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Ausgabe:

April/2004

Spalte:

347–360

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Brandt, Hermann

Titel/Untertitel:

Zur Inkulturationsdebatte in Brasilien

I. Die wachsende Relevanz des Themas: "Inkulturation" im Spiegel deutschsprachiger Lexika

Der Ausdruck Inkulturation ist erstmals wohl Mitte der 70er Jahre in Dokumenten des Jesuitenordens verwendet worden.1 Er ist im Rahmen der christlichen missionswissenschaftlichen Erwägungen entstanden und bezeichnet, vorläufig gesprochen, das Eingehen des Evangeliums bzw. der Kirche2 in eine bestehende und insofern vorgegebene Kultur. So gesehen sind das Phänomen der Inkulturation bzw. das Bestreben, die christliche Botschaft zu inkulturieren, viel älter als der Begriff Inkulturation.

Wo immer es missionarische oder missionierende Grenzüberschreitungen gab, hat sich das Problem bzw. die Herausforderung der Inkulturation gestellt. Insofern ist es erklärlich, dass das Thema Inkulturation in seinen vielfältigen Aspekten zunächst im Rahmen der Missionswissenschaft, zum Teil sehr differenziert, erörtert wurde.3 Weniger selbstverständlich hingegen ist die Tatsache, dass das Thema Inkulturation über die missionswissenschaftliche Fachliteratur hinaus Eingang in repräsentative gesamt-theologische Lexika gefunden hat. Der folgende Überblick über die Artikel "Inkulturation" in den Neuauflagen von EKL, LThK, RGG und in der TRE - diese Reihung entspricht den Erscheinungsjahren der einschlägigen Bände - zeigt nicht nur die wachsende Tendenz, die Problemaspekte von Inkulturation zu erweitern und zu vertiefen;4 er soll auch als Hintergrund dienen, vor dem dann die spezifischen Aspekte der Inkulturationsdebatte in Brasilien deutlicher herausgearbeitet werden können.

1. EKL

Das EKL, 3. Aufl. (4 Bde., 1986-1996), enthält noch keinen eigenen Artikel zu "Inkulturation", sondern verweist auf den Artikel "Akkulturation" von Heinrich Balz im 1. Band.5 Dieser aus der nordamerikanischen Anthropologie der 30er Jahre des 20. Jh.s stammende Begriff beschreibt ursprünglich Phänomene, die sich bei Kontakten zwischen verschiedenen Kulturen ergeben, und wird von Balz in Beziehung gesetzt zu Begriffen wie Inkulturation (im Sinne von Sozialisation) und freier bzw. unfreier Assimilation, wobei Erstere zum völligen Identitätsverlust führen und Letztere Reaktionen von Widerstand hervorrufen kann. Obgleich der Begriff Inkulturation noch nicht verhandelt wird, bietet der Artikel bereits einen Hinweis auf Probleme, die später unter dem Thema Inkulturation diskutiert werden: Wer ist Subjekt bzw. Objekt von Inkulturation? Ist Inkulturation ein deskriptiver oder normativer Begriff? Zielt Inkulturation auf "Synkretismus"? Wie verhalten sich Evangelium und Kultur(en) zueinander? Und wie verhalten sich die missionarischen und insofern unvermeidlichen Überschreitungen kultureller Grenzen zum Vorwurf, das missionarische Christentum sei kulturzerstörend?

2. LThK

Das LThK, 3. Aufl. (11 Bde., 1993-2001), - der einschlägige 5.Band ist zehn Jahre nach Bd. 1 des EKL3 erschienen - behandelt "Inkulturation" nicht nur explizit, sondern entfaltet das Thema bereits in fünffacher Hinsicht: 1. Begriff und Problemstellung, 2. biblisch-theologisch, 3. missionsgeschichtlich, 4. systematisch-theologisch, 5. praktisch-theologisch.6 Inkulturation erscheint hier also als für die gesamte Theologie relevantes Thema, allerdings zunächst im Wesentlichen zentriert auf katholische Theologie und Kirche. So wird unter "Begriff und Problemstellung"7 auf das wechselseitige Verhältnis zwischen dem Evangelium und der Vielfalt der Kulturen verwiesen, das der Begriff Inkulturation als "missionstheologische Programmatik" zur Sprache bringt, zugleich aber auch auf die Funktion von Inkulturation, nämlich ihrer "Bereicherung für die universale Kirche". Insofern meint Inkulturation einen erwünschten Prozess, in dem das Evangelium nicht nur eine bestimmte kulturelle Gegebenheit spiegelt, sondern sie zugleich inspiriert, prägt und transformiert und damit die Weltkirche bereichert.

Dieses Plädoyer für die Inkulturation enthält auch - wie in seiner Ursprungsgeschichte angelegt - Elemente innerkatholischer Kritik. Denn Inkulturation impliziere die Entwicklung der katholischen Kirche zu einer "multikulturellen Weltkirche", die "ein authentisches afrikanisches, asiatisches, lateinamerikanisches und ozeanisches Christentum" verwirklicht. Das ist eine Zielperspektive, die das Problem der Bestimmung christlicher Identität beinhaltet: Besitzt sie eine sozusagen kulturübergreifende Dimension? Diese Frage richtet sich auch an ältere Konzepte wie z. B. Akkommodation oder Indigenisierung oder an Kontextualisierungsprogramme. Die innerkatholischen Problemanzeigen werden allerdings durch die Wahrnehmung entschränkt, dass die mit den genannten Konzepten angesprochenen Probleme nicht nur das Christentum betreffen, "sondern auch andere Religionen, die über ihren Ursprungsort hinausgehen".8 Damit wird angedeutet, dass es auch miteinander konkurrierende Inkulturationsprozesse verschiedener Religionen geben kann.

3. RGG

Fünf Jahre später als der eben erwähnte Artikel im LThK ist in der RGG, 4. Aufl. (1998-, bisher 6 Bde.), ebenfalls ein eigener Artikel zu Inkulturation erschienen.9 Auch dieser entfaltet das Thema Inkulturation in verschiedenen Perspektiven (systematisch-theologisch, liturgisch, missionswissenschaftlich, ökumenisch).10 Die Besonderheit liegt aber darin, dass Inkulturation zunächst in religionswissenschaftlicher Hinsicht erörtert wird. Religionswissenschaftlich, so Christoffer H. Grundmann, sei es problematisch, von Inkulturation zu sprechen.11 Insofern als Inkulturation "eine konstitutive Bedingung aller [!] interreligiösen Begegnung benennt" und die kulturelle Prägekraft jedes religiösen Bezugs auf Letztgültiges meint, sei der Begriff "religionswissenschaftlich akzeptabel". Falls er jedoch ein "jenseits aller Kulturbedingtheit existierendes absolutes Datum" - wie Evangelium, Tora oder Dhamma - suggeriere, das dann jeweils zu inkulturieren sei, werde "Inkulturation" religionswissenschaftlich problematisch. In diesem Fall wirke sich die christliche, vor allem römisch-katholische Herkunft des Begriffs aus, so dass er dem Verständnis vieler Religionen nicht gerecht werden kann. Dem Verständnis von Inkulturation, so könnte man auch sagen, haftet sein normativer, christlich-missionarischer Charakter an, und es ist Grundmann Recht zu geben, wenn er feststellt, der religionswissenschaftliche Gebrauch des Begriffs Inkulturation sei marginal12 - auch auf diese Problematisierung des Inkulturations-Begriffs durch die Religionswissenschaft wird noch zurückzukommen sein.

