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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

123–134

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Härle , Wilfried

Titel/Untertitel:

Die gewinnende Kraft des Guten

Ansatz einer evangelischen Ethik1

Meine Überlegungen zum Ansatz einer evangelischen Ethik möchte ich mit einer kurzen Verständigung darüber beginnen, was überhaupt unter "Ethik" zu verstehen ist. Es wird sich im Verlauf meiner Ausführungen mehrfach als notwendig erweisen, darauf zurückzukommen. Deswegen stelle ich diese kurze Vorüberlegung begrifflicher Art voran.

Ich gehe davon aus, dass der Begriff "Ethik" seit seiner Prägung durch Aristoteles die kritische Reflexion, im engeren Sinn: die wissenschaftliche Reflexion bezeichnet, die sich auf gelebtes Ethos in einer menschlichen Gemeinschaft und bei einzelnen Menschen bezieht. Unter "Ethos" wiederum verstehe ich den Inbegriff der Regeln, d. h. der prinzipiellen und situationsbezogenen Orientierungen für menschliches Handeln und Verhalten unter der Leitdifferenz "gut/böse" bzw. "richtig/falsch".

Von anderen Regeln unterscheiden sich die des Ethos dadurch, dass sie einerseits universale Gültigkeit - für alle Menschen - beanspruchen, andererseits nur Geltung beanspruchen auf Grund von Einsicht, und nicht z. B. auf Grund von vorgegebener Autorität oder in Aussicht gestellter bzw. angedrohter Sanktionen. Das Letztere unterscheidet die Ethos-Regeln von den Regeln des Rechts. Der universale Geltungsanspruch unterscheidet sie hingegen von den Regeln der Sitte, des Brauchtums und von individuellen Willensvorsätzen, also von den so genannten Maximen.

Die abendländische wissenschaftliche Ethik beginnt bei Platon und Aristoteles als Tugendethik. Dabei wird unter einer Tugend ein ethisch positiv qualifizierter, also dem Guten dienender Habitus verstanden. Das ist für uns heute nicht ohne weiteres verständlich, weil wir unter dem Begriff "Habitus" eher so etwas wie ein "Gehabe" verstehen, also eine in der Regel als unangenehm empfundene Form der Selbstdarstellung und -präsentation. Der lateinische Begriff "habitus" und der ihm zu Grunde liegende griechische Begriff "exis" bezeichnet etwas ganz anderes: nämlich eine Verhaltensdisposition, d. h. eine zuverlässig erwartbare Fähigkeit und Bereitschaft, sich in entsprechenden Handlungssituationen ethisch positiv qualifiziert zu verhalten, z.B. besonnen, tapfer, weise, gerecht.

Damit habe ich auch schon die vier Kardinaltugenden genannt, die insbesondere durch Platon der Tugendlehre von Anfang an implantiert wurden. Dabei ist das Großartige an diesem Modell der vier Kardinaltugenden, dass sie sowohl als soziales wie als individuelles Modell der Verhaltensorientierung gedacht sind und sich darum gleichermaßen auf gesellschaftliche wie individuelle Grundbedürfnisse und Grundfähigkeiten anwenden lassen. Dem platonischen Modell der drei grundlegenden Tugenden: Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit, die durch die vierte Tugend, die Gerechtigkeit, sozial und individuell ins rechte Verhältnis zueinander gebracht werden, hat Aristoteles den Gedanken angefügt, dass Tugend stets die rechte Mitte zwischen zwei Extremen sei. Bei einigen Tugenden lässt sich das gut plausibel machen: So ist Tapferkeit wohl tatsächlich die rechte Mitte zwischen Feigheit und Waghalsigkeit, und Freigebigkeit die rechte Mitte zwischen Geiz und Verschwendungssucht. Aber bei Weisheit und Gerechtigkeit ist es ungleich schwerer, die Extreme aufzuweisen, zwischen denen diese Tugenden die rechte Mitte bilden sollen. Insgesamt war es wohl kein so besonders erleuchteter Gedanke, den Aristoteles damit dem Tugendkonzept der Ethik hinzugefügt hat, zumal das Ethos dadurch leicht etwas Moderiertes, um nicht zu sagen, Mittelmäßiges erhält.

Das wird auch deutlich, wenn man den Blick auf die christlichen Formen der Aufnahme und Weiterentwicklung der Tugendethik richtet, für die vor allem Thomas von Aquino steht, bei dem "Glaube, Hoffnung und Liebe" (1Kor 13,13) die christlichen bzw. theologischen Tugenden sind, durch die die Kardinaltugenden der griechischen Antike noch einmal überboten werden. Für sie gilt jedenfalls nicht, dass sie die Mitte zwischen Extremen darstellen.

Das Positive und Wichtige am Konzept der Tugendethik, also dessen Stärke ist m. E. ihr konstitutiver Bezug zum tatsächlichen Handeln und Verhalten des Menschen in der Gesellschaft. In Vorwegnahme des berühmten Diktums von Erich Kästner: "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es" bindet die Tugendethik - vermittelt durch den Gedanken der Tugend als positiver Verhaltensdisposition - die ethische Reflexion so eng und unauflösbar an das konkrete Handeln und Sich-Verhalten, wie man das nur wünschen kann.

