindet - und gerade in der daran gebundenen Entscheidung frei ist. Ein unbedingter Wille wäre niemals frei zu nennen, sondern wäre ein getriebener, unberechenbarer Wille, der nicht dazu taugte, der Freiheit des Subjekts, das ihn hätte, Ausdruck zu geben.

Zu den mit dem Modell des unfreien Willens verknüpften Problemen gehört die Schwierigkeit, zwischen Belangen, die einerseits mein Heil und andererseits mein irdisches Leben betreffen, zwingend zu unterscheiden. Die Einführung der Kategorie der Ganzheitlichkeit in die Argumentation von Pastoral- und Praktischer Theologie der letzten 30 Jahre hat deutlich werden lassen, dass eine saubere Aufteilung in heilsrelevante Fragen und irdischen Kleinkram nicht möglich ist, wenn es um eine z. B. homiletische oder poimenische Auseinandersetzung mit dem Leben geht. So wichtig die Externität menschlichen Heils für eine plausible Rechtfertigungslehre ist - wovon weder ein freier noch ein unfreier Wille in irgend einer Weise tangiert wird -, so wichtig sind eine funktionierende, interne Autonomie und die Wahrnehmung bedingter Freiheit für das Führen des eigenen Lebens. Soweit es dabei um Entscheidungen geht, muss ich, als Subjekt dieser Entscheidung, immer "Macht" über mich haben. Von daher muss eine Theologie der Seelsorge schlüssig von der Autonomie des Menschen reden können, ohne sie als Affront gegen die Macht und das Gesetz Gottes zu werten.29

3.1.3 Ausblendung der Lehrdimension von
Predigt und Seelsorge



Auf dem Globus der Seelsorge des 20. Jh.s finden wir zwei dominante Pole - nennen wir sie etwas vereinfacht Therapie und Kerygma -, zwischen denen sich die Landschaft der poimenischen Ansätze weitgehend entfaltet hat. In den stark ausdifferenzierten Vorstellungen von Heil und Heilung, Therapie und Verkündigung ist das Interesse der Seelsorge gewissermaßen auf Leib und/oder Seele konzentriert worden. Der Bedarf an Seelsorge ergibt sich demnach angesichts psychischer Konflikte oder von Krankheit oder infolge persönlicher Schuld. Wo von "ganzheitlicher" Seelsorge die Rede ist, geht es zumeist um die Integration der Dimension des Körperlichen oder um die Berücksichtigung sozialer Kontexte, wodurch es dann möglich wird, die erwähnten Krisen noch besser zu verstehen.

In der Homiletik hat die Wiederentdeckung der Situation immerhin dazu geführt, den Einzelnen im Kontext seiner Lebenswirklichkeit anzusprechen. Die Aufmerksamkeit galt dabei aber mehr der Berücksichtigung der Lebensverhältnisse selbst als der Erörterung der Möglichkeiten des Menschen, unter diesen Bedingungen sein Leben zu gestalten. Dazu haben auch die ständigen Warnungen vor dem Missbrauch des Evangeliums als Gesetz beigetragen. Diese Warnungen waren insofern berechtigt, als sie jegliche Appelle, mit etwas gutem Willen, Nächstenliebe und echtem Glauben die Güte Gottes erfahren zu können, als gesetzlich entlarvten. Sie waren jedoch insofern kontraproduktiv, als sie jedem Versuch, der Lebensdienlichkeit des Evangeliums auf die Spur zu kommen, pauschal den Missbrauch des Evangeliums als Norm für den tertius usus legis vorwarfen.

Sofern Predigt und Seelsorge den ganzen Menschen in den Blick nehmen wollen, müssten sie jedoch - über die Bearbeitung psychischer Konflikte und Erkrankungen, über die Bewältigung temporärer Krisen und die Vergewisserung des Heils hinaus - der Einübung in das Führen des eigenen Lebens dienen, was das methodische Nachdenken über sich selbst, den eigenen Willen, über substantielle und instrumentelle Entscheidungen usw. voraussetzt. Dies bedeutet pastoraltheologisch, nicht nur heilend und tröstend angesichts von Krankheit oder vergebend angesichts von Schuld, sondern auch lehrend angesichts von Unklarheiten und Irrtümern aktiv zu werden. Predigt und Seelsorge werden gebraucht auch angesichts der grundsätzlichen Herausforderung, sein Leben zu gestalten, auch wenn diese Herausforderung häufig erst in Krisen zum Vorschein kommt. Krisen wollen aber nicht zuerst bewältigt sein. Sie sind vorher Verstehensbeschleuniger; sie geben z. B. zu verstehen, dass der eigene Wille nicht mehr trägt, und bieten Anlass, zu klären, was man sich langfristig wünscht.

Die ob ihrer Amtsverliebtheit viel gescholtene Pastoraltheologie des 19. und des beginnenden 20. Jh.s kannte neben Heilung und Trost im Fall von Krankheit, neben Beichte und Vergebung/Ermahnung angesichts von Sünde eine dritte Dimension seelsorgerlichen Agierens, die sich auch und besonders auf das Predigen erstreckte: das Lehren angesichts von Irrtümern.30 Man muss allerdings sogleich hinzufügen, dass dieses Lehren einen stark belehrenden Zug hatte und dass der Zweifel als gefährlichste Form des Irrtums galt, dem man mit Lehrpredigten unter vier Augen beizukommen gedachte. Hierin ist einer der Gründe dafür zu sehen, dass die in den 60er Jahren aufbrechende Seelsorgebewegung mit der Lehrdimension pastoralen Handelns nichts mehr anfangen konnte und wollte. Sofern wir jedoch gelten lassen, dass Seelsorge und Predigt geeignete Kommunikationsformen zur Aneignung von Lebenskunst sind und in dieser Hinsicht auch eine "Lehrfunktion" erfüllen, ergeben sich nicht nur lohnende Anknüpfungspunkte an die jahrtausendealte Praxis philosophischer Beratung, sondern es kommen auch gemeinsame Traditionen und (christliche) Ressourcen in den Blick, aus denen die Kunst zu leben schöpfen kann.

3.2 Ressourcen

Im Folgenden werden unter den vielen hier zu nennenden Aspekten nur jene angesprochen, zu denen es gewisse Parallelen in der praktisch-philosophischen Tradition gibt.

3.2.1 Bildung fürs Leben - zur Lehrtradition Jesu



Gewiss muss man bei einem Thema wie diesem nicht bei den spätantiken Anfängen christlicher Lebenskunst beginnen. Die Konvergenz zwischen Praktischer Philosophie und Pastoraltheologie ist jedoch in einem auch historisch bestimmbaren Punkt so markant, dass er der Erwähnung verdient. Es geht um die Analogie zwischen dem lebensbezogenen Bildungsanspruch philosophischer Gespräche einerseits und der Lehrtradition Jesu andererseits. Wenn Jesus lehrte - und dies tat er vor allem -, hantierte er nicht einfach mit Heilssprüchen. Er gab den Menschen seiner Zeit etwas zu verstehen, was sie dazu befähigte, umzudenken. Er gab sie sich neu zu verstehen, was regelmäßig Erstaunen, Entsetzen und Freude ausgelöst hat.

Der häufigste Ausdruck für die Verbreitung des Evangeliums durch die Person Jesu ist das Verb didaskein. Es zieht sich wie ein cantus firmus durch die Evangelien: Menschen sammeln sich um Jesus und verfolgen ihn bisweilen, um seine Lehre zu hören - "und Jesus, wie es seine Gewohnheit war, lehrte sie abermals"31. Das Lehren Jesu ist ein Bekanntmachen mit Vorstellungen, Bildern und Vergleichen, die es weder nur zu glauben, schon gar nicht blind zu befolgen gilt, sondern die zunächst etwas zu verstehen geben, die etwas verdeutlichen, eben: etwas lehren, was die jeweiligen Adressaten in der Regel so noch nicht "gesehen" oder gedacht, geschweige denn verstanden haben. Der jeweilige Inhalt der Lehre betrifft die Adressaten immer existentiell - bzw. ihr Wirklichkeitsverständnis substantiell. Dabei werden Regeln aufgezeigt und Zusammenhänge aufgedeckt, wie sie etwa in den Seligpreisungen, im Vaterunser oder in dem Hinweis zum Ausdruck kommen, dass, wer "zuerst nach dem Reich Gottes trachtet", wer also weiß, woraufhin er leben will, mit dem Übrigen schon klarkommen wird. Dies sind zusammengenommen Aussagen, die nicht auf eine befreiende Botschaft reduziert werden können oder als Gesetz befolgt werden wollen, sondern die den Adressaten als für ihr Leben relevant und ihr Leben verändernd vor Augen gehalten werden.