4. TRE

Die derzeit jüngste lexikalische Äußerung in der TRE (1977-, bisher 34 Bde.)13 verortet "Inkulturation" eindeutig in der (christlichen) Theologie und steht zwischen den Artikeln "Theo- logie der Befreiung" und "Theologie der Religionen". Die "Theologie der Inkulturation" wird in dreierlei Hinsicht skizziert: "1. Umfeld der Entstehung des Begriffs"; "2. Inkulturation- Kontextualisierung - Interkulturation"; "3. Inkulturierte/kontextuelle Theologien". Inkulturation und Kontextualisierung werden synonym verwendet, wenn z. B. Bibelübersetzun- gen, afrikanische Messen, kreolische Oralität, lateinamerikanischer Tanz, balinesische Kunst "im Dienste der biblischen Botschaft" als "überprüfbare Realisierungen der theoretischen Inkulturations- bzw. Kontextualisierungs-Diskussion" bezeichnet werden.14 Der Begriff der "Interkulturation" steht für "interkulturelle Hermeneutik" als Aufgabe "in der ökumenischen Bewegung", d. h. der wechselseitigen Befruchtung verschiedener christlicher Regional-Theologien.15 Insofern wird Inkulturation als Zielsetzung christlicher Mission und Ökumene bestimmt: "Inkulturation kann als Bemühen lokaler Gemeinschaften definiert werden, die christliche Botschaft in einem gege- benen sozio-kulturellen Umfeld so laut werden zu lassen, dass sich der Glaube auf Sprache, Vorstellungen und Werte dieses Umfeldes bezieht und mit ihnen vermischt, sofern diese mit dem Evangelium zu vereinbaren sind."16 Die genannte Kondition ("sofern ...") überführt "Inkulturation" aus einer bloßen Beschreibung kulturübergreifender Phänomene in eine normative Kategorie christlicher Theologie; auch interkulturelle Hermeneutik bzw. Interkulturation wird dem Kriterium der Vereinbarkeit mit dem Evangelium unterstellt.

Um diesen Überblick über vier lexikalische Äußerungen zusammenzufassen: Sie spiegeln die zunehmende Bedeutung von "Inkulturation" auch hierzulande. Dabei gilt Inkulturation, von Ausnahmen abgesehen, als programmatischer Begriff christlicher Theologie und Praxis. Erkennbar wurden Spannungen: Inkulturation des Evangeliums oder der Kirche? Nicht zuletzt von dieser Spannung und von der ekklesiologischen Frage nach dem Verhältnis zwischen Welt- und Orts-Kirche ist die brasilianische Inkulturationsdebatte geprägt.

II. Exemplarische Positionen brasilianischer Inkulturationstheologen

Dass die Inkulturationsdebatte in Brasilien besonders intensiv und kontrovers geführt wird, soll im Folgenden dargestellt werden anhand von Publikationen der römisch-katholischen Theologen Leonardo Boff, Paulo Suess und José Comblin. Sie zeigen bei allen Unterschieden, dass im katholischen Kontext das Inkulturationsthema eine besondere Brisanz besitzt. Etwas vereinfachend gesagt: Während in der evangelischen Ökumene Fragen der Kontextualität und damit der Hermeneutik im Vordergrund stehen, umfasst "Inkulturation" im katholischen Bereich immer auch die Kirche in ihrer Struktur, als Institution und Organisation. Inkulturation ist nicht auf die Kontextualisierung von Texten beschränkt, sondern tangiert die kirchliche Existenz als Ganze. Insofern lassen sich beim Thema Inkulturation durchaus konfessionell begründete Differenzen wahrnehmen. Es ist kein Zufall, und es prägt die Inkulturationsdebatte in Brasilien, dass und wie die Forderung nach "Inkulturation" erstmals im katholischen Bereich erhoben wurde.



1. Plädoyer für einen Aufbruch zur Katholizität des Katholizismus - Leonardo Boff

Als Eröffnung der Inkulturationsdebatte in Brasilien kann Leonardo Boffs Aufsatz "Plädoyer für den Synkretismus: Aufbruch zur Katholizität des Katholizismus" gelten.17 Nicht ohne polemischen Hintersinn vertritt Boff die These, erst der Synkretismus "produziere" den Katholizismus der Kirche. Zwar verwendet Boff hier den Begriff der Inkulturation noch nicht, aber der Sache nach wird durch die provozierende positive Aufnahme des Synkretismus-Begriffs die Inkulturationsdebatte eröffnet.

a) Die Überlebenskraft einer Religion hängt an ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, sich ihr ursprünglich fremde Elemente "einzuschmelzen" - so wie jeder Organismus nur überlebt, wenn er sich fremde Elemente einverleibt, aufnimmt, was seiner Identität entspricht, und Unverdauliches ausscheidet. "Eine Religion wie das Christentum bewahrt und bereichert ihre Universalität in dem Maße, in dem sie imstande ist, alle Sprachen zu sprechen und sich in alle menschlichen Kulturen hineinzugeben [im Original: sich in sie zu inkarnieren, encarnar-se] und einzuschmelzen".18 Synkretismus ist insofern geradezu Ausweis lebendiger Religion. Die Fähigkeit des Christentums, in einem neuen Kontext seine historische Gestalt zu verändern, garantiert sein Überleben. Nur indem sich das Christentum ständig neuen Synkretisierungsprozessen öffnet, wird es bestehen können, und nur so kann die katholische Kirche wirklich katholisch werden.

b) Daraus folgt für Boff: Synkretismus ist gerade für eine Kirche, die sich als "katholisch" versteht, Wesensmerkmal und immer neue Aufgabe. Gerade hier zeigt sich die kirchenkritische Tendenz, die die brasilianische Inkulturationsdebatte charakterisiert. Denn die Auffassung, das Phänomen des Synkretismus gäbe es nur in anderen Religionen, während das Christentum anti-synkretistisch sei, ist für Boff Ausdruck einer Herrschaftsreligion, die sich in einem "totalisierenden ideologischen19 Diskurs" artikuliert. Eine solche Herrschaftsreligion ist nach Boff der römische Katholizismus, sofern er nichtchristliche Religionen nur als Vorläuferinnen des Christentums und den sog. Volkskatholizismus wie auch die Kirchen der Reformation nur als Abfall ("decadência") vom Katholizismus versteht.20