Gleichwohl hat die Tugendethik auch eine große Schwäche: Alle Kardinaltugenden, ja vielleicht sogar alle Tugenden überhaupt - vermutlich mit der einzigen Ausnahme der Liebe im Sinne der Agape - können in den Dienst des Bösen gestellt werden und es so (möglicherweise wider Willen) befördern. An der Tugend der Tapferkeit lässt sich das am leichtesten nachweisen, aber es gilt wohl generell. Und dies ist ein gravierender Einwand und Vorbehalt gegenüber jeder Tugendethik. Sie bedarf selbst erst noch einer ethischen Überprüfung und Vergewisserung.

Durch den Verweis auf 1Kor 13,13 haben wir schon einen kurzen Blick auf die biblische Überlieferung - zunächst in tugendethischer Perspektive - geworfen. Und man kann durchaus fragen, ob nicht auch andere ethische Überlieferungselemente aus der Bibel einem solchen tugendethischen Konzept zugeordnet werden könnten. Ich denke z. B. an den schönen Satz aus Micha 6,8: "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott". Zumindest für "Liebe üben" und "demütig sein" ist eine tugendethische Interpretation nicht abwegig.

Und doch wird auch in einem solchen Satz deutlich, dass die ethische Grundkonzeption der Bibel mit dem Begriff "Tugend" nur unzureichend erfasst ist; denn darin kommt noch nicht zum Ausdruck, dass das Gute dasjenige ist, "was der Herr von dir fordert", um es mit Micha zu formulieren. Die für die Bibel charakteristische Form, in der das ethisch Gute artikuliert wird, ist darum nicht so sehr der Tugend- bzw. Lasterkatalog, sondern eher das Gebot bzw. die Gebotsreihe, wie wir sie exemplarisch als Dekalog, als Goldene Regel, als Doppelgebot der Liebe und aus den neutestamentlichen Paränesen kennen. Hier wird das ethisch Gute nicht an eine Verhaltensdisposition geknüpft, sondern an eine Willenskundgebung Gottes, die gebietenden Charakter hat.

Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass die Verbindlichkeit und universale Gültigkeit des Ethischen in ihr ganz unübersehbar zum Ausdruck kommt. Freilich ist dies nur die positive Kehrseite der Schwäche, die mit jeder Gebotsethik verbunden ist: Sie tendiert in Richtung einer Heteronomie, also einer Fremdbestimmung, bei der nicht oder jedenfalls nicht deutlich zum Ausdruck kommt, dass das ethisch Gute nur dasjenige sein kann, was vom Handelnden selbst als solches erkannt und eingesehen wird.

Ob und in welchem Maße diese Gefahr akut wird und damit das Ethos in eine irreführende Nähe zur Rechtsordnung gerät, hängt letztlich von dem dabei vorausgesetzten Gottesverständnis ab. Ist dies durch die Kategorie "Heteronomie" angemessen erfasst? Wäre ein "Gott", der als "Anderes", "Fremdes" gegenüber Welt und Mensch gedacht wird, nicht im Sinne von Hegels "schlechter Unendlichkeit" ein begrenztes, gerade nicht göttliches Wesen? Die von Tillich in diesem Zusammenhang stark gemachte Rede von der "Theonomie", in der Autonomie und Heteronomie sowohl integriert als auch transzendiert sind, ist hier zweifellos angemessener und gegenüber den genannten Missverständnissen und Gefahren weniger anfällig.

In diese Richtung weist auch der Ansatz der Kant'schen Ethik, die - als Pflichtethik - mit dieser Kategorie der Gebotsethik eng zusammengehört. Ich werde diesen Ethiktypus deshalb künftig- im Anschluss an die philosophische Tradition - zusammenfassend als "Pflichtethik" bezeichnen. Dabei versucht Kant, die drohende Gefahr der Fremdbestimmung dadurch zu vermeiden, dass er als gebietende Instanz nicht irgendeine externe Größe, sondern die im ethischen Subjekt waltende sittliche Vernunft selbst ansetzt.

Dieser ethische Denkansatz hat in den letzten zweihundert Jahren für viele Menschen die Bedeutung eines "ethischen Königswegs" bekommen, weil es hier gelungen zu sein schien, Allgemeingültigkeit und subjektive Einsicht nicht nur widerspruchsfrei, sondern sogar unauflöslich miteinander zu verbinden. Dabei ist jedoch gelegentlich übersehen worden, dass Kants ethischer Ansatz mehr verspricht, als er tatsächlich leisten kann. Der kategorische Imperativ Kants besagt, dass wir nur nach solchen Regeln handeln sollen, von denen wir zugleich wollen können, dass sie Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung wären (d. h. also, dass alle Menschen verpflichtet wären, ebenso zu handeln). Dieser kategorische Imperativ lässt sich aber auf unbegrenzt viele Nonsens-Regeln anwenden, die diesen Test bestehen, ohne deswegen im Mindesten zu einer ethisch verbindlichen Norm zu werden. D. h.: Kants kategorischer Imperativ nennt zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung zur Formulierung gültiger ethischer Normen.

Wo Kant selbst in seinen Argumentationen und Beispielen zu solchen hinreichenden Normen und damit zu ethischen Entscheidungen kommt (z. B. gegen die Notlüge, gegen den Suizid, für die Nothilfe oder für die Ausbildung der eigenen Anlagen und Fähigkeiten), da gelingt ihm dies stets nur unter implizitem Rückgriff auf anthropologische Prämissen, die ihrerseits nicht aus dem kategorischen Imperativ ableitbar sind, sondern bei dessen Anwendung vorausgesetzt werden müssen. Anders gesagt: Kants Ethik ist de facto viel stärker von inhaltlichen anthropologischen bzw. metaphysischen Vorannahmen abhängig, als dies aus seinem Programm hervorgeht und gemeinhin bewusst ist.