3.2.2 Gespräche unter Gleichen und Freunden -
Zur Bedeutung der Gemeinde



In der christlichen Gemeinde wird nicht nur über das Leben geredet; sie ist ein höchst privilegierter Lernort für die Kunst zu leben. Mit ihrer Reflexions- und Gesprächskultur, mit ihrer Kultur gemeinsamen Lebens und ihren spezifischen Vorstellungen von einer ars vivendi et moriendi hat die Gemeinde keine schlechteren Voraussetzungen als die antiken Philosophenschulen, Ort der Einübung in die Lebenskunst zu sein. Man wird sogar sagen können, dass die Gemeinde einer der Orte ist, an denen selbst die höheren Ideale Praktischer Philosophie erfüllt zu sein scheinen: Das "Wissen", die "Lehre" zur Lebenskunst, wird nicht als Dogma weitergegeben oder bibelversweise auswendig gelernt, sondern ist Gegenstand gemeinsamer Dialoge und wird in immer neuen Befragungen, Problematisierungen und Aktualisierungen mit den Erfahrungen der Gemeindeglieder verbunden.

Das geschieht nicht nur durch eine aus dem Dialog erwachsene und in den Dialog führende Predigt, sondern auch durch eine Art und Weise von Seelsorge, bei der die Begegnung selbst kein zeitraubendes, lästiges Mittel zum Zweck ist, sondern zur "Methode" gehört: Das gemeinsame, von Offenheit und Wertschätzung bestimmte Gespräch ist Ausdruck einer grundsätzlich solidarischen, partnerschaftlichen Haltung, die selbst schon ein "Können" freisetzt, von dem der jeweilige Gesprächspartner unter Umständen gar nicht wusste, dass er über es verfügt. Hier geht es um Kommunikationsprozesse, in denen letztlich nicht Informationen weitergegeben werden oder Meinungen auf dem Spiel stehen, sondern es geht um die Existenz, das Leben des Einzelnen in seinen vielfältigen Beziehungen.32

Dass Menschen an den Übergängen ihres Lebens Beratung und Begleitung durch eigens dafür eingerichtete Gemeindegruppen in Anspruch nehmen können, ist zweifellos eine der besonderen Möglichkeiten zur Einübung in Lebenskunst. Angefangen bei einem die Auseinandersetzung mit Lebensvorstellungen einschließenden Taufunterricht bis hin zu Seniorengruppen, in denen die Chancen und Grenzen des Altwerdens in den Blick kommen, bieten sich zahlreiche Chancen, sich mit den Herausforderungen des Lebens nicht nur unter der Frage auseinander zu setzen, wie man mit ihnen fertig wird, sondern wie man unter ihren Bedingungen seinem Leben Gestalt geben kann.

Angesichts der in vielen Gemeinden überdurchschnittlich hohen Zahl älterer Gemeindeglieder (diese Zahl wird angesichts der Entwicklung der Alterspyramide in Deutschland noch steigen) gewinnen Fragen, die mit abschiedlichem Leben, mit dem Anerkennen von Grenzen,33 aber auch mit dem Erkunden von Facetten der Lebenskunst, die zu den besonderen Gelegenheiten des Älterwerdens gehören (z. B. Weisheit, Gelassenheit) besondere Bedeutung. "Seniorenarbeit" wird in der Praxis noch zu oft als primär diakonischer Auftrag der Gemeinde verstanden bzw. unterhaltungsorientiert betrieben.

3.2.3 Buße und Besinnung - Zur Kultur
der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst



Die kritische Prüfung des Selbstbildes hat in der Praktischen Philosophie wie im Christentum einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Die Verbindungslinien zwischen der in der Philosophie der Antike geläufigen Aufforderung zur Selbsterkenntnis und dem christlichen Ruf zur Umkehr sind kaum zu übersehen. Buße ist u. a. Ausdruck und Aneignung eines radikalen Umdenkens, eines Meta-Nous (vgl. metanoia), eines Meta-Verstandes, der einem hilft, eine Innenperspektive einzunehmen, in kritischer Distanz dem eigenen Tun und Lassen gegenüberzutreten,34 die eigene Freiheit des Entscheidens und Handelns wahrzunehmen sowie Reue empfinden35 und den eigenen Lebenswandel neu orientieren zu können. Bekenntnisse, zu denen sich ein Mensch aus Gehorsam, Gewohnheit oder Angst (vielleicht gar mit Hilfe eines Beichtspiegels) bereit erklärt, ohne gleichzeitig zu einem geänderten Urteil über sich, seine Wünsche, seine Entscheidungskriterien gekommen zu sein, verfehlen einen wichtigen Teilaspekt von Buße: dass Menschen mit falschem Selbstbild zur Selbsterkenntnis gelangen und in die Lage versetzt werden, fortan in christlichem Sinne klug zu leben. Von hier aus wäre eine pastoraltheologische Erweiterung bzw. Reformulierung des Verständnisses von Buße im Kontext von Seelsorge und Predigt zu erwägen.

Dass Buße immer eingebettet ist in einen Erschließungs- und Erkenntnisprozess, ohne den der Mensch gewissermaßen an seinem eigenen "Mythos" scheitern würde, wird schon bei den Apostolischen Vätern hervorgehoben. In verschiedenen Wendungen wird deutlich gemacht, dass "Buße- Tun selbst Einsicht bedeutet" und ihrem Wesen nach (Selbst-)Erkenntnis ist, verbunden mit der Erfahrung der Reue. Sie gilt als "Gelegenheit" der Umkehr.36

Calvin erwartet sogar, dass die Buße den Menschen zu einem neuen Leben in Heiligung führt, dass ein Mensch in der Kraft der Heiligung "der Sünde Herr" wird und andere an diesem Können erkennen, dass es sich um einen Christen handelt.37 D. Bonhoeffer interpretiert Buße als einen Ausdruck dafür, von der (teuren) Gnade bewegt zu werden, mit dem "Schatz im Acker" etwas anfangen zu können, aus seinem Reichtum zu leben und "nachzufolgen". Dem entspricht es, Buße als "letzte Redlichkeit" zu verstehen, wozu die Erkenntnis gehört, in der Welt leben zu müssen "etsi deus non daretur. [...] Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis."38 Für E. Brunner ist Buße ein Zeichen der "Ansprechbarkeit" des Menschen für Gottes Wort. Sie hilft dem Menschen, seine Verantwortung wahrzunehmen,39 und kann als Weg der "Gewissensverwandlung"40 gelten. Als "Entmythologisierung des Menschen" im Interesse seiner Selbsterkenntnis charakterisiert E. Käsemann die Buße, zumal "in einer Zeit der Selbsttäuschung".41 Den existentiell entscheidenden Weg der Buße wird nach R. Bultmann nur finden, wer "bereit ist, die ihm geläufige Selbstauffassung in Frage zu stellen und zu messen an der ihm hier [d. h. in der Verkündigung Jesu] entgegentretenden Deutung der menschlichen Existenz."42

3.2.4 Stärkung und Artikulation
persönlicher Verantwortung



In dem Maße, wie Predigt und Seelsorge dem Einzelnen helfen, seine Wünsche sowie sein Wollen und Handeln zu bewerten, verleihen sie seinem Ethos Kontur und Festigkeit. Dieser Prozess kann befördert werden durch eine gezielte homiletische bzw. poimenische Erschließung der ethischen Implikationen des Evangeliums. Als Zeugnis der Auferweckung des Gekreuzigten enthält es die Botschaft unserer Erlösung. Als Lehre ist das Evangelium jedoch zugleich ein großes Plädoyer für die Kunst, aus Glauben anders und gewisser zu leben und den Erwartungen, die an die eigene Person gerichtet sind, besser gerecht zu werden. Das Evangelium nennt Bedingungen, unter denen man ein Leben führen kann, dessen man sich glücklich schätzt, ohne damit den Nobelpreis für Heiligung und Nachfolge zu erwerben.43 Zur Erinnerung: "Lasst euch von dieser Welt nicht schematisieren, sondern ändert euch, indem ihr eure Denkweise erneuert" (Röm 12,2), denn "niemand lebt davon, dass er viele Güter hat" (Lk 12,25). "Wer versucht, sein Leben für sich allein zu benutzen, der wird's verlieren; wer dagegen zulässt, dass es sich verbraucht, der wird's nicht nur behalten, sondern von Gott neu geschenkt bekommen" (Joh 12,25). Summa summarum: "Ich lebe, und ihr sollt auch leben" (Joh 14,19). Damit ist kein aufs Spirituelle reduziertes Leben gemeint, sondern die Zumutung, von der durch das Evangelium eröffneten Freiheit Gebrauch zu machen. Es geht um die Inanspruchnahme der Angesprochenen als Subjekt ihres Lebens, um einen Part also, bei dem sie sich nicht vertreten lassen können.