Theologisch gesprochen kann die Kirche - als religiöse Objektivierung des Glaubens, in ihrer historisch-kulturellen Verfasstheit - niemals mit ihrem Ursprung identifiziert werden. Da das Verhältnis zwischen Evangelium und Kirche zugleich im Sinne von Identität und Nichtidentität zu bestimmen ist, kann keine konkrete Kirchengestalt beanspruchen, die göttliche Botschaft definitiv zu repräsentieren, auch wenn die Kirche dem befreienden Evangelium Raum gibt und insofern die Identität mit ihm wahrt.

c) Die Rede vom Synkretismus der Kirche hat bei Boff eine doppelte Funktion: Einmal erlaubt sie die prinzipielle Unterscheidung zwischen Jesus Christus und der (katholischen) Kirche: Keine der Kirche und ihrer universalen Mission aufgetragene Vermittlung des universalen Evangeliums "ist nur rein und frei von jedem Sündenmakel".21 "Das biblische Judentum und auch die Kirche sind in einem heilig und sündig." "Der Synkretismus, der in jeder religiösen Bekundung steckt, artikuliert nicht nur die Gegenwart der Liebe Gottes, sondern verbirgt, verdrängt und verhindert sie auch, wenn er den Menschen sich in sich selbst verschließen, Vermittlung mit göttlicher Wirklichkeit verwechseln und sich an einen Ritualismus und Legalismus versklaven lässt, die ihn das Wesentliche, Gott und seine Gnade, vergessen machen."22 Positiv gewendet - und das ist die zweite Funktion der Rede vom Synkretismus der Kirche -: Die Forderung nach wirklicher Katholizität der Kirche wird zu einem Plädoyer für das Recht einer lateinamerikanischen Gestalt des Christentums. Der synkretistische Charakter der Kirche ist die Bedingung der Möglichkeit, sich in verschiedenen Kontexten zu inkulturieren: "Zur Katholizität der Kirche gehört die Fähigkeit, sich in den verschiedenen Kulturen eine Gestalt zu geben [encarnar-se], ohne dadurch die Identität zu verlieren. Katholisch-Sein heißt nicht, das kirchliche System ausbreiten, sondern unter den Bedingungen einer bestimmten Kultur den einen Glauben an Jesus Christus, den Erlöser und Befreier, leben und bezeugen zu können."23

Zusammengefasst: Boffs anstößiges Programm eines synkretistischen Katholizismus ist Ausdruck der Forderung nach einer lateinamerikanisch inkulturierten Kirche und Theologie. Der geforderte "neue Synkretismus" impliziert durchaus missionarische und evangelistische Entschlossenheit, die Bekehrung zu Jesus Christus herbeizuführen. Aber dieser missionarische Auftrag setzt die Abkehr vom eigenen ererbten Synkretismus voraus: "Bekehrung ist nur dann möglich, wenn der christliche Glaube die Beherztheit aufbringt, seinem eigenen Synkretismus mit seinen angehäuften kulturellen und theologischen Ruhmestaten [glórias] zu entsagen [renunciar] und einen neuen Synkretismus zu riskieren, der die Werte der afro-brasilianischen Religionen aufnimmt, sie assimiliert, integriert und läutert."24

2. Inkulturation als Grundbegriff
der Befreiungstheologie - Paulo Suess

Im Unterschied zu Leonardo Boff wird "Inkulturation" bei Paulo Suess25 zu einem missions- und befreiungstheologischen Schlüsselbegriff. Aus der Fülle seiner Veröffentlichungen zum Inkulturationsthema ragt sein grundlegender Aufsatz "Inculturação. Desafios - Caminhos - Metas" (= Inkulturation. Herausforderungen - Wege - Ziele) hervor, der 1989 in der prominenten Revista Eclesiástica Brasileira26 veröffentlicht wurde. Er ist, abgesehen von einigen bedauernswerten Kürzungen, identisch mit dem Kapitel "Inkulturation" im (1990 zunächst auf Spanisch erschienenen) Standardwerk Mysterium Liberationis und insofern auch auf Deutsch zugänglich.27

a) Zunächst wird - wenigstens in Europa - der Problemhorizont überraschen, in dem Suess sein Thema entfaltet. Befreiungstheologische Positionen wurden hierzulande oft als Antithesen zu Mission und kirchlichem Lehramt verstanden. Inkulturation wird von Suess durchaus befreiungstheologisch charakterisiert: "Das Ziel der Inkulturation ist die Befreiung, und der Weg der Befreiung ist die Inkulturation."28 Aber er beginnt scheinbar ganz traditionell missionstheologisch: "Eine unermessliche Aufgabe: die Welt als Missionsland".29 Und sein Diskurs lebt geradezu vom Gespräch mit Aussagen des Lehramts, päpstlicher Enzykliken, der Kirchenväter, aus denen er vor allem den Zusammenhang Inkarnation - Inkulturation positiv aufgreift, und des II. Vatikanums. Inkulturation, Mission und Befreiung formen bei Suess gleichsam ein Dreieck; keine kann ohne die beiden anderen bestimmt werden. Diese Zusammenschau bewegt sich deutlich im Rahmen katholischer Positionen und begründet in ihm zugleich verschiedene Forderungen, die ein erhebliches kirchenkritisches Potential enthalten. Dies sei an der Forderung nach der Zulassung von innerkirchlicher Zweisprachigkeit aufgewiesen.

b) Suess sieht eine doppelte Analogie, die zwischen Inkarnation und Inkulturation besteht.30 Beide zielen auf Überwindung der Distanz und damit auf Ermöglichung von Kommunikation- in liebender31 und kritischer Nähe und solidarischer Gleichheit. Und beide anerkennen die Andersheit des Anderen darin, dass sie gerade keine Identifikation mit dem Anderen herbeiführen. Diese überraschende Forderung einer "Nicht-Identifikation mit dem anderen"32 hat ihren Sitz im Leben katholischer Ortskirchen "am Rande", deren Identitäten, sowohl un- tereinander wie im Verhältnis zu Rom, nicht eingeebnet, deren Rechte vielmehr gewahrt werden sollen.

Von hier aus ist das Programm kirchlicher Zweisprachigkeit zu verstehen. Suess zeigt, wie "eingeschränkt" "die kommunikative Kompetenz" der Weltkirche ist, da viele Symbole und Zeichen der "universalen Kirche" außerhalb ihres Zentrums gar nicht oder nicht richtig verstanden werden können. Zur Lösung dieses Problems fordert Suess einen "bilinguismo", eine "Zweisprachigkeit"33, wobei eine "allgemeine Sprache" die Kommunikation in der Weltkirche, und verschiedene "spezielle" Sprachen die Kommunikation in den jeweiligen Ortskirchen ge- währleisten würden. Hierbei wird "Sprache" nicht nur im engeren Sinne (etwa Lateinisch/Brasilianisch) verstanden, sondern soll auch den ganzen Komplex von Liturgie und kirchlicher "Realisierung" umfassen, so dass in der katholischen Weltkirche "jede kulturelle Gruppe ... zwei (oder mehreren) anerkannten Riten angehören [könnte], je nach soziokultureller Gegebenheit und kirchlicher Zweckmäßigkeit".34

c) Dieses Programm schließt die Forderung einer "doppelten" Inkulturation ein. Gerade aus der Perspektive einer Lokalkirche geht es sowohl um die Inkulturation der Verkünder wie um die der Botschaft selbst. Die "Missionare" müssen sich einem lebenslangen Lernprozess unterwerfen, um sich in eine fremde Kultur (z. B. die indianische) inkulturieren zu können, indem sie (s. o.) gerade keine Identifikation mit dem Anderen erstreben, "die dessen Anderssein und Freiheit beseitigen würde".35 Aber zugleich muss auch die verkündete Botschaft inkulturiert werden. Denn keine Kultur kann das göttliche Geheimnis inseiner ganzen Fülle ausdrücken. Wegen ihrer "Bruchstückhaftigkeit" bedürfen die Kulturen ihrer gegenseitigen Ergänzung - nicht etwa weil sie so die Fülle Gottes erfassen könnten (dies bleibt unmöglich), wohl aber um nicht der Versuchung zu erliegen, die je eigene Gotteserfahrung zu verabsolutieren.