Die dritte ethische Grundkonzeption, die ich hier kurz nennen möchte, ist die Güterethik, unter die man auch die Wertethik subsumieren kann. Sie nimmt genau das programmatisch und offen auf, was bei Kant und der von ihm geprägten Ethik nur implizit vorhanden ist und gewissermaßen verdeckt mitläuft: die Orientierung an Zielvorstellungen vom Glück, vom guten Leben, vom gesellschaftlichen Nutzen und Fortschritt, an denen sich entscheidet, was im ethischen Sinne "gut" oder "richtig" zu heißen verdient. Auch diese Ethikkonzeption reicht - etwa in Gestalt des Eudämonismus - bis in die abendländische Antike zurück, hat ihre Blütezeit aber in der englischsprachigen Aufklärung, im Empirismus und Pragmatismus erreicht und bildet heute wohl in Gestalt des Utilitarismus eine der gängigsten und attraktivsten Ethikkonzeptionen.

Charakteristisch für diesen Ansatz ist der Gedanke, dass das ethisch Positive den Charakter eines Zieles hat, das - als ein Gut oder als ein Wert - anzustreben und insofern erst noch zu verwirklichen ist. Im Unterschied zur Pflichtethik ist hier nicht das Woher, sondern das Wohin und das Wozu der ethischen Forderung maßgeblich. Deswegen spielen hier vor allem die Abschätzung der Folgen - einschließlich der unbeabsichtigten und unerwünschten Nebenfolgen - von geplanten oder vollzogenen Handlungen eine für die ethische Urteilsbildung und Bewertung maßgebliche Rolle.

Auch diese Konzeption hat eine große Stärke: Es erscheint für die meisten Menschen als unmittelbar einleuchtend und einsichtig, dass geplante oder vollzogene Handlungen (auch) in ethischer Hinsicht anhand des Maßstabs beurteilt werden, welche positiven oder negativen Folgen bzw. Ergebnisse sie für die von der Handlung Betroffenen hervorrufen. Ja, es scheint geradezu der Inbegriff ethischer Verantwortlichkeit zu sein, sein Verhalten anhand dieses Maßstabs zu überprüfen.

Gleichwohl begegnet auch diese Konzeption einer Reihe von Einwänden, von denen sich einige auf die Bestimmung des ethischen Ziels beziehen (Ist es Glück, Lust, Erkenntnis, Nutzen etc.?), andere auf die Frage, ob und wie denn positive und negative Folgen gegeneinander abgewogen werden können, zumal, wenn es sich nicht nur um quantifizierbare Folgen, sondern um qualitative Differenzen, z. B. zwischen kulinarischen, künstlerischen, intellektuellen oder religiösen Glückserfahrungen handelt. Der grundlegendste Einwand wird jedoch in der Tradition der Kant'schen Ethik erhoben und zielt darauf, dass in solchen teleologischen Konzeptionen das ethisch Gute de facto abhängig gemacht werde von etwas außerethisch Gutem und damit seiner Eigenständigkeit beraubt werde.

Drei Grundkonzeptionen der Ethik: Tugendethik, Pflichtethik und Güterethik haben wir kurz betrachtet und beurteilt, und dabei ergab sich jeweils neben einer großen Stärke auch zumindest ein deutliches Defizit. Was folgt daraus? Muss man zwischen diesen drei Ansätzen wählen und nach dem Ansatz suchen, der den größten Gewinn und die geringsten Nachteile verspricht? Oder lassen sich diese drei Ansätze in irgendeiner Form miteinander verbinden, zu einer Synthese führen oder in einem integrierten Konzept aufheben?

Ich nähere mich der Beantwortung dieser Frage so an, dass ich zunächst einen Blick auf das Verhältnis dieser drei Konzeptionen zueinander richte und frage, ob und inwieweit die jeweiligen Stärken der beiden anderen Konzeptionen aufgenommen und integriert werden können.

Beginnen wir zunächst mit der Tugendethik, so lässt sich jedenfalls sagen, es sei selbst eine Tugend, die Gebote Gottes oder die Imperative der sittlichen Vernunft zu befolgen, und es sei ebenfalls eine Tugend, bei allem Handeln die beabsichtigten und unbeabsichtigten, erwünschten und unerwünschten Folgen soweit wie möglich abzuschätzen und das Ergebnis in die Entscheidung über eine geplante oder in die Bewertung einer vollzogenen Handlung einzubeziehen. Es scheint also möglich zu sein, die positiven Leistungen der Pflichtethik und der Güterethik als Tugenden zu interpretieren und so in die Tugendethik zu integrieren.

Stellen wir uns auf den Standpunkt der Pflichtethik, so ließe sich unschwer sagen, es sei ein verpflichtendes ethisches Gebot, positive Verhaltensdispositionen, also Tugenden auszubilden, zu entwickeln und zu pflegen, und es sei ebenfalls ein ethisch verpflichtendes Gebot, die Folgenabschätzung in die Entscheidung über die ethische Qualität einer geplanten oder vollzogenen Handlung einzubeziehen. D. h. aber: Die Wahrheitsmomente oder Stärken der Tugend- und Güterethik lassen sich als Gebote oder Pflichten interpretieren und so unschwer in die Pflichtethik integrieren.