Die reformierte Theologie ist durch ihr Insistieren auf der (stärker als in der lutherischen Theologie ausgearbeiteten) Dialektik von Rechtfertigung und Heiligung für die hier anzusprechenden Fragen von jeher aufgeschlossen gewesen. So hat etwa Huldrych Zwingli - Bezug nehmend auf die freimachende Kraft des Evangeliums - immer auch auf dessen ethische Dimension und soziale Relevanz hingewiesen. Nach Zwingli gehört zur Wirkung des Evangeliums selbstverständlich die Ermutigung, im persönlichen Leben und im Interesse der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. Als Zwingli z. B. die Funktion der Buße, die Lebensführung zu ändern, im kirchlichen Beichtinstitut nicht mehr vertreten sah, nahm er sie bekanntlich selbst nicht mehr in Anspruch; diesem Institut fehlte seiner Ansicht nach der notwendige ethische Ernst, der zur Buße gehört.

3.2.5 Sinnstiftung



Der Zurückhaltung der philosophischen Beratungspraxis hinsichtlich des Anspruchs, die Ursache von psychischen Fehlentwicklungen aus der Vergangenheit aufzuklären und diese im Rahmen von Gesprächen zu therapieren, steht ein starkes Interesse an Sinnbildung, Sinnarbeit, Sinnstiftung gegenüber. Während die Psychotherapie - durchaus mit Erfolg - darum bemüht ist, den Un-Sinn eines Lebens zu bewältigen, zu erkennen und gegebenenfalls abzustellen,44 ist philosophische Beratung eher auf die Formulierung eines Sinnzusammenhangs im gegenwärtigen und künftigen Lebenszusammenhang eines Menschen ausgerichtet. Für diesen Sinnzusammenhang ist die Kohärenz des gegenwärtigen, zukunftsbezogenen Wünschens, Wollens und Handelns im Leben des Einzelnen entscheidend. Hier geht es nicht darum, herauszufinden, was an und für sich sinnvoll zu tun wäre - ohne einen Zusammenhang mit dem, was der Ratsuchende wünschen oder wollen könnte, sondern um einen Sinn, der sich dadurch einstellt, dass durch das Tun eines Menschen etwas geschieht, was seinem Urteil genügt, seine Gegenwart strukturiert und der Offenheit seiner Zukunft entspricht.

Übertragen auf Seelsorge und Predigt geht es um ein Kommunikationsverhalten, in dessen Ergebnis sich so etwas wie eine "Von-nun-an-Perspektive" eröffnet. So wie bei Petrus, der eben noch enttäuscht mit leeren Netzen am Ufer hockt und plötzlich mit neuen Vorstellungen von seiner Zukunft und einer neuen Identität konfrontiert wird (Lk 5,10), wie bei Maria, der sich eine neue Aussicht auf ihr Leben eröffnet und die sich dafür glücklich schätzt (Lk 1,48), wie jene Handvoll Samariter, die durch die Lehre Jesu verstanden haben, worin ihr Heil liegt, und sich "von nun an" auf das verlassen können, was sie selber erkannt haben (Joh 4,42). Diese "Von-nun-an-Erklärungen" geben zu verstehen, dass ein Sinn erkennbar wird, der das weitere Leben mitbestimmt.

Weitere Berührungspunkte zwischen philosophischer und seelsorgerlicher Beratung ergeben sich aus dem Wissen um verschiedene Grenzen, einschließlich der des Todes, Grenzen, die die Frage nach dem Führen und Verantworten des eigenen Lebens in gegebenen Spielräumen noch einmal verschärfen, die Bedeutung von Entscheidungen unterstreichen und es notwendig machen, Kriterien für die Gestaltung eines begrenzten Lebens zu entwickeln.45 Ferner wäre der gemeinsame Anspruch von Praktischer Philosophie und Pastoraltheologie zu nennen, Menschen dabei zu helfen, in ihrer Gegenwart anzukommen. Das notorisch präsentische Element christlicher Eschatologie, das die alltägliche Gegenwart des Menschen zum Ernstfall macht, zeigt an: Es wird Ernst mit deinem Leben; du wirst jetzt anfangen zu leben und die dafür notwendigen Entscheidungen treffen. - Diese Gesichtspunkte, unvollständig wie sie sind, laufen auf eine Predigt- und Seelsorgepraxis hinaus, in der die Botschaft von der Freiheit mit der Frage nach der Gestalt dieser Freiheit verbunden und im Zusammenhang des eigenen Wünschens, Wollens und Handelns reflektiert wird.

4. Zur Frage nach den Konsequenzen

4.1 Grundsätzliche Überlegungen



Nach allem, was bisher erörtert wurde, kann es nicht die Intention dieses Aufsatzes sein, Pfarrerinnen und Pfarrer dazu aufzufordern, von ihrer Meisterschaft in Sachen Lebenskunst Gebrauch zu machen und der Gemeinde das nötige Know How beizubringen. Es gilt vielmehr zu erkennen und anzuerkennen, dass die Frage nach dem Führen des eigenen Lebens in der christlichen Gemeinde einen angemessenen Ort hat. Seelsorge und Unterricht, Predigt und Gottesdienst, Gesprächskreise und Hausbesuche usw. sind geeignete Kommunikationsformen, in denen Entscheidendes für die Gestaltung des Lebens gelernt werden kann. Ohne unterstellen zu müssen, dass die jeweiligen Seelsorger, Prediger, Diakone usw. über Lebenskunstgriffe verfügten, von denen die Gemeindeglieder nichts ahnten, ist doch daran festzuhalten, dass die angedeuteten Kommunikationssituationen eine Lehrdimension implizieren, die sie - abgesehen von den nicht zu unterschätzenden Möglichkeiten gekonnt geführter Gespräche nach Art sokratischer Dialoge - dem Evangelium verdanken.

Die permanente, wenn auch nicht immer offensichtliche Orientierung am Evangelium als Lebens-Lehre sowie die Art der Bezugnahme im Kontext einer Gemeinde sind m. E. die wichtigsten Rahmenbedingungen einer "Lebenskunst", die man in diesem Sinne "christlich" nennen könnte.

Die Frage, ob man auch inhaltlich - d. h. hier: im Blick auf das "Kunstwerk" - von einer spezifischen "christlichen Lebenskunst" sprechen muss, würde ich eher verneinen. Was es im Blick auf ein Leben im Einzelnen zu können gilt, wird weitgehend durch den "Stoff des Lebens" (vgl. Anm. 3) selbst vorgegeben. Christen müssen nicht etwas ganz anderes können, um ihr Leben zu führen. Sie müssen sich z. B. bestimmte Gewohnheiten abgewöhnen und andere zulegen, ihre Wünsche kritisch sichten, sich ein Urteil über heikle Situationen bilden, Entscheidungen treffen, Trauer bewältigen, sich im Verzicht üben und lernen, das rechte Maß des Sorgens und Genießens zu erkunden, usw. - wie andere auch. Man kann freilich fragen, ob einem Menschen, zu dessen Leben die "Rahmenbedingungen" einer Gemeinde und die damit verbundene Tradition christlichen Glaubens gehören, nicht doch ein spezifisches Repertoire zur Erlangung der angedeuteten Kompetenzen zur Verfügung steht, das heißt, ob er z. B. durch die regelmäßige - im besten Wortsinn gewohnheitsmäßige - kritische Selbstreflexion im gottesdienstlichen Geschehen (Beichte) und durch die Inanspruchnahme der Vergebung besondere Möglichkeiten hat, auf sein Leben Einfluss zu nehmen. Diese Frage wäre wohl zu bejahen.46