d) Paulo Suess hat sein Inkulturationsverständnis in verschiedener Hinsicht weiter differenziert und pointiert.

- Die Zuspitzung des Gegensatzes christliche Kultur - Inkulturation. In einer Analyse der Beschlüsse der 4. Lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Santo Domingo (1993) stellt Suess das Ringen zwischen zwei Paradigmen heraus.36 "Christliche Kultur" stehe - als "Meta- oder Makro-Kultur" - für das Konzept einer alle Kulturen vereinnahmenden Societas perfecta; "Inkulturation" hingegen werde als Ausdruck des Evangeliums im Innern der verschiedenen Kulturen verwendet und bezeichne verschiedene Christentümer und christliche Kulturen in einem ökumenischen Plural. Beide "stellen ganz verschiedene Projekte dar und können nicht harmonisiert werden".37 Das Differenz-Kriterium zwischen beiden besteht für Suess darin, dass unter der Flagge "christliche Kultur" eine Kirche weder eine Bitte um Vergebung noch Bekehrung nötig habe, während Inkulturation im Sinne "inkulturierter Evangelisierung" in einem Akt der Buße zuallererst die Stimme der Anderen, Ausgeschlossenen, mundtot Gemachten höre.

- Inkulturation und Artikulation.38 Inkulturation ist nach Suess nicht denkbar ohne den Freiraum, in dem sich die verschiedenen Kulturen "artikulieren" können. "Das historische Gedächtnis und die Kultur [wörtlich: das kulturelle Inventar] eines jeden Volkes sind die Grundlage der Evangelisierung."39 Dieses Recht auf die Artikulation der je verschiedenen Erfahrungen steht in Spannung zu der Tendenz der Mehrheit, sich als "authentischer" anzusehen als die Minderheiten. Diese Forderung nach freier Artikulationsmöglichkeit konkretisiert Suess in seiner "Verteidigung der indigenen Völker".40 Insofern Inkulturation die Ermöglichung von Artikulation impliziert, enthält Inkulturation konsequenterweise "eine strategische Dimension"- und zwar nach zwei Seiten: Einmal positiv als Eintreten für die Rechte der Kulturen auf ihre je eigene Identität und zweitens als Abwehr innerkirchlicher Strukturen, die eine Abhängigkeit der "Ränder" vom "Zentrum" schaffen bzw. aufrechterhalten.41

- Die Kritik an einer "halben" Inkulturation. Die eben beschriebene Alternative wird von Suess in seinem Aufsatz "Die Auseinandersetzung um die Inkulturation. Kirchliche Normativität und soziopolitische Relevanz"42 noch einmal anders gewendet. Unter Berufung auf lehramtliche Äußerungen seiner Kirche wie auch auf die Praxis der meisten "normalen" Kirchengemeinden kritisiert Suess, Inkulturation werde konzeptionell wie praktisch auf ein Modell von "Adaptation" vergangener Zeiten reduziert, so als solle ein Lager alter Warenbestände verkauft werden. Man weiche den Herausforderungen echter Inkulturation aus und mache sie zu einer Inkulturation "soft" und "light", indem man dem unvermeidlichen "Kulturschock" bei der Begegnung mit den Anderen ausweiche und keine strukturellen Veränderungen des Christentums, vor allem was seine institutionelle Verfassung betrifft, riskiere.43 Eine solche Inkulturation verdient nach Suess aber ihren Namen nicht: Sie ist "Inkulturation auf halbem Weg".44

Zusammenfassend gesagt: Für Suess impliziert das Paradigma der Inkulturation ein Verständnis und eine Praxis der Evangelisierung, die von den Kulturen der Völker und ihrer je eigenen Geschichte ausgehen. Und dies schließt den Wechsel vom Modell des "Ekklesiozentrismus" zu dem des "Alterozentrismus" ein. Diese Wende entspricht "dem einzigen Bruch, den das Evangelium fordert", nämlich dem "Bruch mit der Treulosigkeit gegenüber seinem eigenen Lebensprojekt".45

3. Die Aporien der Inkulturation - José Comblin

Der wohl leidenschaftlichste Beitrag zum Thema - er liest sich streckenweise wie eine Generalabrechnung mit den Inkulturationsbestrebungen der ganzen Kirchengeschichte - stammt von José Comblin46 und wurde 1996 in zwei Teilen in der bereits erwähnten Revista Eclesiástica Brasileira unter dem Titel "Die Aporien in der Inkulturation" veröffentlicht.47

a) Ehe Comblin explizit auf die "Aporien" eingeht, holt er weit aus. Er beginnt mit der Feststellung: "Gegenwärtig wollen alle Katholiken die Inkulturation".48 Alle loben sie "als die große missionarische Neuigkeit": "Konservative und Progressisten, der Papst und die römischen Theologen, die Befreiungstheologen, die Nostalgiker der Christenheit und ihre Gegner". Inkulturation - so Comblins Problemanzeige - sei "zum Begegnungspunkt aller Zweideutigkeiten" geworden.

Ein erster Abschnitt entfaltet - im Gegensatz zur Würdigung der Kulturen (durch das Lehramt, aber auch durch Boff und Suess) - die These: "Die Kultur als Sklaverei". Kultur steht hier für Beherrschung, Unterwerfung, Fremdbestimmung, und zwar nicht nur die griechisch-römische, sondern ebenso die gerade in Lateinamerika vielfach gewürdigte Alternativ-Kultur der Armen: "Die Kultur der Armen macht sie passiv, ängstlich", führt zur Unterwürfigkeit. Wie die ersten Christen (als "Barbaren") ihre Freiheit gerade auf Grund ihrer Ausgeschlossenheit von aller Kultur erfuhren, bestehe die gegenwärtige Herausforderung darin, sich aus den kulturellen Gefängnissen zu befreien. Wenn die Kirche den Völkern eine Kultur gegeben hat, so sei zu fragen: "Hat diese Kultur zur Freiheit oder zur Sklaverei geführt?"49

Was die Kirche und ihre Geschichte betrifft, so stellt Comblin sie vor die Frage: Hat das Evangelium die Priorität gegenüber der Kultur oder umgekehrt?50 Seine Diagnose lautet: Trotz aller Proteste "im Namen des Evangeliums" (und trotz aller bewundernswerten Produkte "christlicher Kultur") herrscht weiterhin die Mentalität der Subordination des Evangeliums unter die Kultur.

