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Ausgabe:

April/2003

Spalte:

351–368

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Großhans,Hans-Peter

Titel/Untertitel:

Perspektivität des Erkennens und Verstehens als Grundproblem theologischer Rationalität

Die Perspektivität des Erkennens und Verstehens ist eines der "methodischen Grundprobleme theologischer Rationalität".1 In einem allgemeinen Sinne ist Erkennen eine in Zeichen sich vollziehende geistige Aktivität, in der Menschen ihre Umwelt erschließen und symbolisch rekonstruieren, wobei Welt jedoch nicht nur einfach erfasst, sondern nach der Regel "etwas als etwas erfassen" kognitiv strukturiert wird. Das Ziel des Erkennens ist wahre Erkenntnis bzw. Wissen, in dem das Erkennen mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Verstehen ist ein besonderer Fall des Erkennens, in dem der zeichenhafte Ausdruck der Erkenntnis eines Anderen Gegenstand ist. Verstehen ist deshalb unentbehrlicher Teil eines gemeinsamen Erkennens. Ziel des Verstehens ist ein Einverständnis der Erkennenden.

Erkennen und Verstehen geschehen immer in Perspektiven. Selbst wenn "das Perspektivische" nicht die "Grundbedingung alles Lebens"2 ist, wie Friedrich Nietzsche behauptete, so ist es doch Grundbedingung allen Erkennens und Verstehens. Daraus wird nun häufig geschlossen, dass es keine allgemein wahren Erkenntnisse geben könne. Erkenntnisse seien immer nur relativ wahr in den jeweiligen Perspektiven und vom Stand- und Gesichtspunkt des Erkennenden aus. Auf diese Auffassung wird in Wissenschaft und Gesellschaft, in Theologie und Kirche häufig rekurriert. Differenzen zwischen Erkenntnissen, Konzeptionen und Positionen lassen sich so erklären, ohne die jeweils anderen Erkenntnisse, Konzeptionen und Positionen in Frage stellen zu müssen. Sie können vielmehr schiedlich-friedlich nebeneinander her existieren. In der Zuordnung verschiedener Wissenschaften, unterschiedlicher Typen des Philosophierens3, verschiedener Religionen oder der christlichen Konfessionen zueinander wird oft von Perspektiven geredet. Innerhalb der Theologie werden neben den konfessionellen Perspektiven des Weiteren Außen- und Innenperspektiven - um die Differenzen zwischen einer soziologischen und einer theologischen Erkenntnis der christlichen Religion zu beschreiben - oder Partizipanden- und Beobachterperspektiven - um beispielsweise die Differenz von Glaube und Vernunft in der Frage der Gotteserkenntnis zu erläutern - unterschieden. Auch die Differenz zwischen neutestamentlichen Autoren kann als Differenz verschiedener Perspektiven verstanden werden, wie denn auch in der Interpretation der neutestamentlichen Texte eine neue neben oder an die Stelle einer alten Perspektive gesetzt werden kann.4

Die häufige theologische Inanspruchnahme des Perspektivenbegriffs verlangt eine kritische Untersuchung seiner Bedeutung und Reichweite. Dazu muss sich die theologische Reflexion allerdings auf das Feld der allgemeinen Erkenntnistheorie und Hermeneutik begeben - in der Hoffnung, dass eine erkenntnistheoretische und hermeneutische Reflexion auch der theologischen Begriffs- und Theoriebildung zugute kommt. Die folgenden Ausführungen sind in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil (I.) soll geklärt werden, was unter einer Perspektive im Zusammenhang der Erkenntnistheorie und Hermeneutik zu verstehen ist. Im zweiten Teil (II.) wird mit der Monadologie von Gottfried Wilhelm Leibniz ein Gesamtkonzept dargestellt, das alle möglichen Perspektiven zueinander ins Verhältnis setzt. Im dritten Teil (III.) wird anhand der Leibnizschen Erkenntnistheorie der Frage nachgegangen, wie sich perspektivisches Erkennen zu vollkommenem Erkennen und zur Allgemeinheit von Erkenntnis verhält und welche Rolle dabei dem Gottesbegriff zukommen kann. Im vierten Teil (IV.) werden einige Konsequenzen für das Selbstverständnis der Theologie und die Bestimmung ihrer Aufgaben formuliert. Auf Leibniz wird deshalb intensiv Bezug genommen, weil er als einer der ersten in einer umfassenden und grundlegenden Weise die Perspektivität der Erkenntnis in seinem philosophischen System berücksichtigte. An Leibniz lässt sich zeigen, dass verschiedene Perspektiven zueinander in Beziehung gesetzt werden können und dass das Erkennen und Verstehen seine jeweiligen Perspektiven auf eine allgemeine und vollkommene Erkenntnis und das Einverständnis der Erkennenden hin überschreiten muss. Zugleich ist bei Leibniz zu beobachten, dass ein nach wahrer Erkenntnis strebendes Erkennen und ein auf ein Einverständnis zielendes Verstehen auf den Gottesbegriff nicht verzichten kann.