Lebenskunst, im Kontext von Gemeinde angeeignet und im Horizont der "guten Lehre"47 kritisch reflektiert, sollte es in jedem Fall erlauben, gemäß der Freiheit zu leben (vgl. Gal 5,1; Jak 1,25), die das Leben des Menschen bestimmen soll. Dabei kann es gerade nicht um eine christliche Sonderkunst gehen, die nur innerhalb von Kirche und Gemeinde oder in einer virtuellen Sonderwelt funktioniert, nicht aber zum Leben taugt. Deshalb ist bezüglich der Techniken, mit denen Lebenskunst erworben und praktiziert wird, über das christliche Repertoire hinaus nach einschlägigen Kunstregeln zu fragen, die generell zur Lebenskunst gehören. Unter den Fertigkeiten und Routinen, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind,48 sind jene von besonderer Bedeutung, die unmittelbar mit der Aneignung von Freiheit zu tun haben, sofern sie dazu beitragen, dass sich ein Mensch als Subjekt seines Lebens erfährt. Hier spielt die Aneignung eines eigenen Willens, der das Handeln eines Menschen zu seinem Tun und zum Ausdruck seiner Entscheidung macht, eine herausragende Rolle. Diesen Gesichtspunkt möchte ich im Kontext von Seelsorge etwas genauer erörtern.

4.2 Zur Bedeutung der Willensarbeit für die Seelsorge



Die Stärkung der Kompetenz im Führen des eigenen Lebens gehört zu den elementaren Aufgaben der Seelsorge. Indem sie einen Menschen in dem Versuch unterstützt, leben zu können, hilft sie ihm bei der Aneignung seiner Freiheit. Lebenskunst ist Ausdruck "angeeigneter Freiheit"49. Diese Freiheit ist u. a. bestimmt von der Erfahrung, Subjekt der Entscheidungen zu sein, die den Lauf des eigenen Lebens beeinflussen und an der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit beteiligt sind. In diesem Zusammenhang ist nochmals daran zu erinnern, dass ein Mensch, der mit Hilfe nüchterner Überlegung und schöpferischer Phantasie einen Willen ausbildet, an sich "arbeitet". Er gibt seinem Willen ein Profil, das vorher nicht da war. "In diesem Sinne ist man nach einer Entscheidung ein anderer als vorher."50 Deshalb werden Seelsorger zu Anwälten der Autonomie eines Menschen, indem sie ihm bei jener Willensarbeit helfen und so dazu beitragen, die Entfremdung seinem eigenen Leben gegenüber aufzuheben, die in diesem Fall darin besteht, dass er sein Tun und Lassen als nicht zu sich gehörig, als nicht vom eigenen Willen getragen erlebt.

So wichtig der Wille als entscheidungsbildende Instanz für die Autonomie eines Menschen ist, so vielgestaltig sind die Erfahrungen und Probleme mit seiner Aneignung. In einer die Lebenskunst thematisierenden Seelsorge käme es zunächst darauf an, die jeweilige Verfassung eines Willens in den Blick zu bekommen: Habe ich es mit einem Menschen zu tun, der gar keine Vorstellungen davon hat, was er eigentlich will, der das Nachdenken über sich selbst übergeht, die Neugier auf sein Leben nicht (mehr) kennt, sich einfach treiben lässt und seinen je und je aufwallenden Wünschen folgt? Oder habe ich jemanden mit einem zwanghaften Willen vor mir, der es nicht schafft, sich in seinem Tun nach einer scheinbar besseren Einsicht zu richten? Der zwar einen starken, aber einen ihm fremden Willen hat, den er nicht als seinen verstehen kann?51 Diese und andere Formen der Beschaffenheit eines nicht angeeigneten Willens sind wiederum mit bestimmten Formen der Unfreiheit verbunden: Der Getriebene ist nicht frei, weil er nicht weiß, was es heißt, Entscheidungen zu treffen. Er erfährt sein Leben als etwas, das ihm zustößt. Er stolpert seiner Zukunft irgendwie entgegen. Der Zwanghafte ist nicht frei, weil er mit einem ihm fremden Willen lebt, was dazu führt, dass er sich wie zu Besuch fühlt in seinem eigenen Leben.52

Ein seelsorgerliches Gespräch, das etwas austragen soll für das Vermögen eines Menschen, mit einem ihm zugehörigen Willen zu leben, wird in dieser Hinsicht ein dreifaches Interesse haben. Erstens geht es darum, diesen Willen zu artikulieren. Es bedeutet nämlich einen Schritt in die Freiheit, die Ungewissheit in Bezug auf das, was man will, zu verlieren. Zweitens kommt es darauf an, diesen Willen zu verstehen und zu wissen, von welchen Erwartungen er genährt wird. Zur Aneignung eines eigenen Willens gehört es drittens, ihn in kritischer Distanz zu bewerten und zu prüfen, ob man ihn allen Ernstes wollen, gutheißen und dann auch mit ganzem Engagement vertreten kann.53

Die eben genannten Aspekte der Artikulation, des Verstehens und der Bewertung des Willens implizieren eine Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen. Angesichts der Vielfalt der Wünsche, die das Leben eines Menschen begleiten, gilt es zu klären, welche Wünsche substantiellen und welche instrumentellen Charakter haben, mit welchen Wünschen man sich - etwa im Rückblick auf getroffene Entscheidungen - wirklich identifizieren kann und welche einem bei näherem Hinsehen fremd vorkommen usw. Es geht hier um "die Anstrengung, Lebenslügen, sofern sie den Willen betreffen", zu erkennen "und durch eine unvoreingenommene Bestandsaufnahme des eigenen Wünschens zu ersetzen".54 Ein Mensch, der von widerstreitenden Wünschen hin und her gerissen ist, muss zunächst beurteilen lernen, welcher Wunsch wirklich zu ihm "passt" und mit dem kritisch reflektierten Selbstbild übereinstimmt. Dass die Thematisierung von Wünschen in der Seelsorge nicht den primären Zweck hat, sich mit dem Ratsuchenden zu deren Umsetzung zu verbünden, sei angesichts der oft anzutreffenden, unkritischen Empfehlung, Menschen in ihren "Wünschen, Träumen und Idealen" zu bestärken, ausdrücklich hinzugefügt. Es gibt im Übrigen eine Reihe von Wünschen, die wir nicht deshalb haben, um sie uns zu erfüllen; es genügt uns erfahrungsgemäß nicht, auf Wunschbefriedigung hin zu leben. "Wir wollen uns auch wünschend" und brauchen etwas, "worum es uns mit ganzem Herzen geht."55 Solche Wünsche ähneln eher Richtungsangaben für das eigene Leben als abzuhakenden Zielen.

Das hier anvisierte seelsorgerliche Verhalten setzt eine hinreichende Auseinandersetzung mit philosophischen Fragestellungen voraus. Angesichts des Reichtums relevanter philosophischer Argumentationsmuster in der Theologie selbst verstehe ich darunter zunächst eine (Rück-)Besinnung auf theologische Traditionen, in denen z. B. der Personbegriff, die existentielle Dimension der Freiheit des Willens oder die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen usw. eine Rolle spielen. Darüber hinaus wird die Praktische Theologie gut beraten sein, zur Philosophie ein ähnliches Doppel-Verhältnis wie zu den anderen Human- und Geisteswissenschaften aufzubauen: dass sie (1.) mit ihrer Hilfe ihre eigenen Reflexionsperspektiven vertieft und schärft und sich (2.) von ihr kritisch hinterfragen lässt. Diese Art der Rezeption praktisch-philosophischer Fragen zielt nicht darauf, etwas nachzumachen, was Praktische Philosophen besser können, sondern darauf, ein immenses Potential an praktischem und theoretischem Wissen zu Fragen der Lebenskunst für das Verständnis und die Gestaltung der eigenen seelsorgerlichen Arbeit heranzuziehen.