Wenn Comblin anschließend "Die Moderne als Gegenkultur"51 beschreibt, so identifiziert er die Reformation mit dem Beginn der Aufklärung: "Die Moderne war zuerst die Freiheit zu denken. Sie begann mit Luther und dem Anspruch der Reformation, die Bibel selbst und nicht vermittels der Lektüre der scholastischen Theologie zu lesen."52 Die Moderne mit ihrem kritischen Geist und ihrer Emanzipation "versuchte zu verwirklichen, was eigentlich die Aufgabe der Kirche war, die sie aber nicht übernahm, weil sie die Annehmlichkeiten einer christlichen Kultur der Notwendigkeit vorzog, jede menschliche Person zu evangelisieren"53 - ein Urteil, das nach Comblin auch die Aussagen des II. Vatikanum über "Kultur" trifft.54

b) Wir begegnen hier einer Position, die von der prinzipiellen Unvereinbarkeit von Evangelium und Kultur auszugehen scheint. Inkulturationsbemühungen sind daher zuallererst daraufhin zu befragen, ob sie sich nicht gerade vom Evangelium entfernen. Jedenfalls sind für Comblin die Scholastisierung der Theologie, die Klerikalisierung der Jüngerschaft Jesu und die Übernahme einer vom Evangelium entfremdenden Kultur Indizien einer Inkulturation, die, statt die Freiheit des Evangeliums gegenüber allen Kulturen zu eröffnen, in ein kulturelles Gefängnis führt. In seinen abschließenden Überlegungen, in denen Comblin explizit auf einige Aporien eingeht, unternimmt er eine theologische Verhältnisbestimmung zwischen Evangelium und Kultur.

c) Comblin benennt vier Aporien, die in der Praxis seiner Kirche begegnen:55

- Wenn die Inkulturation des Evangeliums in verschiedene Kulturen (in Lateinamerika: die der Indios und der Schwarzen) nur innerhalb dieser Kulturen erfolgen kann - und hierin bestehe Übereinstimmung -, dann liege die Aporie darin, dass es bislang nur Weiße, aber keine Indios oder Schwarzen gibt, die sich in diesem Inkulturationsprojekt engagieren. Die Inkulturation müsse von innen heraus geschehen, aber de facto komme sie nach wie vor von außen.56

- Im Blick auf die Inkulturationsdebatte - dieser Gedanke fand sich weder bei Boff noch bei Suess - müsse das Problem des Verhältnisses zwischen Glaube und Werken neu gestellt werden: Die Werke sind Übersetzungen des Glaubens, aber nicht der Glaube selbst. Angewendet auf die Inkulturation: Das Handeln der Christen bringt wohl Kultur hervor, aber die Kultur erlöst nicht; Kultur ist "Werk", das niemals errettet. Die Kultur als "Werk" kann niemals den Glauben hervorbringen, sondern sie ist seine immer neue Folge, und damit immer auch seine Eingrenzung. Wer ausgehend von (s)einer Kultur evangelisieren will, evangelisiert von den kulturellen Konditionierungen des Evangeliums "und nicht vom Evangelium selbst aus".57 Ohne die Wahrung dieser prinzipiellen Differenz zwischen Evangelium (Glaube) und Kultur (Werk) ist alle Inkulturation verfehlt.

- Wo diese Differenz nicht beachtet wird, kommt es bei den meisten "Adepten" der Inkulturation zu einer Beschränkung der Inkulturation auf kulturelle Adaptationen in der Liturgie. Aber "inkulturierte Liturgie" in diesem Sinne ist nahezu belanglos. Denn keine Liturgie - die stets die Subkultur des herrschenden Klerus repräsentiere -, sondern allein der Glaube (der Laien) vermag zu evangelisieren und das "Werk" der Inkulturation hervorzubringen.

- Die Evangelisierung geschehe wohl innerhalb einer Kultur, aber nicht durch sie. Letzteres hieße wiederum, vom kulturell konditionierten Glauben auszugehen, statt vom Evangelium aus zu handeln und "Kultur zu schaffen", und zwar gleichsam als Nebenprodukt des Handelns aus Glauben. Die einzig "wahre", "gültige" Kultur ist also die Folge einer inkulturierten Evangelisierung, d. h. eine in die Bewegung der Befreiung integrierte Evangelisierung. Die Frage "Wahre oder falsche Kultur?" entscheidet sich aus der Perspektive des Evangeliums daran, ob Kultur Selbstzweck ist ("in sich selbst geschlossen"), oder eben "Werk und Ausdruck des Evangeliums". Und was die Armen von heute betreffe: Sie müssten - wie die Christen der ersten Jahrhunderte -, statt sich auf die Kultur der herrschenden Klassen zu fixieren, ihre eigene Kultur schaffen. Wenn man, so Comblin, die Aufgabe, den ausgeschlossenen Menschenmassen zu helfen, sich vom Evangelium her ihre eigene Kultur zu schaffen, als "Inkulturation" bezeichnen wolle, so sei dies völlig in Ordnung. "Dies ist die einzige Bedeutung [von Inkulturation], die durch das Evangelium gerechtfertigt werden kann."58

III. Herausforderungen und Probleme

Die vorgeführten exemplarischen Äußerungen zeigen bei allen Differenzen wesentliche Übereinstimmungen: Inkulturation wird als Ausdruck missionarischer Verantwortung bestimmt, die - von befreiungstheologischem Engagement inspiriert59 - das Eintreten für die Autonomie der indigenen Bevölkerung und der Marginalisierten sowie eine deutliche Kritik am römischen Zentralismus veranlasst. Inkulturation ist daher kein deskriptiver Begriff, sondern eine normative Zielbestimmung, gerade auch in der Forderung nach einer Dezentralisierung der (katholischen) Kirche.

1. Inkulturation als innerkatholisches Problem?

Diese Frage lässt sich angesichts der Debatte (nicht nur) in Brasilien zunächst einmal eindeutig bejahen. Es ist nicht zuletzt die strukturelle Verfassung der "Weltkirche", die den Widerstand vom "Rande" her auslöst und die Visionen einer Autonomie der "Ortskirchen" provoziert. Insofern handelt es sich um eine innerkatholische Debatte.