Sowohl die Theologie als auch alle anderen Wissenschaften können sich nicht mit einem auf je einzelne Perspektiven begrenzten Erkennen und Verstehen zufrieden geben, sondern müssen die differierenden Erkenntnisse in einen Streit um die Wahrheit bringen. Wissenschaftlich bleibt es unbefriedigend, Meinung an Meinung - gewissermaßen wie in einer Talkshow - zu reihen. Der in diesem Verfahren nur uneigentlich so zu nennende Streit der Meinungen zielt nicht auf gemeinsame Erkenntnis, sondern auf Entscheidung durch Autoritäten, durch die Geschmacksurteile des Publikums oder die Macht des Kapitals. Wissenschaftlich ist vielmehr dem Hinweis Friedrich Schleiermachers zu folgen: "Wenn wir, den Streit voraussetzend, ein bestimmtes Verfahren begründen wollen, um ihn aufzuheben, so müssen wir auch ein bestimmtes Ende desselben im Auge haben. Dieses aber kann kein anderes sein, als daß, was vorher von mehreren verschieden gedacht wurde, nun von denselben soll einerlei gedacht werden."5

I. Zur erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Bedeutung von Perspektiven

Der aus der Geometrie und Optik stammende Begriff der Perspektive6 hat seine Bedeutung in engem Zusammenhang mit der bildenden Kunst erlangt. Gotthold Ephraim Lessing hat die in diesem Zusammenhang stattgefundene Entwicklung des Begriffs der Perspektive in seinen "Briefen antiquarischen Inhalts" beschrieben. Er spricht dort von einem "alten" Sprachgebrauch, nach dem Perspektive bedeute, dass Gegenstände auf einer Fläche so vorgestellt werden, "wie sie sich in einem gewissen Abstande unserm Auge zeigen"; allerdings "nicht wie sie sind, sondern wie sie dem Auge erscheinen." Eine davon unterschiedene, "neue" Bedeutung von Perspektive findet Lessing jedoch unter den Künstlern seiner Zeit, die unter einer Perspektive verstehen, "mehrere Gegenstände mit einem Teile des Raums, in welchem sie sich befinden, so vorzustellen, wie diese Gegenstände, auf verschiedne Plane des Raums verstreuet, mit samt dem Raume, dem Auge aus einem und eben demselben Standorte erscheinen würden".7 Perspektivisch wird ein Bild dann nicht durch die Verkleinerung der Gegenstände im Verhältnis zur Entfernung, sondern allein durch "die Einheit des Gesichtpunkts".8 Lessings Definition der Perspektive lautet entsprechend: "Die Perspektiv erfordert einen einzigen Augenpunkt, einen bestimmten natürlichen Gesichtskreis, und dieses war es, was den alten Gemälden fehlte".9