Die seelsorgerlichen Gespräche, die unter solchen Prämissen stattfinden, werden sich in ihrer Struktur nicht wesentlich von solchen unterscheiden, wie sie sich unter dem Sammelbegriff "Gesprächspsychotherapie" auf der Basis jahrzehntelanger Forschung und praktischer Erfahrung entwickelt haben. Partnerschaftliche Begegnung unter Gleichrangigen, Bewusstmachung eigener Lebensmaximen, Irritation bestehender Überzeugungen, Auseinandersetzung unter neuen Gesichtspunkten und die Zumutung von Veränderung im Denken und Handeln werden dabei eine besondere Rolle spielen.56 Eine die philosophische Dimension berücksichtigende Seelsorge wird jedoch weitere Gesichtspunkte im Blick haben: die Auseinandersetzung mit den Wünschen, die Arbeit am Willen (s. o.), die Thematisierung der Zeit(erfahrung) und anderes mehr. Die Standards der Gesprächspsychotherapie über Bord zu werfen, wäre schon deshalb widersinnig, weil die Protagonisten der Gesprächspsychotherapie (z. B. Carl Rogers) selbst an die Prämissen sokratischer Gespräche angeknüpft haben.

Eine im Dialog mit der Praktischen Philosophie weiterzuentwickelnde Seelsorgepraxis kann von jenen Ansätzen der Poimenik profitieren, in denen das Nachdenken über sich selbst, die Wahrnehmung von inneren und äußeren Bedingungen des eigenen Wollens und Handelns sowie das Wechselspiel von Phantasie und Vernunft einen Ort haben. Das gilt grundsätzlich für den gesamten Bereich der gesprächspsychotherapeutisch orientierten Seelsorge, deren Vertreter auf die Wirkung klärender Gespräche setzen. Das gilt in besonderer Weise von der systemischen Seelsorge, in der die Wahrnehmung des meine Existenz bedingenden Systems von konstitutiver Bedeutung ist, was es wiederum möglich macht, einen klareren Begriff von bedingter Freiheit zu entwickeln. Die Relevanz der systemischen Seelsorge in Sachen Lebenskunst zeigt sich auch in ihrem Sinn stiftenden Anspruch, in ihrem Verständnis von Störungen und Krisen57 und der methodischen Anstrengung, die Phantasie ins Spiel zu bringen, um das Lebens anders zu sehen, als es ist, um mögliche Zukunft zu antizipieren, um neue Spielräume des Wünschens und Wollens zu eröffnen, zur Klärung des Willens beizutragen und Entscheidungen vorzubereiten. Dies trägt unmittelbar zur Freiheit Ratsuchender bei. Denn wer die reichere Phantasie hat, verfügt auch über ein größeres Potential an Möglichkeiten der Lebensgestaltung seines Lebens.58

4.3 Lebenskunst im Blickpunkt der Predigt

Predigten, die lebensdienlich sind, sollten etwas austragen für die Kunst zu leben. Sie sollten auf die biblischen Texte auch als Lernmodelle für ein Leben aus der Erfahrung (mit Gott) Bezug nehmen und selbst Lernmodell für die Kunst zu leben sein. Ich denke an Predigten, die dem Hörer wahrzunehmen helfen, was er mit seinem Leben macht, und mit ihm die Kriterien zur Gestaltung eines Lebens erörtern, das aus christlicher Sicht klug ist. Es geht um Predigten, die das Verständnis dafür fördern, inwieweit das, was im eigenen Leben geschieht, einerseits von Voraussetzungen bedingt ist, die mit seinen Grenzen und Möglichkeiten, mit seinen Spielräumen zu tun haben. Andererseits sollten sie auch deutlich machen, inwiefern ein Leben davon bestimmt wird, wie man sich als Subjekt seines Lebens selbst in Anspruch nehmen lässt, sich mit seinen Wünschen auseinander setzt, seine Entscheidungen an einen eigenen Willen bindet und schließlich tut, was dem eigenen Urteil entspricht.

Sofern die Kunst des Lebens u. a. darin besteht, dass ein Mensch im Kontext bestehender Gegebenheiten so von seiner Freiheit Gebrauch machen kann, dass er in dem, wozu er sich entscheidet, seinen Willen wiedererkennt, müsste sich eine Predigt dementsprechend auch mit dem Erkennen von Grenzen,59 mit der Wahrnehmung von Spielräumen, dem Bilden von Entscheidungen und dem Mut zu entsprechendem Handeln befassen. Dabei wäre - und zwar aus theologischen wie philosophischen Überlegungen heraus - von einer im positiven Sinne grundsätzlich offenen Zukunft jedes Einzelnen auszugehen, die gewissermaßen auf ihn, auf sein Handeln, sein Entscheiden wartet. Es gehört zur Voraussetzung jedwedes prospektiven Denkens und Entscheidens, dass unser Tun und Lassen überhaupt eine offene Zukunft hat. Ohne diese Aussicht würden wir nicht die Erfahrung machen können, Subjekt unseres Lebens zu sein oder zu werden. Diese Offenheit fordert homiletisch dazu heraus, die beiden Grundkomponenten persönlicher Willens- und Entscheidungsbildung in die Konzeption einer Predigt zu integrieren. Das sind nachvollziehbares Durchdenken von Situationen und konkreten Facetten menschlicher Lebenswirklichkeit und eine entwickelte Phantasie zur Erschließung von Bildern des Andersseins - im besten Wortsinn: Einbildungskraft, die dem Wünschbaren, dem, woraufhin man lebt, klare Konturen gibt.

Ein grundsätzliches theologisches wie philosophisches Problem der evangelischen Durchschnittspredigt ist darin zu sehen, dass sie den Menschen - in der Sorge, ihn dem Gesetz auszuliefern - in seinem Wollen und Handeln kaum in Anspruch nimmt. Sie gibt ihm gewissermaßen nichts zu tun, zumindest gemessen an dem, was der protestantische Hörer alles "darf": Er darf kommen, darf glauben, darf hoffen, darf vertrauen und "auf den anderen zugehen" usw., ohne dass ihm mit der Predigt dabei geholfen würde, sich ein Urteil darüber zu bilden, was er aus welchen Gründen tun und lassen sollte. Gleichzeitig wird die Wirkung des Evangeliums von der Fähigkeit der Hörer abhängig gemacht, das "Geschenk" "nun auch anzunehmen", sich ihm "nur zu öffnen", es sich "einfach schenken zu lassen", wodurch die Predigt gegen ihren Wortlaut eine paradoxerweise ausgesprochen gesetzliche Note erhält. Jenseits solcher Strategien käme es darauf an, den Einzelnen als Subjekt seines Glaubens und Lebens ernst zu nehmen und ihm auch durch eine Predigt zu helfen, seinen Spielraum wahrzunehmen, im Beziehungsgefüge des Lebens seinen eigenen Part zu erkennen und mit guten Gründen die notwendigen "Ja, Ja" und "Nein, Nein" (Mt 5,37) seines Lebens zu bilden.

Summary

The question of a "masterly" way of leading one's life has a long tradition rooted in the genesis of philosophy and theology. Specific developments in society today add a new and highly explosive force to this question. Concerned with the art of living, the dialogue between theology and philosophy, however, experienced various disturbances and interruptions, which have affected today's pastoral theology rather unfavourably. In addition to pointing at difficult "heritage", this article names resources resulting from the teaching of the Gospel (as regards the content) as well as from the dialogue - still to be opened - between practical philosophy and practical theology (as regards the method). In this context, consequences are developped, particularly referring to the ethical-philosophical dimension of pastoral care and to the life-serving aspect of the sermon.

Fussnoten:

1) Dieser Beitrag ist Christian Grethlein zum 50. Geburtstag zugeeignet. Der Aufsatz setzt Überlegungen fort, die ich in meinem Beitrag Lebenskunst als Beratungsziel. Zur Bedeutung der Praktischen Philosophie für die Seelsorge der Gegenwart (in: Entwickeltes Leben. Neue Herausforderungen für die Seelsorge, FS J. Ziemer, hrsg. v. Michael Böhme u. a., Leipzig 2002, 95-125; vgl. die Kurzanzeige in ThLZ 128 [2003], 666) zur Diskussion gestellt habe.

2) Dabei ist insbesondere zwischen einer - oft esoterisch eingefärbten - Populär- und Freizeit-Philosophie und philosophischer Lebenskunst zu unterscheiden. Während jene mit ein paar aufmunternden Tipps der Kategorie "Nimm dich, wie du bist" erklärt, wie man sich (vermeintlich) das Leben leicht machen kann, mutet philosophische Lebenskunst dem Einzelnen eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst zu und macht positive Veränderungen von einem methodischen Nachdenken über Bedingungen und Möglichkeiten, also über Spielräume des eigenen Lebens abhängig.