Protestanten scheinen es hier leichter zu haben, weil sich ihnen dieses katholische Problem so nicht stellt. Wenn überhaupt, dann wird protestantischerseits "Inkulturation" im Rahmen inkulturierter bzw. interkultureller Hermeneutik verhandelt.60 Damit entfallen für evangelische Normaltheologie die Fragen nach der Gestaltungskraft des Evangeliums und der Gestalt der Kirche, die die lateinamerikanische Inkulturationsdebatte geradezu essentiell bestimmen. Während es in ihr durchgängig um die Kirche "als ein Lebensganzes, als eine religiös und kulturell zusammenhängende Gestalt"61 geht, steht in der evangelischen Theologie das Diktum Karl Barths nach wie vor in Geltung, der einzig legitime Streit sei "ganz allein" der "Streit um die Auslegung der Schrift", keinesfalls aber um eine "Morphologie".62 Gerade um "Gestalt"-Fragen geht es aber in der lateinamerikanischen Inkulturationsdebatte. In ihrem Spiegel zeigt sich allerdings: Wo evangelische Theologie sich von dieser Diskussion dispensieren zu können meint, kommt es nicht nur zu einem Verlust der ökumenischen Dimension, zu Provinzialismus und nationaler Enge, sondern auch zur Ausblendung der sichtbaren "Außenseiten" des Glaubens (notae ecclesiae!) aus dem theologischen Diskurs und der kirchlichen Praxis.63 So gesehen handelt es sich bei der Inkulturationsdebatte gerade in ihrer normativen Ausrichtung nicht nur um ein katholisches Problem, sondern um eine Herausforderung an alle christliche Theologie, das Gestaltungspotential des Glaubens zu reflektieren und den "Streit" auch an dieser Front aufzunehmen. Eine Inkulturationsdebatte steht - mutatis mutandis - uns noch bevor.

2. Das Verschwinden der Religionen in den Kulturen

Es gibt allerdings ein - bereits angedeutetes - Problem in der brasilianischen Inkulturationsdebatte. Sie ist, wie gezeigt, missionarisch orientiert; gelegentlich wurde auch von "Strategie" gesprochen. Aber obwohl sie sich durchaus auf eine Situation multireligiöser Präsenz und Konkurrenz bezieht, wird "Inkulturation" so konzipiert, als gäbe es nur verschiedene Kulturen, nicht aber Religionen (anders als in der Missionsliteratur etwa des 19. Jh.s). Diese Subsumierung der Religionen unter die "Kulturen der Völker" mag auf lehramtlichen Vorgaben beruhen.64 Aber sie fällt doch in der brasilianischen Inkulturationsdebatte besonders auf, die sich so intensiv um die Wahrnehmung und Würdigung der "Anderen" bemüht.

So wird einerseits das religiöse Szenario in Lateinamerika realistisch gezeichnet: "Das religiöse Monopol der Christenheit" bzw. "der katholische Kontinent" bestehe nicht mehr, zahllose religiöse Angebote konkurrierten auf dem "religiösen Markt" mit den christlichen Kirchen.65 Doch die Konsequenzen für die Inkulturation werden nicht gezogen: Als Grenzen, die die Mission überwindet, werden genannt: "geographische, soziale, ethnische, geschlechtliche"66 - aber nicht: religiöse! Dieser Verzicht auf die Reflexion des Gegenübers anderer Religionen erweckt somit den Eindruck, die Kirche auf dem religiösen Markt repräsentiere eben doch keine Religion unter anderen; sie hat es scheinbar nur mit verschiedenen Kulturen zu tun. Was "Inkulturation" angesichts anderer Religionen bedeuten könne und solle, wird nicht reflektiert, und dies, obgleich Boff und Suess durchaus Beispiele anführen dafür, dass bei den Inkulturationsbemühungen die Anhänger indianischer oder afrobrasilianischer Religionen ihrerseits die Christen bekehren bzw. die christliche Religion in ihre eigene Religion inkulturieren.67 Wenn man, wie Suess es tat, eine Inkulturation auf "halbem Weg" moniert, so erscheinen die vorgestellten Entwürfe ihrerseits bei einer halben Inkulturation stehen zu bleiben - allerdings in einem anderen Sinne, nämlich dem, dass sie lediglich in Richtung des Christentums auf die Kulturen (= Religionen) denken, die umgekehrte Möglichkeit (und Realität), dass andere Religionen inkulturierende Impulse an das Christentum richten, aber unberücksichtigt lassen.

3. Der Beitrag empirischer Religionswissenschaft

Das eben angedeutete Defizit der Inkulturationsdebatte ließe sich durch die Berücksichtigung empirischer religionswissenschaftlicher Forschungen beheben. So hat z. B. Ina Rösing nachgewiesen, dass katholische Inkulturationstheologen bei der Begegnung zwischen Christentum und Andenreligion einem Trugschluss unterliegen können. Sie berichtet von der Beurteilung von Opfergaben andiner Indios an katholische Heilige durch einen Pater: Er sah in dieser "Umwidmung" der Opfergaben ein Beispiel für eine katholischerseits erwünschte Inkulturation. "Das Katholische bediene sich religiöser Elemente der indianischen Kultur"; es "fasse Fuß im Kern ihrer Kultur". Eben hierin liegt der Trugschluss. Denn "es handelt sich nicht um eine Inkulturation im katholisch gewünschten Sinn - Elemente einer fremden Kultur als Ausdrucksform katholischer Religiosität zu sehen - sondern genau umgekehrt: Das Katholische wird als Sprachformel, als Etikett für zutiefst andine Inhalte verwendet. Nicht der Katholizismus inkulturiert sich, sondern er wird von der Andenreligion exkulturiert ...".68

Wenn christliche Inkulturationstheologie sich auf solche Phänomene einließe, würde dies ernüchternde Konsequenzen haben - und hierin sollte die Theologie einen erwünschten Beitrag empirischer Religionswissenschaft sehen: a) Es dürfte nicht länger die Herausforderung durch andere Religionen dadurch abgeschwächt werden, dass man in ihnen lediglich kulturelle Prägungen, nicht aber religiöse Alternativen sieht. b) Die christliche Binnenperspektive, die nur auf die eigene Inkulturation ausgerichtet ist, würde durch die religionswissenschaftliche Außenperspektive aufgebrochen, wenn Inkulturationen z. B. als synkretistische Phänomene der Religionsgeschichte beschrieben werden.69 Und c) müssten die hohen Erwartungen ermäßigt werden, die, wie seinerzeit mit christlicher Missionsstrategie, so heute mit dem Inkulturationsparadigma verbunden werden. Inkulturationen können eben auch eigene Intentionen konterkarieren, eigene Inkulturationsbemühungen können durch Inkulturationen von außen ins Leere laufen - von der Möglichkeit des Untergangs von Religionen gar nicht zu reden70 -, mit anderen Worten: Die empirische Wahrnehmung interreligiöser Austauschprozesse könnte die (Inkulturations-)Theologie veranlassen, auf das Scheitern und den Misserfolg nicht nur pragmatisch zu reagieren, sondern sie in ihrer theologischen Zentralität neu zu bedenken. Entsprechende Vorgaben hat die re- formatorische Theologie ja bereits geliefert.