Stellen wir uns schließlich auf den Standpunkt einer Güterethik, so ergibt sich dasselbe Bild. Man kann sagen: Es ist ein ethisches Gut, positive Verhaltensdispositionen, also Tugenden, zu entwickeln und zu pflegen, und es ist ebenfalls ein ethisches Gut, die Gebote Gottes sowie die durch die sittliche Vernunft vorgeschriebenen Pflichten zu achten und zu befolgen. Die positiven Elemente der Tugend- und Pflichtethik lassen sich also auch ohne Probleme als Güter oder Werte interpretieren und so in eine Güterethik integrieren.

Und nun? Was folgt daraus? Es folgt daraus keineswegs, dass die Unterschiede zwischen den drei skizzierten ethischen Konzeptionen verschwinden. Jede dieser Konzeptionen behält ihre eigene Charakteristik und Färbung, ihre besondere Akzentsetzung und Leistungsfähigkeit und auch ihre spezifische Schwäche und Anfälligkeit. Aber wenn es so ist, dass die jeweils anderen Elemente wechselseitig integriert werden, dann kann es sich bei diesen Konzeptionen nicht um Gegensätze oder Alternativen handeln, sondern nur um unterschiedliche Aspekte an den je einheitlichen, ganzheitlichen Phänomenen Ethos und Ethik.

Wenn ich es recht sehe, war es wohl Friedrich Schleiermacher, der als erster zu dieser Einsicht kam und sie klar formuliert hat: "Wenn alle Güter gegeben sind, müssen auch alle Tugenden und alle Pflichten mitgesezt sein; wenn alle Tugenden, dann auch alle Güter und Pflichten; wenn alle Pflichten, dann auch alle Tugenden und Güter"2. Schleiermacher zeigt auch in diesen Ethikfragmenten auf, welche Bezüge die einzelnen Aspekte der Ethik haben, auf welche Seite des Ethischen sie sich vor allem beziehen und worin ihre je spezifische Leistungsfähigkeit besteht.

Mit diesem integrativen Konzept könnte man den Streit zwischen den unterschiedlichen ethischen Konzeptionen für beendet erklären, wenn sich nicht im Blick auf das so integrierte Ganze erneut die Frage stellen würde, was für eine ethische Konzeption das nun sei. Hat insgeheim einer der drei Aspekte damit die Oberhand gewonnen über die beiden anderen oder sind sie tatsächlich aufgehoben in einem Gemeinsamen, das gegenüber diesen drei Konzeptionen ein Neues, ein Viertes darstellt?

Ich möchte im Folgenden einen Vorschlag machen und zur Diskussion stellen, indem ich die gemeinsame Konzeption, in die die unterschiedlichen Aspekte integriert sind, dadurch zu erfassen versuche, dass ich sie als ethische Konzeption in den Blick nehme; denn das ist ja das Gemeinsame, das sie verbindet. Zu dem, was damit gemeint ist, habe ich eingangs bereits Hinweise gegeben: Ethos und Ethik unterscheiden sich dadurch von anderen Regeln - z. B. denen der Sitte oder des Rechts -, dass sie zwar universale Geltung beanspruchen, aber nur auf Grund von Einsicht. Auf dieses Moment der Einsicht kommt es mir nun vor allem an. Dabei bezieht sich Einsicht nicht nur auf etwas, was wir selbst erfunden haben, was sich also unserer Kreativität verdankt, sondern häufig auch auf Vorstellungen, die wir antreffen, vorfinden, entdecken, denen wir also begegnen. Und nun geht es in der Ethik insgesamt um die Gewinnung einer verhaltensorientierenden Vorstellung, die uns einsichtig wird und einleuchtet als ein Bild vom guten Leben, nicht nur für uns selbst und unseren Nächsten, sondern grundsätzlich für alle Menschen, ja für alle Geschöpfe. In der Sprache der ethischen Tradition handelt es sich um Vorstellungen vom höchsten Gut. Und hierfür greife ich den heute viel gebrauchten Begriff "Leitbild" auf und nenne die durch Integration entstandene Verbindung der drei ethischen Konzeptionen eine sich am Leitbild des guten Lebens orientierende Ethik oder kurz: eine Leitbildethik.

In seiner Abhandlung über die "Bildung von ethischen Vorzüglichkeitsurteilen" hat Eilert Herms3 hierfür schon im Jahr 1979 den Ausdruck vision of life vorgeschlagen, und er hat die Auffassung vertreten, dass der Bildung jedes ethischen Urteils - bewusst oder unbewusst - eine solche vision of life zu Grunde liege. Ich empfinde das als eine sachlich wichtige Einsicht und eine glückliche begriffliche Formulierung. Und wenn ich hier von einem "Leitbild" spreche, so meine ich genau eine solche vision of life, die nicht etwas Visionäres oder Utopisches meint, sondern die Zielvorstellung von der "Bestimmung des Menschen" (J. J. Spalding) oder - in der Sprache unserer Zeit - vom gelingenden Leben,4 an der sich das ethische Urteilen und Handeln orientieren kann und soll. Dabei ist durchaus mit der Möglichkeit - und Notwendigkeit - zu rechnen, dass es nicht nur Leitbilder gibt, die eine umfassende Lebensvision darstellen, sondern auch solche, die sich auf bestimmte Bereiche, Aspekte oder Abschnitte des Lebens beziehen, z. B. auf die Familie, das Studium, den Beruf, die Partnerschaft, den Ruhestand etc. Das wäre dann ein Leitbild in kleiner Münze, die bekanntlich im alltäglichen Zahlungsverkehr oft nützlicher ist als der große Geldschein, den niemand wechseln kann und dessen Echtheit eher skeptisch beurteilt wird.5

Um die Spezifika dieses Konzepts in Grundzügen zu skizzieren, setze ich so ein, dass ich noch einmal einen Blick auf die Schwächen bzw. Kritikpunkte der drei Konzeptionen richte und zu zeigen versuche, dass und inwiefern sie möglicherweise im Konzept einer Leitbildethik überwunden werden können.