3) Dementsprechend hat man die Kunst, dem eigenen Leben Gestalt zu geben, in der späten Stoa mit handwerklichem Geschick verglichen: "Die Philosophie verspricht nicht, dem Menschen etwas zu verschaffen, was nicht in seiner Macht liegt. Täte sie es, dann würde sie etwas auf sich laden, was nicht ihres Amtes ist. Denn, wie Holz ein Gegenstand für den Zimmermann, das Erz für den Bildhauer, so ist das Leben jedes Einzelnen Gegenstand seiner Lebenskunst" (Epiktet: Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hrsg. v. Heinrich Schmidt, Stuttgart 21959; Unterredungen, I,15).

4) Dieser Zusammenhang ist insbesondere durch die Arbeiten von Harry Frankfurt (The Importance of what we care about, Cambridge 1988)

neu in die philosophische Diskussion eingebracht worden: "While the nature of deciding is aggravatingly elusive, at least it is apparent that making a decision is something that we do to ourselves" (172). Peter Bieri hat Frankfurts Überlegungen aufgenommen, weitergeführt und mit einer Theorie der Aneignung einer von Grenzen bedingten Freiheit verbunden, wobei der angeeignete Wille als freier Wille eine entscheidende Rolle spielt. Vgl. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München-Wien 2001.

5) Vgl. Wilfried Engemann: Personen, Zeichen und das Evangelium, Leipzig 2003, 81-88. Spielräume menschlichen Handelns eröffnen sich unter den Bedingungen innerer und äußerer Grenzen und Möglichkeiten, d. h. durch Voraussetzungen, die einerseits mit dem Individuum (z. B. Begabungen), andererseits mit den Gegebenheiten der "Welt" zu tun haben (z. B. mit einer begrenzte Palette von Berufen). Entscheidend für die Gestaltung von Spielräumen ist nicht, dass sie objektiv existieren, sondern dass man sie erkennt, dass man sie sich mit Hilfe seines Verstandes und seiner Phantasie erschließt - wobei ein nachdenkender und phantasievoller Mensch einen größeren Spielraum hat als jemand, der nicht weiß, was es heißt, über sein Leben nachzudenken und für die eigene Zukunft Phantasie zu entwickeln. Vgl. auch P. Bieri, a. a. O., 45-49.

6) Bruno Schnell: Leben und Meinungen der Sieben Weisen, gr.-dt. Textausgabe, München 41971.

7) Die Anweisung Gnothi seauton - "(Er)kenne dich selbst!" - ist durch die Werke Platons vor allem als Orakelspruch und Inschrift über dem Eingang des Apollon-Tempels zu Delphi bekannt geworden. Sie findet sich jedoch schon früher bei den "Sieben Weisen" (s. o. Anm. 6) und wird dort dem (neben Thales) weniger bedeutenden Chilon in den Mund gelegt. Man wird wohl davon ausgehen können, dass der Gedanke der Selbsterkenntnis bereits zu Beginn des 5. Jh.s v. Chr. philosophisch en vogue war, so dass es nicht ungewöhnlich ist, ihn (auch) als Inschrift an einem Heiligtum wiederzufinden. Platons Sokrates nimmt wiederholt auf jenen Spruch Bezug: indirekt in seiner Apologie (I,20D - 22B), expressis verbis in den Dialogen, besonders aufschlussreich im Phaidros (II, 229E- 230A). Vgl. auch die Dialoge Alkibiades (I,133C-133E), Charmides (I,164D-172C) und Protagoras (I,343B), zitiert nach Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden. Berliner Ausgabe, hrsg. v. Erich Loewenthal, Heidelberg (1940) 81982.

8) Die noch vor 50 n. Chr. entstehende Logienquelle bietet eine von zahlreichen Dialogen durchzogene Spruchsammlung, in der vor allem "Herrenworte" überliefert werden. In diesem (ohne Passion und Ostern auskommenden) "Halbevangelium", das - zusammen mit dem Markusevangelium - Matthäus und Lukas offensichtlich als Vorlage gedient hat, kommt Jesus vor allem als Lehrer und kommender Menschensohn zur Sprache. Was die Sammlung Q besonders charakterisiert, sind Geschichten, in denen "Menschen die Möglichkeit eröffnet wird, sich für Gott und seine Herrschaft zu entscheiden, und diese Entscheidung in einer Geschichte zu leben" (A. Polag: Die theologische Mitte der Logienquelle, in: Das Evangelium und die Evangelien, hrsg. v. P. Stuhlmacher, Tübingen 1983, 110).

9) Die "Aussprüche der Väter" sind eine Sammlung von Spruchweisheiten ägyptischer Mönche aus dem 4. und 5. Jh. Sie sind in Erzählungen und Dialoge eingebettet, die jeweils eine konkrete Situation erkennen lassen, und sollen "dem Leser" - wie es im Vorwort heißt - "nützen". Man wird als Leser - wie bei der Lektüre von Platon - Zeuge von Einzelgesprächen, deren gemeinsames Merkmal u. a. die Unterweisung in Fragen der Lebenskunst ist. Die einzige vollständige deutsche Ausgabe hat den Titel: Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, auch Gerontikon oder Alphabeticum genannt, übers. v. Bonifaz Müller, Trier 41998.

10) Jesus gibt die Botschaft vom Leben nicht nur dadurch weiter, dass er heilt oder den Glauben Einzelner stärkt, sondern auch dadurch, dass er "lehrt". Zum Verb didaskein vgl. die Erläuterungen unter 3.2.1.

11) Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. So wäre es z. B. lohnend, die Ideen der Reformation als Beitrag zur (christlichen) Lebenskunst zu untersuchen. In ihrem Zeitalter wurde nicht nur die Theologie als lebensdienliche Wissenschaft reformuliert. Die durch Luthers Denken und Glauben angestoßenen Reformen liefen auch auf eine grundsätzlich veränderte Betrachtung des Lebens hinaus und waren durchaus mit einem neuen Lebensgefühl verbunden. Weitere Impulse gehen von Descartes, Spinoza und Leibniz aus, ebenso vom deutschen Idealismus und seinen späteren Verächtern.

12) Friedrich D. E. Schleiermacher: Über den Wert des Lebens, in: Ders.: Monologen nebst den Vorarbeiten, Kritische Ausgabe, hrsg. v. Friedrich M. Schiele, erweitert und durchgesehen von Hermann Mulert, Hamburg (1829) 31978, 166. Dieser Text gehört zu den ersten philosophisch-theologischen Texten, die sich im 19. Jh. expressis verbis mit der Notwendigkeit einer reflektierten Lebensführung auseinander setzen. Überdies kommt Schleiermacher in seinen Ausführungen zu ausgesprochen modern wirkenden Feststellungen: "Vorwärts hab ich die ganze Zukunft vor mir [...] - ein großes, unbestimmtes Bild. Rückwärts [betrachtet habe ich] meine Art dazusein, ja, fast mein ganzes Wesen mehr als einmal gewechselt; oft würde ich mich nicht erkennen, oft vergeblich nachsinnen, was ich war und sein wollte, oft würde der Faden, an dem ich fortging, mir abgerissen scheinen" (ebd., Ergänzung in [ ] W. E.).

13) Die Anzahl der allein in den letzten fünf Jahren erschienenen Bücher, die auf die Notwendigkeit einer wie auch immer gearteten Lebensführung Bezug nehmen, ist außerordentlich hoch, wobei die populär-philosophischen Titel zur Maximierung des Zeit- und Glücksgewinns (s. Anm. 2) deutlich überwiegen. Daneben gibt es eine Reihe von Büchern, die dem Leser immerhin eine Art Grundkurs in Philosophie bieten, ihm aber schließlich - nach der Devise "Seien Sie Ihr eigener philosophischer Berater" - vortäuschen, mit ein paar knackigen philosophischen Zitaten ("Plato statt Pillen") sei dem Alltag problemlos beizukommen (vgl. Lou Marinoff: Bei Sokrates auf der Couch. Philosophie als Medizin für die Seele, München 2002). Anspruchsvoller, wenngleich nicht unbedingt erfolgreicher, sind Versuche, Lebenskunst in Auseinandersetzung mit den Werken Platons, Montaignes, Nietzsches oder Foucaults zu vermitteln, wie bei Alexander Nehamas: Die Kunst zu leben. Sokratische Reflexionen von Platon bis Foucault, Hamburg 2000. Für eine systematische Erkundung der mit der Lebenskunst-Thematik verknüpften Fragestellungen eignen sich am besten jene Bücher, die kein verdecktes therapeutisches Interesse hegen und statt dessen darum bemüht sind, die verschiedenen Kontexte und Maximen philosophischer Lebenskunst verständlich zu machen - und die obendrein dazu anregen, sich mit anderen darüber zu verständigen. Vgl. z. B. Wilhelm Schmid: Schönes Leben. Einführung in die Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2000.