Mit dieser von Lessing beschriebenen Auffassung der Perspektive rückt der einheitliche Stand- bzw. Gesichtspunkt, von dem aus ein Raum und die darin befindlichen Gegenstände wahrgenommen und dargestellt werden, in den Mittelpunkt der Kunst,10 aber auch in das "Zentrum des philosophischen Denkens ..., wo sie die Art und Weise, wie sich der Mensch in der Welt bestimmt, neu formulieren hilft".11 Erkennen und Denken werden dann nicht mehr am Modell des richtigen Sehens orientiert, sondern an der Zuordnung des zu Erkennenden zu einem bestimmten Stand- und Gesichtspunkt. Perspektiven zeichnen sich nach diesem Verständnis dadurch aus, dass Individuen in ihnen zum einen Informationen aus ihrer Umwelt "unter bestimmten Leitgesichtspunkten" selegieren und zum andern in ihnen "ihre Umwelt semiotisch erschließen und symbolisch rekonstruieren".12

Wenige Jahrzehnte vor Lessing hatte in ähnlicher Terminologie Johann Martin Chladenius im Blick auf die Auslegung "vernünftiger Reden und Schriften" bereits konstatiert, dass historisches Erkennen - und auch die von ihm so genannte "systematische Lehrart" - vom Stand- und Gesichtspunkt des Erkennenden bedingt ist. Chladenius führte in seiner "Einleitung zur richtigen Auslegung vernünfftiger Reden und Schrifften" (1742) die Rede von einem "Sehe-Punkt" ein: "Diejenigen Umstände unserer Seele, Leibes und unserer gantzen Person, welche machen, oder Ursache sind, daß wir uns eine Sache so, und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punckt nennen. Wie nemlich der Ort unseres Auges, und insbesondere die Entfernung von einem Vorwurffe, die Ursach ist, daß wir ein solch Bild, und kein anderes von der Sache bekommen, also giebt es bey allen unsern Vorstellungen einen Grund, warum wir die Sache so, und nicht anders erkennen: und dieses ist der Sehe-Punckt von derselben Sache".13 In der historischen Erkenntnis und in der "systematischen Lehrart"14 kommt es nach Chladenius' Überzeugung auf den Sehe-Punkt an, der die besondere Art eines Menschen bedingt, die zu erkennende Sache vorzustellen. Für das historische Erkennen ist dabei die Einsicht entscheidend, dass die Pluralität historischer Urteilsbildung bereits zu den Voraussetzungen historischer Erkenntnis gehört.

Daraus könnte nun gefolgert werden, dass historische - und auch systematische - Erkenntnisse bloß perspektivische Erkenntnisse sind, die auf Grund ihres perspektivischen Charakters wesentlich durch den subjektiven Standpunkt des Erkennenden bedingt sind und deshalb mit der historischen Wirklichkeit nie ganz übereinstimmen. Folglich könnten sie auch nicht als objektiv gelten.

Die Wiedergewinnung von Objektivität unter den besonderen - gewissermaßen mit dem Sehpunkt gegebenen - Bedingungen des Erkennenden steht im Mittelpunkt des Aufsatzes von Rudolf Bultmann über "Das Problem der Hermeneutik". Nach Bultmanns Auffassung ist "jedes geschichtliche Phänomen vielseitig, komplex"15, weil es verschiedenen Fragestellungen unterliegt - beispielsweise einer geistesgeschichtlichen, psychologischen, soziologischen oder auch theologischen. Die Fragestellung, unter der ein geschichtliches Phänomen betrachtet wird, bringt ein Vorverständnis von der "Sache" des geschichtlichen Phänomens mit sich. Fragestellung, Vorverständnis und Sachinteresse erwachsen "aus der geschichtlichen Verbundenheit des Interpreten mit dem Phänomen", das zu verstehen gesucht wird. Wird nun eine Interpretation methodisch durchgeführt, dann führt trotz der Vielseitigkeit des geschichtlichen Phänomens jede Fragestellung "zu eindeutigem, objektivem Verständnis". Die komplexen, vielseitigen geschichtlichen Phänomene sind also keineswegs vieldeutig und der Willkür beliebiger Deutung ausgesetzt. Vielmehr ist eine solchermaßen methodisch gewonnene Erkenntnis objektiv, da sie "eine dem Gegenstand, wenn er in eine bestimmte Fragestellung gerückt ist, angemessene"16 ist - woraus folgt, dass es mehrere "objektive" Erkenntnisse von demselben geschichtlichen Phänomen geben kann. Objektiv ist eine Erkenntnis, wenn sie in der Perspektive einer bestimmten Fragestellung der zu erkennenden Sache entspricht. Die Wahl einer Fragestellung erwächst dabei nicht aus individuellem Belieben. Zum einen erwächst sie daraus, dass jedes Phänomen entsprechend seiner komplexen Natur nach verschiedenen Richtungen Bedeutung beansprucht. Zum andern erwächst eine Fragestellung aus dem Lebensverhältnis des Interpreten zur Sache: es ist die Fragestellung, in der im Zusammenhang der Geschichte das zu interpretierende Phänomen gerade für ihn, den Interpreten, der selber Teil der Geschichte ist, redend wird.