Im Blick auf die Tugendethik lautete der entscheidende Einwand: Tugenden können für Ziele eingesetzt und missbraucht werden, durch die sie selbst zum Instrument für das Böse werden. Diese berechtigte Kritik oder Warnung veranlasst von sich selbst her zu der Suche nach ethischen Zielvorstellungen, die ihrerseits als "gut" und zwar als "in sich gut" bezeichnet werden können. Tugenden, die von daher abgeleitet und begründet werden, fallen nicht mehr unter die Kritik der Missbrauchbarkeit und Funktionalisierung, sondern erweisen sich überhaupt erst durch ihre Orientierung an dem Leitbild guten menschlichen Lebens als Tugenden. Was Tugend und was Laster ist, entscheidet sich anhand des vorausgesetzten Leitbildes, anhand der vorausgesetzten vision of life.

Auch die Schwäche der Pflichtethik lässt sich m. E. mit Hilfe des Konzepts einer Leitbildethik vermeiden bzw. überwinden. Lautete dort der Einwand, dass die Pflichtethik entweder zur Heteronomie tendiere oder wegen ihres Formalismus inhaltlich unzureichend bleibe (weil sie bloß notwendige, aber keine hinreichenden Kriterien benenne), so verschwindet dieser zweifache Einwand im Blick auf eine Leitbildethik. Das ist freilich nur dann der Fall, wenn unter einem Leitbild nicht das verstanden wird, was einem Menschen oder einer Menschengruppe von einer fremden Instanz vorgegeben oder oktroyiert wird - wie das heute teilweise bei der Formulierung und Durchsetzung von Leitbildern in Wirtschaft und Kirche der Fall ist -, sondern wenn als Leitbild nur diejenige vision of life in Betracht kommt, die einem Menschen selbst überzeugend und einsichtig geworden ist. Im Blick auf ein so verstandenes Leitbild löst sich der Einwand der Fremdbestimmung ebenso auf wie der Einwand der Inhaltslosigkeit, weil das Leitbild ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass ein bestimmtes, konkretes Verständnis von der Bestimmung des Menschen für eine Person Überzeugungskraft und damit Verbindlichkeit gewonnen hat.

Aber zeigt sich nicht spätestens hier, dass das Konzept der Leitbildethik zumindest eine so große Nähe zur Güterethik hat, dass der Einwand, der - vor allem von Kant her - gegenüber der Güterethik zu erheben war, deshalb auch die Leitbildethik voll trifft? Und zeigt sich von daher nicht, dass "Leitbildethik" möglicherweise nur ein etwas anderer Name für eine Güterethik ist?

Was die letztgenannte Frage anbelangt, will ich sofort einräumen, dass zwischen beidem eine starke Nähe und Affinität besteht. Der entscheidende Unterschied liegt für mich darin, dass in die skizzierte Leitbildethik die wichtigen Anliegen und positiven Elemente der Tugend- und Pflichtethik integriert sind. Aber das ändert nichts daran, dass eine Leitbildethik dem Konzept der Güterethik durchaus verwandt ist. Und ihr gegenüber war - mit Kant - der Einwand zu erheben, dass hier das ethisch Gute abhängig werde vom außerethisch Guten, z. B. von Glück, Lust, Nutzen, Erkenntnis etc. oder in meinem Fall nun eben: von der Bestimmung des Menschen bzw. von der vision of life.

Würde ich versuchen, diesen Einwand dadurch zu entkräften, dass ich sage, das ethische Leitbild sei selbst ein ethisches Gut, so wäre das zwar nicht ganz falsch, würde aber nicht wirklich weiterhelfen; denn einerseits gerate ich damit in einen logischen Zirkel, was zumindest als unbefriedigend zu bezeichnen ist, andererseits, und das ist mir noch wichtiger, würde ich damit dem nicht wirklich gerecht, was die Begriffe "Leitbild", "Bestimmung des Menschen" oder "vision of life" meinen. Hierbei geht es ja um mehr und etwas anderes als um das, was Menschen durch ihr ethisches Tun oder Verhalten bewerkstelligen oder herbeiführen können. Es geht immer auch und vorrangig um das, was ihnen zuteil wird, was ihnen zugedacht ist und was ihnen zugesagt und verheißen ist.

Dass ich hier auf einen religiösen Begriff wie "Verheißung" rekurriere, ist keineswegs zufällig. Die Rede von der "Bestimmung des Menschen" oder von der "vision of life" ist tatsächlich eine religiöse bzw. weltanschauliche Kategorie, die das Ethische zwar nicht aus-, sondern einschließt, im Ethischen aber nicht aufgeht, sondern es transzendiert.