14) Vgl. z. B. Marianne Gronemeyer: Das Leben als letzte Gelegenheit, in: Michael Schlagheck (Hrsg.): Leben unter Zeitdruck. Über den Umgang mit der Zeit vor der Jahrtausendwende, Mühlheim 1998; Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, 31993.

15) Der Begriff der Pastoraltheologie ist nach wie vor hilfreich, um außerhalb des notwendigen theoretischen Unterbaus kirchlicher Praxis zu sondieren, was bestimmte Analysen und Einsichten konsequenterweise für das Agieren auf den klassischen Handlungsfeldern der Gemeinde bedeuten. Als Perspektive pastoralen Handelns interessieren dann vor allem die Erschließungsmöglichkeiten von Lebenskunst für die Glieder der Gemeinde. Eine praktisch-theologische Auseinandersetzung mit diesem Thema liefe darauf hinaus, die Perspektive von Lebenskunst u. a. im Kontext historischer und gesellschaftlicher Reflexionsperspektiven zu diskutieren, sie mit bestehenden theologischen Argumentationsmustern zu vermitteln und den mit ihr verbundenen Zuwachs für das Verständnis des Fachs Praktische Theologie zu erörtern. Beiden Aspekten soll im Folgenden Rechnung getragen werden.

16) Lebenskunst schließt sowohl im philosophischen wie theologischen Diskurs die Möglichkeit biographischer Brüche ein und ist keineswegs identisch mit "intakten" Lebensläufen. Das Durchstehen von Leid und Schmerz kann im Gegenteil Ausdruck eines besonderen "Könnens" sein. Vgl. auch Gunda Schneider-Flume: Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 2002.

17) Um der notwendigen Begrenzung dieses Beitrags willen nehme ich im Folgenden die Bedeutung praktisch-philosophischer Aspekte vor allem für die Seelsorge, ansatzweise auch für die Predigt in den Blick. Das Thema Lebenskunst ließe sich ebenso gut in anderen Kontexten kirchlichen Handelns verdeutlichen. Vgl. dazu u. a.: Die Kunst zu leben - schön, sinnvoll und gut. Eine Arbeitshilfe für Theologische Bildung der DEAE, in: Organisationsmodelle kirchlicher Erwachsenenbildung, Nr. 41, hrsg. v.der Arbeitsstelle der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt 2001.

18) Lat. ars vitae oder ars vivendi; griech.: peri bion techmen echein (sich auf Lebenkunst verstehen). Platon redet auch von der auf einen Lehrer (z.B. Pythagoras) zurückgehenden "Lebensweise" (tropos tu biu).

19) In der antiken Philosophie, vor allem in der klassischen und hellenistischen Phase, war die gleichermaßen theoretisch fundierte wie praktisch orientierte Frage nach einer gekonnten, weil bewussten Gestaltung des eigenen Lebens die philosophische Frage schlechthin. Noch Apuleius geht davon aus, dass die Philosophie geeignet sei "tam ad bene dicendum quam ad bene vivendum" (Apuleius: Florida, VII, 7, in: Ders.: Verteidigungsrede. Blütenlese, lat.-dt., hrsg. u. übers. v. Rudolph Helm, Berlin 1977).

20) Ernst Troeltsch in seiner Rezension zu G. Hoennicke: Studien zur altprotestantischen Ethik, Berlin 1902, in: GGA 8 (1902), 577-583, 581.

21) Ebd.

22) Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 91988, 126 f.

23) Vgl. Walter Sparn: Perfektibilität. Protestantische Identität "nach der Aufklärung", in: Wolfgang Erich Müller/Hartmut H. R. Schulz (Hrsg.): Theologie und Aufklärung, FS G. Hornig, Würzburg 1992, 339-357, 357.

24) Martin Luther: De servo arbitrio, in: Luthers Werke, hrsg. v. Otto Clemen, Bd. 3, Berlin-New York 61966, 214, 28 f. (WA 18, 719, 9 f.).

25) Vgl. Klaus Schwarzwäller: Sibboleth - Die Interpretation von Luthers Schrift De servo arbitrio seit Theodosius Harnack. Ein systematischer Überblick, München 1969.

26) Martin Luther: De servo arbitrio, a. a. O. (s. Anm. 24), 285, 27-29 (WA 18, 781, 8-10).

27) A. a. O., 129, 6-8 (WA 18, 638, 9-11).

28) Vgl. die Analyse von Friedrich Hermanni: Luthers Lehre vom unfreien Willen als Fundament der Rechtfertigungslehre, in: KuD 49 (2003), 88-108, 101. G. Ebeling ist seinerseits der Überzeugung, dass - nach Luther - die menschliche Freiheit auch den Dingen gegenüber nur Schein sei (Gerhard Ebeling: Luther. Eine Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 251 f.). O. H. Pesch konstatiert gar, dass Luther sich in einen Widerspruch verstrickt habe. Vgl. Otto Hermann Pesch: Freiheitsbegriff und Freiheitslehre bei Thomas von Aquin und Luther, in: Cath 17 (1963), 197-244, 232 f.

29) Hierin liegt übrigens der Hauptunterschied zu den Maximen der Lebensführung im Pietismus. Er hat Entscheidendes dazu beigetragen, die Relevanz christlichen Glaubens für die Gestaltung des persönlichen Lebens zu erkennen. Indem er aber gleichzeitig forderte, das autonome Subjekt vom Thron zu stoßen, in unbedingtem Gehorsam Jesus die Regie zu überlassen und in Geduld abzuwarten, was Gott im eigenen Leben tun wird, hat er die Anstrengungen der Lebenskunst de facto auf ein Sich-in-den-Griff-Bekommen reduziert.

30) Vgl. dazu die Synopse bei Eckhart Nase: Oskar Pfisters Analytische Seelsorge. Theorie und Praxis des ersten Pastoralpsychologen, Berlin 1993,

73 f., sowie die entsprechende Beschreibung der Problemfelder der Einzelseelsorge bei Alexander Schweizer (Pastoraltheologie oder Die Lehre von der Seelsorge des evangelischen Pfarrers, Leipzig 1875, 77), Bernhard Riggenbach (Die christliche Gemeindepastoration nach Schrift und Erfahrung, Basel 1898, 195), Ernst Christian Achelis (Art. Seelsorge, in: RE 31906, Bd. 18, 132-145, 138) und Otto Baumgarten (Protestantische Seelsorge, Tübingen 1931, 211 ff.).

31) Mk 10,1. Weitere Stellen in Auswahl: Mt 5,2; Mt 7,29; Mt 13,54; Mt 21,23; Mk 1,21 f.; Mk 2,13; Mk 4,2; Mk 6,2; Lk 5,3; Joh 8,2 - insgesamt ca. 30 Mal in den Evangelien.

32) Dabei kommt wohl der nahezu singulären Kultur der "Gesprächskreise" eine besondere Bedeutung zu. Solange sie nicht dafür missbraucht werden, Gemeindeglieder auf einen bestimmten Frömmigkeitsstil einzuschwören, können sie dazu beitragen, Lebensstile - und in diesem Zusammenhang auch Frömmigkeitsstile - zu überdenken und zu korrigieren. Peter Bubmann entfaltet dementsprechend in gemeindepädagogischer Perspektive, was es heißt, Lebenskunst als Bestandteil des Bildungsauftrags von Kirche und Gemeinde zu verstehen. Vgl. ders.: Gemeindepädagogik als Anstiftung zur Lebenskunst, in: PTh 93 (2004), 99-114.

33) Vgl. Christian Grethlein: Altwerden als geistliche Aufgabe. Ein Gespräch mit Romano Guardini, in: M. Herbst (Hrsg.): Spirituelle Aufbrüche. Perspektiven evangelischer Glaubenspraxis, Göttingen 2003, 158-165.