Objektiv ist eine Erkenntnis also nicht, weil der Interpret seine besondere individuelle Erkenntnisperspektive zu Gunsten einer angeblich allgemeinen Erkenntnis aufgibt. Vielmehr ist für objektives Erkennen und für echtes Verstehen "die äußerste Lebendigkeit des verstehenden Subjekts, die möglichst reiche Entfaltung seiner Individualität" die Voraussetzung. Dies gilt für alle Fragestellungen; ganz besonders aber für die Fragestellung, die die Hermeneutik seit Schleiermacher vor allem bewegte: dauerhaft fixierte Lebensäußerungen, insbesondere Texte, "auf die Möglichkeiten des menschlichen als des eigenen Seins" hin zu befragen. Nur ein durch die "Frage der eigenen Existenz" bewegter Interpret vermag einen Text unter dieser Fragestellung wirklich zu verstehen und die Möglichkeiten menschlichen Seins, die der Text zur Sprache bringt, zu erkennen und als Möglichkeiten seines eigenen Seins zu verstehen. Wenn dies aber geschieht, dass die von einem Text präsentierten Möglichkeiten menschlichen Existierens als Möglichkeiten eigenen Existierens erkannt werden, dann ist "die subjektivste Interpretation ... die objektivste".17 Dann spricht ein Text zu seinem Interpreten und konfrontiert ihn mit seiner "Sache", die dabei für den Interpreten präsent wird. Dies gilt auch für das theologische Erkennen und Verstehen, das dann objektiv und echt ist, wenn es zur Vergegenwärtigung Gottes in der Perspektive des Erkennenden und Verstehenden kommt.

Bultmann ging es in seiner Hermeneutik gerade darum, den Sachbezug in das Zentrum des Erkennens und Verstehens zu rücken, ohne freilich die subjektive und perspektivische Bedingtheit jeden Erkennens und Verstehens zu überspielen oder zu ignorieren. Darin unterscheidet sich Bultmanns Hermeneutik von der "Philosophie des Perspektivismus", die Friedrich Kaulbach 1990 veröffentlichte, für die allein "die Art und Weise" bedeutsam ist, "wie das Denken seine Objekte in den Blick nimmt". Kaulbach beschränkt sich ganz auf "Perspektiven der Weltdeutung und die Methoden ihres Gebrauchs". Während es bei Bultmann um die Vielseitigkeit der geschichtlichen Phänomene geht, setzt sich Kaulbach mit der Vieldeutigkeit der Welt auseinander. Es geht dann um die Frage der "Eignung je einer Perspektive der Weltdeutung ..., dem Denkenden und Handelnden die ihm notwendige Orientierung und Motivation seines Denkens und Handelns, ihm also für dieses einen Sinn zu geben."18 Eine "weltinterpretierende Perspektive" ist nach Kaulbach nicht als "objektwahre" zu erweisen, sondern ihr ist "Sinnwahrheit zu bescheinigen, da sie das Subjekt in den Stand setzt, sich in eine Welt zu versetzen, die ihm einen seiner Stellung zum Sein angemessenen Sinn bietet".19 In der "Philosophie des Perspektivismus" wird die Welt als die Gesamtheit aller Gegenstände dem jeweiligen Stand- und Gesichtspunkt des Erkennenden untergeordnet. Welt gibt es immer nur in den Deutungen des sinnlich Gegebenen in den jeweiligen Perspektiven. Jede Perspektive enthält so - um es mit Bertrand Russell zu formulieren - "its own space" bzw. ihre "private world".20 Haben wir es aber nur mit perspektivischen Deutungen und Privatwelten zu tun, dann ist im Grunde eine wissenschaftliche Verständigung mit dem Ziel, in einer Erkenntnis übereinzustimmen, sinnlos. Übereinstimmung und Einverständnis zwischen Individuen, die von verschiedenen Stand- und Gesichtspunkten aus die Welt verschieden erkennen, kann nur erlangt werden, wenn im Erkennen in den verschiedenen Perspektiven ein gemeinsamer Sachbezug besteht und darüber im kommunikativen Erkenntnisprozess Einverständnis besteht. Darin sah auch Schleiermacher die einzige Möglichkeit eines wissenschaftlichen Umgangs mit der Verschiedenheit von Erkenntnissen: "Solange das Denken nur rein in sich bleibt, gibt es nur Verschiedenheit. ... Sobald wir aber das Denken auf Sein als auf ein anderes, das nicht wieder Denken ist, beziehen, so sind alle Bedingungen des Streits gegeben."21 Die Verschiedenheit der Erkenntnisse weist das Erkennen an die Wirklichkeit, an der sich jegliches perspektivisches Erkennen in der Kommunikation mit anderen messen lassen muss.