Versteht man Ethik in diesem Sinn als Leitbildethik, so setzt sie mehr voraus, als durch menschliches Handeln und Verhalten erreicht oder verwirklicht werden kann und soll, denn sie orientiert sich an dem, was dem Menschen als heilvolle Bestimmung seines Daseins zugedacht ist, und fragt danach, welche Konsequenzen für das Tun und Verhalten sich aus dieser Verheißung für den Menschen ergeben.

Dass damit das Ethische seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit verliert und in die Abhängigkeit von Religion oder Metaphysik gerät, ist richtig. Aber es ist m. E. auch sachgemäß. Ich bin der Überzeugung,6 dass jede normative Ethik auf solche weltanschaulich-religiösen Voraussetzungen angewiesen ist, wenn sie überhaupt zu inhaltlichen Aussagen kommen will. Es ist mir auch in theologischer Hinsicht immer eindrücklicher und wichtiger geworden, dass das Ethische, in dem es um unser Tun und Verhalten geht, keine letzte, sondern gemessen an unserem Dasein und unserer Bestimmung eine vorletzte Größe und Wirklichkeit ist. Wie sonst sollte auch nur der Gedanke der Vergebung und der Rechtfertigung durch den Glauben gedacht werden können?

Insoweit scheint das Konzept der mir vorschwebenden Leitbildethik in der Lage zu sein, sowohl die Stärken der drei skizzierten Konzeptionen zu integrieren als auch ihre Schwächen und Gefahren zu vermeiden. Aber es gibt einen zusätzlichen Einwand, der sich gegen das Konzept der Leitbildethik richten kann, den ich nun formulieren und aufnehmen möchte: Wenn in dem hier vorgetragenen Sinne als ethisches Leitbild nur das fungiert, was Menschen als solches Leitbild einleuchtet, sie überzeugt und gewinnt, wie ist dann mit den Situationen und mit den Personen umzugehen, bei denen deutlich wird, dass das Leitbild, an dem sie sich orientieren, gerade nicht geeignet ist, ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen, sondern etwa durch Egoismus, Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit sozial und individuell zerstörerische Konsequenzen zu produzieren?

Mit dieser Möglichkeit muss als einer Realität gerechnet werden. Wir alle wissen, dass es Anteile davon nicht nur in irgendwelchen asozialen, vom Leben benachteiligten oder verwahrlosten Randgestalten gibt, sondern dass Elemente solcher Leitbilder zumindest gelegentlich bei fast allen Menschen auftauchen und wirksam werden. Aber man muss zunächst sehen, dass dies nichts ist, was einen spezifischen Einwand gegen die von mir skizzierte Leitbildethik darstellt, sondern was jedes ethische Konzept betrifft, das davon ausgeht, dass das Ethos - im Unterschied zum Recht - auf Einsicht basiert bzw. an Einsicht appelliert und Menschen nicht zwingen, sondern sie gewinnen will.

Ich bin sogar davon überzeugt, dass eine Leitbildethik in gewisser Hinsicht mit diesem Einwand besser fertig werden kann als andere Konzepte, weil zu der vision of life, die einem Menschen im Laufe seines Lebens zuteil wird, auf Grund von Fremderfahrung und Selbsterfahrung das Element gehört oder jedenfalls gehören kann, dass wir neben der ethischen Orientierung unseres Tuns und Verhaltens auch eine rechtliche Orientierung brauchen, deren Geltung nicht abhängig ist von vorausgesetzter Einsicht, sondern die notfalls unter Androhung und Ausübung von Gewalt durchgesetzt wird. Für jedes Ethikkonzept und darum auch für die Leitbildethik gilt m. E., dass aus ethischen Gründen die Ausbildung und das Vorhandensein einer Rechtsordnung für das soziale Leben gewollt werden muss.

Diese rechtliche Ordnung wird sich in einem freiheitlichen Gemeinwesen in einem möglichst engen Rahmen bewegen, der die fundamentalen Güter der Gemeinschaft, und vor allem, der die Schwachen und Wehrlosen in der Gemeinschaft gegen Übergriffe schützt.

Das christliche Menschenbild als das Leitbild, das für eine christliche Ethik orientierungskräftig ist, schließt jedenfalls das Wissen um die Notwendigkeit und die Wohltat einer verlässlichen Rechtsordnung mit ein, ohne dass deswegen der Unterschied zwischen Rechtsordnung und ethischer Orientierung verschwinden würde. Im Gegenteil: Gerade von da aus kann dieser grundlegende Unterschied nachdrücklich deutlich gemacht werden; denn die Rechtsordnung muss dort - aber auch nur dort - eingreifen, wo die ethische Orientierung versagt. Greift sie zu früh ein, entsteht ein die Freiheit der Bürger unzulässig einengender Polizeistaat. Greift sie zu spät ein, entsteht eine Gesellschaft mit anarchischen Zügen, in der die Stärkeren über die Schwächeren eine Willkürherrschaft ausüben können.

Was folgt aus alledem für die Beteiligung der Theologie und der Kirche am gesellschaftlichen Diskurs über die Rechtsordnung und für die Aufgabe der Ethos-Bildung in Religionsunterricht, Seelsorge, Erwachsenenbildung etc.?