Summary

The term "inculturation" had its origin in recent Roman Catholic mission-theology, and has since become a widely accepted concept in Christian theology, broadly spoken. The increasing relevance of "inculturation" is attested by its appearance in the four major German theological encyclopedias (EKL3, LThK3, RGG4 and TRE) (I.). In the debate over inculturation in Brazil the subject is given additional prominence through the positions taken- despite persistent differences - by the theologians Leonardo Boff, Paulo Suess and José Comblin. These disputants contend vigorously for an autonomous Latin American (as opposed to Roman) Christianity and for the nurturing of a liberating culture. (II.) The contribution concludes with a plea for the recognition of the inculturation debate as a challenge to Protestant theology to critically examine the relegation of religions to the status of cultures, and to take into account the empirical conclusions of the scientific study of religion, which indicate a possible failure in the organisation of inculturation programs. This in turn, could contribute to the formulation of a "Theology of Failure" (III.).

Fussnoten:

1) Vgl. z. B. Horst Rzepkowski, Lexikon der Mission, Graz u. a. 1992, 208 f.; Michael Sievernich, Von der Akkomodation zur Inkulturation. Missionarische Leitideen der Gesellschaft Jesu, in: ZMR 2002, 260-276.

2) Zu dieser Differenzierung siehe Theo Sundermeier, Inkulturation und Synkretismus, in: Ev. Theol. 1992, 192-209.

3) Vgl. z. B. Karl Müller, Art. Inkulturation, in: Lexikon missionstheologischer Grundbegriffe, Berlin 1987, 176-180; Missionswissenschaftliches Institut Missio e. V. (Hrsg.), Annotated Bibliography on Inculturation, Aachen 1994 (mit 1815 Titeln); Monika Pankoke-Schenk, Georg Evers (Hrsg.), Inkulturation und Kontextualität. Theologien im weltweiten Austausch (= FS Ludwig Bertsch SJ), Frankfurt/M. 1994.

4) Diese Tendenz ist auch in Publikationen zum Thema Inkulturation nachweisbar, die ich hier nur in Auswahl (und wiederum in zeitlicher Abfolge) nennen, auf die ich aber nicht weiter eingehen kann: Geiko Müller-Fahrenholz u. a., Christentum in Lateinamerika, Regensburg 1992; Konrad Hilpert und Karl-Heinz Ohlig, Der eine Gott in vielen Kulturen. Inkulturation und christliche Gottesvorstellung, Zürich 1993; Edmund Arens (Hg.), Anerkennung der Anderen. Eine theologische Grunddimension in interkultureller Kommunikation, Freiburg u. a. 1995; Michael Sievernich, Dieter Spelthahn (Hrsg.), Fünfhundert Jahre Evangelisierung Lateinamerikas, Frankfurt/M. 1995; Márcio Fabri dos Anjos (Hrsg.), Teologia da inculturação e inculturação da teologia, Petrópolis 1995; Franz Weber, Gewagte Inkulturation, Mainz 1996; José Ramos Regidor, Libertação e Alteridade, in: REB 03/1997, 118-138; Andreas Lienkamp, Christoph Lienkamp (Hrsg.), Die "Identität" des Glaubens in den Kulturen. Das Inkulturationsparadigma auf dem Prüfstand, Würzburg 1997 (vgl. meine Rezension in: ThLZ 123 [1998], 1182-1184); Markus Büker, Befreiende Inkulturation. Paradigma christlicher Praxis. Die Konzeptionen von Paulo Suess und Diego Irarrázaval im Kontext indigener Aufbrüche in Lateinamerika, Freiburg/CH 1999; Pierre Sanchis, Inculturação?, in: Religião e Sociedade, Bd. 20 Nr. 2, 1999, 55-72; Fritz Frei, Inkulturation zwischen Tradition und Modernität, Freiburg/CH 2000; Walter Altmann, Lori Altmann (Hrsg.),
Globalização e Religião: Desafios à Fé, São Leopoldo/Quito 2000; Giancarlo Collet, "... bis an die Grenzen der Erde": Grundfragen heutiger Missionswissenschaft, Freiburg u. a. 2002; Theodor Ahrens, Mission nachdenken, Frankfurt/M. 2002; Stefan Silber, Befreiung des Evangeliums - Befreiung der Kultur. Der Beitrag Juan Luis Segundos zur Theologie der inkulturierten Evangelisierung, in: NZM 2002, 111-130; Ulrich Schoenborn, Dem Glauben auf der Spur. Hermeneutische Streifzüge zwischen Rio de la Plata und Nemunas, Münster u. a. 2003.

5) EKL3, Bd. I, 1986, Sp. 74-76. Vgl. auch Frank Lynch, Art. Akkulturation, in: Lexikon zur Weltmission, Wuppertal-Erlangen 1975, 19 f.

6) Art. Inkulturation, in: LThK3, 5. Bd., 1996, 504-510; Autoren: Giancarlo Collet, Andreas Feldtkeller, Klaus Schatz, Robert J. Schreiter, Thomas H. Groome.

7) Autor: G. Collet.

8) G. Collet, a. a. O.

9) RGG4, Bd. 4, 2001, 144-150.

10) Die betreffenden Autoren: Edmund Arens, Mark R. Francis, Bert Hoedemaker, Franz Wolfinger.

11) A. a. O., 144 f.

12) Der Begriff fehlt im Metzler Lexikon Religion, vgl. aber Anton Quack, Art. Enkulturation/Inkulturation, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart u. a. 1990, Bd. II, 283-289.

13) Klauspeter Blaser, Art. Theologie der Inkulturation, in: TRE, Bd. 33, 2002, 311-317.

14) A. a. O., 313.

15) Ebd.

16) A. a. O., 311.

17) Em favor do sincretismo: a produção da Catolicidade do Catolicismo, in: L. Boff, Igreja: Carisma e poder, 3. Aufl., Petrópolis 1982, 145-171, deutsch: Kirche: Charisma und Macht, 2. Aufl., Düsseldorf 1985, 164-194. Vgl. zu diesem Abschnitt: H. Brandt, Vom Reiz der Mission (= MWF NF, Bd. 18), Neuendettelsau 2003, 122-138.

18) L. Boff, a. a. O. (deutsche Fassung), 168.

19) Das Wort "ideologischen" (im brasilianischen Original: 150) fehlt in der deutschen Übersetzung, vgl. a. a. O., 169.

20) Ebd.; gelegentlich verfällt aber Boff selbst dieser Argumentation, a.a. O., 185.

21) A. a. O., 174.

22) Ebd.

23) A. a. O., 179.

24) A. a. O., 192. Änderungen der deutschen Übersetzung nach dem Original, dort 170.

25) Geb. 1938 in Köln, nach Studien in Europa und Promotion in Münster als Priester langjährige Pastoraltätigkeit in Nordbrasilien, Professor in Manaus und São Paulo, zurzeit u. a. Präsident der International Association for Mission Studies (IAMS).

26) REB, 49. Jg. Heft 49, 1989, 81-126.

27) Ignacio Ellacuría, Jon Sobrino (Hrsg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 2, Luzern 1996, hierin das Kapitel Inkulturation, 1011-1059; hiernach die folgenden Zitate, falls nicht anders vermerkt.

28) A. a. O., 1052.