Der gemeinsame Sachbezug hebt jedoch nicht die Pluralität der Perspektiven auf, sondern verlangt danach "sich gerade die Verschiedenheit der Perspektiven ... für die Erkenntnis nutzbar zu machen".22 Nietzsche wendet dies gegen eine dogmatisierende Philosophie ein, die die Perspektivität des Erkennens übergehen will.23 Von einer von ihm so genannten "dogmatisierenden" Philosophie wird nach Nietzsche "immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretierenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird". Wird ein solches Auge gedacht, geht dem Erkennen der Gegenstand verloren. Will man aber Etwas erkennen, dann gibt es "nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches Erkennen". Die Frage nach der Objektivität des Erkennens und nach der Möglichkeit, zwischen Schein und Sein unterscheiden zu können, lässt sich dann nicht transperspektivisch beantworten, sondern Objektivität kann nur eine Folge vieler perspektivischer Erkenntnisakte sein: "je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser Begriff dieser Sache, unsre Objektivität sein"24 - so Nietzsches Hoffnung.

II. Das Verhältnis der Perspektiven zueinander

Wenn man dem Vorschlag Nietzsches folgen und sich die Verschiedenheit der Perspektiven für das Erkennen nutzbar machen will, dann muss das Verhältnis der vielen verschiedenen Augen zueinander präzisiert werden. In den wissenschaftlichen Diskursen der Gegenwart wird zumeist nur das Verhältnis zweier Perspektiven zueinander zu bestimmen versucht - wie beispielsweise im Blick auf das Thema Leben eine theologische und eine biologische Perspektive. Doch über diese notwendig durchzuführende Verhältnisbestimmung zweier Perspektiven zueinander hinaus bedarf es auch einer Reflexion auf das gesamte Modell des sich in Perspektiven vollziehenden Erkenntnisprozesses sowie auf die Implikationen eines solchen Gesamtzusammenhangs aller möglichen Perspektiven. Die Bearbeitung dieser Fragestellung findet sich bereits bei Gottfried Wilhelm Leibniz, der die Perspektivität jeden Erkennens unterstellte und zugleich die vielen möglichen Perspektiven der Individuen in einen in sich stimmigen erkenntnistheoretischen und ontologischen Gesamtzusammenhang zu bringen suchte. Deshalb möchte ich die folgenden Überlegungen an Leibniz' Konzeption als einem der geschichtlichen Ausgangspunkte eines wissenschaftlichen Umgangs mit dem Problem der Perspektivität des Erkennens orientieren, um von dort her einige Implikationen des Perspektivenbegriffs wieder ins Bewusstsein zu rufen.