34) Albrecht Ritschl versteht den von der Buße geleiteten Glauben als "religiösen Regulator des praktischen Lebens", in dem die "Anerkennung unserer Bestimmtheit durch Gott in ethischer Beziehung" zum Ausdruck kommt. Vgl. ders.: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1, Bonn 41903, 164.

35) Das Empfinden von Reue setzt die Wahrnehmung der Freiheit der Entscheidung und des Handelns voraus. Wenn wir nie den Hauch einer Chance hätten, anders zu handeln, als wir gehandelt haben, wären Selbstvorwürfe irrelevant und Reue sinnlos. Vgl. P. Bieri, a. a. O. (s. Anm. 4), 21.

36) Herm Mand IV 2,1 f. sowie I Clem 7,5-7.

37) Vgl. Johannes Calvin zu Röm 6,12 in: Ders.: Commentarius in Epistulam Pauli ad Romanos, CR 77, 111.

38) Dietrich Bonhoeffer bringt die Buße ins Spiel, um deutlich zu machen, wie sich ein Leben unter der Gnade von einem Leben aus der "billigen Gnade" unterscheidet. Ders.: Nachfolge, München 111976, 13 ff.244.

39) Vgl. Emil Brunner: Natur und Gnade. Zum Gespräch mit Karl Barth, Zürich 1935, 18-20.

40) "Wir lernen Jesus menschlich kennen als einen Lehrer des Evangeliums, der mit dem Glauben an den Vater im Himmel uns einen Weg der Gewissensverwandlung (Buße) hinein in die Freiheit vom Gesetze verkündigt" (Emmanuel Hirsch: Leitfaden zur christlichen Lehre, Tübingen 1938, 136).

41) Vgl. zum politischen Kontext Ernst Käsemann: Kirchliche Konflikte, Bd. 1, Göttingen 1982, 169.175.

42) Rudolf Bultmann: Jesus, Tübingen 1951, 50.

43) Häufig ist der Begriff der Nachfolge quasi als Gegenbegriff zur Freiheit entfaltet worden. Unter Nachfolge wurde dann vor allem das Auf-Sich-Nehmen des Kreuzes verstanden, ein anstrengendes Leben in Heiligung, das man sich eigentlich nicht wünscht. Im Neuen Testament wird demgegenüber von Nachfolge nie als vom resignierten Abschied von einem befreiten Leben gesprochen. Nachfolge ist dort stets mit einer besonderen Art, sein Leben zu führen, verbunden; sie ist Ausdruck eines Höchstfalls von Freiheit. Die mit der Nachfolge verbundene Selbstlosigkeit entsteht im Übrigen nicht durch Ichschwäche, sondern "aufgrund von Ichstärke". Vgl. dazu Jörg V. Sandberger: Selbstlosigkeit und Ichstärke. Reflexionen zur Auseinandersetzung zwischen existenzialistischer und politischer Theologie, in: EvErz 24 (1972), 213-224, 224.

44) Jim Jones, ein transaktionsanalytisch arbeitender Psychotherapeut, will sich "in die Eltern-Ichs der Patienten einschalten" und sich "die Hexensendungen ansehen, die dem Kindheits-Ich eingebläut wurden, um sie abzudrehen" (zit. nach Thomas C. Oden: Wer sagt, du bist okay?, Stein/Mfr. 1977, 107). Ein Drehbuch für einen neuen "Film" ist damit noch nicht gewonnen.

45) Von daher gehört es u. a. zur Aufgabe der Seelsorge, zerbrochene Zeitperspektiven zu rekonstruieren. Vgl. dazu Christoph Morgenthaler: Begrenzte Zeit - erfüllte Zeit. (Kurz)Zeitperspektiven in der systemischen Seelsorge, in: WzM 54 (2002), 161-176.

46) Ein anderer Versuch, Lebenskunst als "christlich" zu verstehen, läuft darauf hinaus, "das ganze Leben im Licht der Verheißung zu betrachten" und es "in seinem eigentümlichen Zwielicht mit anderen, befreiten Augen sehen zu lernen und endliche Freiheit wirklich werden zu lassen". Christian Schwindt: Glaube und lebe. Lebenskunst als Thema christlicher Bildungsarbeit, in: PTh 91 (2002), 168-182, 173.

47) Vgl. Spr 4,2; Pred 12,9; Sir 21,18, 1Tim 4,6.

48) Wilhelm Schmid nennt u. a. das Entwickeln eines Bewusstseins für ein Leben mit dem Tod, Aufmerksamkeit für die Signalfunktion von Schmerzen, einen reflektierten Gebrauch der Zeit, Phantasie bei der Antizipation der Zukunft des eigenen Lebens, die Fähigkeit, mit Widersprüchen zu leben, Einübung in Gelassenheit und anderes mehr. Vgl. ders.: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt 31999, 325-398. Zu jeder dieser "Techniken" wäre von Seiten der christlichen Tradition Substantielles beizutragen.

49) Vgl. P. Bieri, a. a. O. (s. Anm. 4), 381-385.

50) A. a. O., 382.

51) Diese Erfahrungen von Unfreiheit gehen mit unterschiedlichen Erfahrungen der Zeit einher, die bald als fremd oder langweilig, bald als aufgeschoben oder als übersprungen erlebt wird.

52) Vgl. P. Bieri, a. a. O. (s. Anm. 4), 84-126.

53) Zum philosophischen Hintergrund vgl. a. a. O., 381-415.

54) A. a. O., 388. Schon Oskar Pfister verstand Seelsorge im Kern als Erziehung des Wunsches, womit er sich insofern von S. Freud absetzte, als er den (kritisch geläuterten) Wunsch eines Menschen durchaus als eine Form adäquaten Wirklichkeitsbezugs bewertete. Vgl. ders.: Die Illusion einer Zukunft. Eine freundschaftliche Auseinandersetzung mit Prof. Dr. Sigm. Freud, Imago 14 (1928), 149-184. Zur psychologischen Kategorie des "erzogenen Wunsches" vgl. Denis Vasse: Bedürfnis und Wunsch. Eine Psychoanalyse der Welt- und Glaubenserfahrung, Olten-Freiburg 1973. Diese Bezugnahme auf eine tiefenpsychologische Auseinandersetzung macht im Übrigen deutlich, dass das traditionelle Repertoire seelsorgerlicher Arbeit mit der Rezeption praktisch-philosophischer Fragen keineswegs an Bedeutung verliert.

55) Martin Seel: Paradoxien der Erfüllung. Warum das Glück nicht hält, was es verspricht, in: NZZ vom 26./27.10.2002, Nr. 249, 77.

56) Zur Frage nach dem Proprium der Seelsorge im Bezug auf die Grundelemente beratender Gespräche vgl. W. Engemann, a. a. O. (s. Anm. 1), 114-125.

57) Sie können nach Christoph Morgenthaler Ausdruck eines verdeckten Arrangements der an einem System Beteiligten sein, die allerdings durch die Krise dazu herausgefordert werden, die Veränderungen im System wahrzunehmen und sich darüber klar zu werden, ob sie sie wollen können. Vgl. ders.: Systemische Seelsorge. Impulse der Familien- und Systemtherapie für die kirchliche Praxis, Stuttgart-Berlin-Köln 1999, 69.

58) Anknüpfungspunkte bietet auch die transversale Seelsorge, die darauf zielt, Menschen aus der geschichtenlosen Beliebigkeit ihres Daseins herauszuhelfen und sie in ihre eigene, einzigartige Lebensgeschichte - als Teil der Gottesgeschichte - hineinzubegleiten (vgl. Albrecht Grözinger: Geschichtenlos inmitten von Geschichten. Die Erlebnisgesellschaft als Herausforderung für die Seelsorge, in: WzM 48 (1996), 479-487, 487).

59) Zu diesen Grenzen gehören Gegebenheiten aller Art: Die beschränkten Möglichkeiten und Mittel eines Menschen, ebenso nicht vorhandene (oder unentdeckte!) Fähigkeiten. Solche und andere Gegebenheiten machen die Welt eines Menschen erst zu einer bestimmten Welt, in der es Sinn macht, seinen Willen in eine bestimmte Richtung zu lenken und etwas Bestimmtes zu tun. Sie stellen keine Beeinträchtigung seiner Freiheit dar, sondern sind eine Voraussetzung ihrer Gestaltung.