29) So der Titel des ersten Abschnitts, a. a. O., 1011-1014; im Original allerdings etwas zurückhaltender formuliert, wörtlich: Eine weitreichende Aufgabe: die Welt, Erde der Mission, Original 81 ff.

30) A. a. O., 147-149: "Inkulturation und Inkarnation".

31) Die deutsche Übersetzung "liebenswürdig" (1047) ist unglücklich gewählt.

32) A. a. O., 1047.

33) A. a. O., 1044.

34) Ebd.

35) A. a. O., 1049. Vgl. zu diesem Spannungsverhältnis: Philipp Hauenstein, Fremdheit als Charisma (= MWF NF, Bd. 10), Neuendettelsau 1999.

36) P. Suess, O Esplendor de Deus em Vasos de Barro. Cultura cristã e inculturação nas Conclusões de Santo Domingo [= Der Glanz Gottes in irdenen Gefäßen. Christliche Kultur und Inkulturation] (1993), in: Ders., Evangelizar a partir dos projetos históricos dos outros, São Paulo 1995, 121-144.

37) A. a. O., 142.

38) Vgl. Evangelização e Inculturação, in: Evangelizar ..., 167-193.

39) A. a. O., 191.

40) A. a. O., 195-212.

41) "Die Einheit zu bauen, ohne auf der Identität, also auf der spezifischen Differenz zu bestehen, das hieße, ein Schloß auf Sand zu errichten", a. a. O., 192.

42) A Disputa pela inculturação. Normatividade eclesial e relevância sociopolítica, in: Evangelizar ..., a. a. O., 213-236.

43) A. a. O., 222 f.

44) A. a. O., 222-224.

45) A. a. O., 229. Weitere deutschsprachige Beiträge von Suess sind abgedruckt bzw. nachgewiesen in: Paulo Suess, Weltweit artikuliert, kontextuell verwurzelt, Frankfurt/M.-London 2001.

46) Comblin, 1923 in Brüssel geboren, Priester und Dr. theol. (Löwen), seit 1958 in Lateinamerika (Chile, Ecuador, Brasilien), 1972 aus Brasilien ausgewiesen, 1980 Rückkehr und u. a. Arbeit am Zentrum für missionarische Ausbildung im Bundesstaat Paraíba.

47) J. Comblin, As Aporias da Inculturação, in: REB 1996, Teil 1: 664-684, Teil 2: 903-929.

48) A. a. O., 664.

49) A. a. O., 671.

50) Unter "cristandade" versteht Comblin die Priorität der Kultur vor dem Evangelium; unter "cristianismo" die des Evangeliums vor der Kultur.

51) "A Modernidade como contracultura", a. a. O., 903-909.

52) A. a. O., 906.

53) A. a. O., 908.

54) Vgl. a. a. O., 909-912 ("O Vaticano II e a cultura"). "Die Inkulturation darf kein einziges Element der aktuellen Strukturen oder der Disziplinar-Regeln der Katholischen Kirche infrage stellen", 916. Vgl. hierzu das gerade auf Deutsch erschienene Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie, Bonn (2001) 2003 (= VApS 160), Nr. 91 f.

55) Vgl. a. a. O., 920-926.

56) A. a. O., 920-922.

57) A. a. O., 922 f.

58) Schlusssatz, a. a. O., 929.

59) Vgl. H. Brandt, Befreiungstheologie nach der Wende, in: ThLZ 124 [1999], 963-978.

60) Vgl. das Studienheft: Der Text im Kontext, hrsg. v. EMW, Hamburg 1998, oder Silja Joneleit-Oesch, Miriam Neubert (Hrsg.), Interkulturelle Hermeneutik und lectura popular (= Beiheft zur ÖR, 73), Frankfurt/M. 2002.

61) So Walter Sparn über Werner Elerts Morphologie, in: W. Sparn, Werner Elert, in: Wolf-Dieter Hauschild, Profile des Luthertums, Gütersloh 1998 (159-183), 169.

62) K. Barth, KD I/2, 936.

63) Vgl. hierzu H. Brandt, Wenn Religion - dann Theologie!, Erlangen 2002, 56-61; ders., Vom Reiz der Mission, Neuendettelsau 2003, 52- 54.62-68. "Sichtbarkeit" und "Körperlichkeit" sind thematische Schwerpunkte in: Evangelisches Missionswerk in Deutschland (Hrsg.), Jahresbericht 2002/2003, Thema: Auf dem Weg zu einer befreienden Mission. Ökumenisches Lernen im Gespräch mit Lateinamerika, Hamburg 2003 (als Manuskript veröffentlicht).

64) Suess, in: O Esplendor ... (a. a. O., 130), nennt den "integralen" Kulturbegriff in Gaudium et spes Nr. 53: Kultur werde verstanden als "die besondere Weise, wie die Menschen in einem bestimmten Volk ihre Beziehung zu der Natur, ihre Beziehung untereinander und zu Gott kultivieren".

65) Suess, in: A disputa ..., a. a. O., 222. Vgl. hierzu jetzt: Josef Estermann, Die befreiungstheologische Beurteilung der Volksreligosität im Andenraum, in: NZM 59 (2203), 285-301, bes. 298.

66) A. a. O., 229.

67) Vgl. Boff, Charisma und Macht., a. a. O., 185. Suess erwähnt (Mysterium Liberationis, a. a. O., 1013) die "Überlebensstrategie" vieler Völker: Sie lassen sich taufen, identifizieren sich aber weiterhin mit ihrer Religion. Der anschließende Absatz, der im Original ein konkretes Beispiel schildert (vgl. ders., Inculturação ..., a. a. O., 83), ist in der deutschen Übersetzung weggelassen worden.

68) Ina Rösing, Die heidnischen Katholiken und das Vaterunser im Rückwärtsgang. Zum Verhältnis von Christentum und Andenreligion, Heidelberg 2001, 60 ff.; dort auch eine Fülle weiterer Belege für diese Umkehrung. Ähnliche Austauschprozesse bei Wahrung der jeweiligen religiösen Identitäten habe ich aufgewiesen in: Die hl. Barbara in Brasilien. Kulturtransfer und Synkretismus, Erlangen 2003. Zur Verhältnisbestimmung von Synkretismus und Inkulturation vgl. Theo Sundermeier, Synkretismus und Religionsgeschichte, und Ulrich Berner, Synkretismus und Inkulturation, in: Hermann P. Siller (Hrsg.), Suchbewegungen, Darmstadt 1991, 95-105 bzw. 130-144.

69) Also nicht im Sinne eines normativen Synkretismus wie bei Boff oder einer normativen Inkulturation wie bei Suess und Comblin, sondern als Synkretismus im Sinne einer empirischen und deskriptiven Kategorie, wie z. B. bei Michael Pye, Art. Synkretismus, in: Metzler Lexikon Religion, Bd. III, 416-428; vgl. auch Ervino Schmidt u. Walter Altmann (Hrsg.), Inculturação e Sincretismo, Porto Alegre 1995.

70) Vgl. Hartmut Zinser (Hrsg.), Der Untergang von Religionen, Berlin 1986.