Erstens haben die christliche Kirche und Theologie ihren - religiös-weltanschaulichen - Beitrag dazu zu leisten, dass in der jeweiligen Gesellschaft eine Rechtsordnung besteht und weiterentwickelt wird, die zwei Aufgaben erfüllt: einerseits rechtliche Grenzen so klar wie möglich zu formulieren, innerhalb deren öffentlich vertretene Menschenbilder als individuelle und soziale Ethos-Leitbilder sich bewegen müssen, um das gesellschaftliche Miteinander nicht zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören; andererseits haben sie dafür einzutreten und daran mitzuwirken, dass innerhalb dieser Grenzen unterschiedliche ethosorientierende Leitbilder - im Sinne eines religiös-weltanschaulichen positionellen Pluralismus - frei und offen vertreten werden können und die Möglichkeit haben, miteinander zu konkurrieren. Ein wesentlicher Beitrag hierzu ist die rechtliche und finanzielle Ermöglichung von Kindergärten, Kindertagesstätten und vor allem von Schulen in der freien Trägerschaft von religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften, wobei diese beiden Aufgaben - die abgrenzende und die entfaltende - so eng zusammengehören, dass sie trotz ihrer Unterschiedenheit nur miteinander sachgemäß gelöst werden können. Hier erschließt sich für die christlichen Kirchen ein weites Betätigungsfeld, das bereits in den letzten Jahren verstärkt entdeckt und tatkräftig in Angriff genommen wurde.

Zweitens haben die christliche Kirche und Theologie die Bestimmung des Menschen, wie sie sich aus den Grundtexten des christlichen Glaubens ergibt, als einladendes, orientierungskräftiges Leitbild so zu präsentieren, dass es die Chance hat, gehört, verstanden und angeeignet zu werden. Dazu wird es häufig nötig sein, zunächst einmal vorhandene Verstehenshindernisse und - durchaus nachvollziehbare - Abwehrreaktionen gegen überlieferte christliche Menschenbilder wahrzunehmen, aufzunehmen und aus dem Weg zu räumen. Wesentlich ist sodann, dass bei alledem spürbar wird, dass das christliche Menschenbild nicht aus religiösem Parteiinteresse im Dienste der Mitgliederwerbung, sondern um seiner Wahrheit und dadurch begründeten Tragfähigkeit willen bezeugt, d. h. auf Grund eigener Einsicht öffentlich vertreten wird.

Drittens ist wichtig, dass das christliche Menschenbild als Leitbild eines menschenfreundlichen, zukunftsfähigen Ethos nicht von der Polemik, nicht einmal von der Unterscheidung gegenüber anderen Menschen- und Leitbildern lebt, sondern aus sich heraus Strahlkraft und Attraktivität entfalten kann und muss. Dabei erklärt sich der Verzicht auf Profilierung durch polemische Unterscheidung nicht aus Harmoniestreben, sondern aus der Einsicht, dass ein Menschenbild letztlich nur aus der Innenperspektive derer adäquat beschrieben und beurteilt werden kann, die es sich angeeignet haben.

Was ändert sich nach alledem durch ein solches Konzept einer Leitbildethik? Ist es nur ein neuer Name für eine längst so oder so praktizierte Theorie? Ist es nur ein neues Etikett für einen alten, längst bekannten Inhalt? Ich will drei Punkte nennen, die sich durch dieses ethische Konzept gegenüber vielen anderen Konzeptionen ändern:

Was sich für mich durch das Konzept der Leitbildethik vor allem verändert hat und immer wieder verändert, sind zunächst der Zugang zum Ethischen und die ethische Sprache. Für die meisten Menschen - innerhalb und außerhalb der Kirche - verbindet sich mit dem Begriff "Ethik" - und wohl noch stärker mit dem Begriff "Moral" - vor allem die Vorstellung von Vorschriften, Pflichten, Verboten, Vorwürfen, Verurteilungen etc. Das Gute scheint primär das zu sein, was wir tun sollen, obwohl wir es nicht wollen, oder was wir nicht dürfen, obwohl wir es gerne täten. Diese weit verbreitete Karikatur des Ethischen kann durch andere Vorstellungen und sprachliche Ausdrucksformen ersetzt werden, wenn man sich daran orientiert, dass das Ethische den Charakter der einladenden, gewinnenden, verlockenden Bestimmung hat, die uns zugedacht ist, weil sie für uns gut ist.

Hat man ins Gefühl bekommen, dass das Ethische das für den Menschen Gute ist, dann ändert sich der Ton und Stil ethischen Redens weg vom Gebot und von der Vorschrift zur Einladung und Verlockung. Ich sage bewusst nicht: So verändert sich der Ton vom Gesetz zum Evangelium; denn "Evangelium" wäre hier die völlig falsche Kategorie, wo es nicht um Gottes rettendes und befreiendes Handeln an uns, sondern um unser darauf antwortendes menschliches Handeln geht.

Einen zweiten Gewinn sehe ich darin, dass eine Ethik, die sich als Leitbildethik versteht und präsentiert, damit eine erfahrungsorientierte Argumentationsbasis gewinnt. Sie erlaubt nicht nur, sondern provoziert geradezu die reflektierende Rückfrage: Ist es tatsächlich so, dass ein Verhalten, das sich z. B. am Leitbild der Bergpredigt ausrichtet, für mich als Menschen und für unser Zusammenleben gut ist? Diese Frage lässt sich im Blick auf das Ethische oft nicht leicht und eindeutig und sicher kaum irgendwann schnell beantworten. Aber in der rückblickenden, reflektierenden Erfahrung kann es uns eindrücklich und überzeugend werden: Ja, das ist gut und das tut uns Menschen gut.

Schließlich ein dritter und letzter Gewinn einer Leitbildethik, den manche möglicherweise eher für einen Nachteil halten: Eine Leitbildethik orientiert sich nicht an den einfachen ethischen Dualen "gut/böse" oder "richtig/falsch", sondern operiert geradezu notwendigerweise mit Komparativen, Abstufungen und Schattierungen. Dass die eine Handlung besser ist als eine andere, weil sie dem christlichen Menschenbild eher oder mehr entspricht als eine andere Handlung, ist dann eine legitime ethische Argumentation. Das hebt nicht auf, dass es das ethische Urteil geben kann oder muss: "Das ist gut" oder: "Das ist böse". Aber unser ethischer Alltag ist eben nicht nur durch solche eindeutigen ethischen Grenzwert-Situationen geprägt, sondern sehr viel häufiger durch Situationen, in denen wir zwischen zwei Übeln oder mehreren Gütern abwägen und dann entscheiden müssen. Die ethischen Grautöne kommen in einer Leitbildethik - ebenso wie in einer Güterethik - eher zur Geltung als in einer Tugend- oder Pflichtethik. Und auch das halte ich - wie gesagt - für einen Vorteil und Gewinn.

Eine Leitbildethik will also eine zum Guten einladende, für das Gute gewinnende, zum Guten verlockende Ethik sein. Sie gebietet oder verbietet nicht grundlos, sondern appelliert an Erfahrung und Einsicht. Sie anerkennt, dass die "ethische Rechnung" oft nicht glatt aufgeht, sondern dass Konflikte, Einschränkungen, Abstriche in Kauf genommen und ausgehalten werden müssen. Und ich bin der Meinung, dass eine Leitbildethik mit alledem vom Ansatz her eine evangelische Ethik ist - das meine ich nicht im konfessionalistischen Sinne.

Diese Annahme bedarf freilich noch einer letzten kleinen Präzisierung und Abgrenzung, damit nicht ungewollt ein fatales Missverständnis produziert wird. Eine Leitbildethik wäre jedenfalls dann keine evangelische Ethik, wenn sich mit ihr die Vorstellung verbände, dass das Erreichen oder Verwirklichen des Leitbilds die Bedingung oder Voraussetzung für das menschliche Heil wäre.

Die Motivation zum Tun des Guten ist in einer evangelischen Ethik - auch in einer evangelischen Leitbildethik - keine finale Motivation, sondern eine konsekutive. D. h.: Das Tun des Guten wird nicht durch das motiviert, was wir damit für uns erreichen oder verdienen können, sondern durch das, was uns zuteil geworden ist.

Was damit gemeint ist, kann ich vielleicht am besten abschließend mit einer Anekdote aus dem Leben Martin Luthers veranschaulichen. Der Reformator soll eines Tages vom Kurfürsten einmal einen etwas größeren Geldbetrag erhalten haben, den er bzw. seine Frau Käte dringend für die Bestreitung der Lebenskosten und für die Sättigung der vielen Gäste brauchten. Mit diesem Geldbetrag in der Tasche ging Luther zusammen mit einem seiner Begleiter, es war wohl Justus Jonas, durch Wittenberg. Dabei begegneten die beiden einem Bettler. Luther gab dem Bettler ein vergleichsweise großes Geldstück, was Justus Jonas zu der Äußerung veranlasste: "Das wird Gott euch aber reichlich lohnen". Worauf Luther spontan erwidert haben soll: "Das hat er doch schon längst getan".

Das nenne ich eine konsekutive Motivation zum Tun des Guten. Und sie passt haargenau zu dem Konzept einer evangelischen Leitbildethik, das ich hier - in durchaus gewinnender Absicht - vorstellen wollte.

Summary

The interplay of virtue, duty, and goodness plays a dominant role in the history of ethics. Following Schleiermacher, it can be shown that this is not a matter of opposites, but rather a pattern of three related aspects of a fully worked out ethics.

This essay attempts to show how such an integrated ethics can be described and typified. The author proposes the idea of a model ethics, and outlines the changes in language, normative function, and tasks that it implies. The essay also emphasizes the basic difference between a teleologically and a consecutively motivated ethos.

Fussnoten:

1) Der folgende Text wurde in den Theologischen Fakultäten der Universitäten Kiel (12.05.03) und Leipzig (13.10.03) vorgetragen. Die Vortragsform wurde in der Druckfassung beibehalten. Ein kurzer Abriss des Textes wurde veröffentlicht in: Zeitzeichen Heft 11/2003, 56-58.

2) Ethik, 1812/13. Hrsg. H.-J. Birkner. Hamburg 1981, 221.

3) Gesellschaft gestalten. Tübingen 1991, 48.

4) Mit Sinn und Problematik dieser Formel habe ich mich beschäftigt in der kurzen Abhandlung "Gelingendes Leben?!" in: ZGP 21 (2003) 4, 7-9.

5) Den Hinweis auf die Notwendigkeit solcher partikularer oder segmentierter Leitbilder verdanke ich R. Preul, Kiel.

6) Ich habe das in Auseinandersetzung mit Kant zu zeigen versucht in dem Aufsatz: Die weltanschaulichen Voraussetzungen jeder normativen Ethik. MJTh XIII, Marburg 2001, 15-38.