Eines der ursprünglichen Motive von Leibniz für die Konzeption eines multiperspektivischen Universums25 war sein Interesse an einer Harmonisierung des zerspaltenen Reformzeitalters mit Hilfe der mathematischen Rationalität. Dazu gehört nach seiner Überzeugung eine vernünftige Klärung der zwischen den Kirchen bestehenden Kontroverspunkte und eine Versöhnung der Kirchen mit dem Ziel eines interkonfessionellen Christentums.26 Zur Harmonisierung des zerstrittenen Reformzeitalters gehört aber auch eine Harmonisierung der mechanistischen Naturerklärung mit der religiösen Weltdeutung. Leibniz versucht dies, indem er scientia und christliche pietas als komplementäre Perspektiven zu erweisen sucht.27

Für Leibniz ist die Grundstruktur der aus der Vielheit der Monaden als den nicht teilbaren einfachen Substanzen28 bestehenden Welt die Vielfältigkeit der Perspektiven. So formuliert er in der 1714 verfassten Monadologie: "Et comme une même ville regardée de differens côtés paroît toute autre, et est comme multipliée perspectivement; il arrive de même, que par la multitude infinie des substances simples, il y a comme autant de differens univers, qui ne sont pourtant que les perspectives d'un seul selon les differens points de veüe de chaque Monade: Wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer wieder anders und gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so gibt es zufolge der unendlichen Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebenso viele verschiedene Welten, die jedoch nichts anderes sind, als - gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade - perspektivische Ansichten einer einzigen."29 Durch solche Multiperspektivität erhält man nach Leibniz' Auffassung die größtmögliche Mannigfaltigkeit und zugleich die größtmögliche Ordnung, und damit die größtmögliche Vollkommenheit.30 Mit dieser Hypothese lässt sich eine universale Harmonie denken, "qui fait que toute substance exprime exactement toutes les autres par les rapports qu'il y a".31 Deshalb ist jede Monade "un miroir vivant perpetuel de l'univers".32 Da allen Monaden die wirkliche Welt gemeinsam ist, haben und brauchen sie keine Fenster, weder zum Hinausschauen noch zum Hineinschauen der anderen. Weder gibt es eine Wirklichkeit, auf die eine Monade nicht schon bezogen wäre, noch gibt es eine Wirklichkeit, die eine Monade nur für sich hätte. Die auch aus der Leibnizschen Theodizee bekannte Vorstellung, dass Gott die Beste aller möglichen Welten nach dem Prinzip größtmöglicher Mannigfaltigkeit bei größtmöglicher Ordnung geschaffen hat, impliziert gerade nicht, dass es neben der einen geschaffenen, wirklichen Welt auch noch andere Welten gibt. Andere Welten sind allerdings als mögliche denkbar und werden auch laufend im menschlichen Erkennen und Denken konstruiert, wenn die Welt im Gesamten und in ihren Einzelheiten von den verschiedenen endlichen Standpunkten aus anders erkannt und begriffen wird, als sie wirklich ist.

Wenn Leibniz jede Monade als einen "Spiegel des Universums" bezeichnet, nimmt er an, dass die Vorstellung jeder Monade bis ins Unendliche, bis zum Ganzen reicht: Allerdings ist sie nur in Bezug auf die der einzelnen Monade nächsten oder größten Erkenntnisgegenstände klar und distinkt, während sie mit zunehmender Entfernung dunkler und konfuser wird. "Mais une Ame ne peut lire en ellemême que ce qui y est representé distinctement, elle ne sauroit developper tout d'un coup tous ses replis, car ils vont ê l'infini."33 Für Leibniz folgt daraus: "Ce n'est pas dans l'objêt, mais dans la modification de la connoissance de l'objet, que les Monades sont bornées."34 Die Monaden sind zwar auf alles, auf das ganze Universum, bezogen, aber jede Monade ist auf alles anders, in einer anderen Perspektive, von einem anderen Stand- und Gesichtspunkt aus, bezogen. Die Erkenntnis der Monaden ist der Extension nach identisch, der Intension nach jedoch verschieden. Indem jede Monade die wirkliche Welt auf Grund ihrer besonderen Perspektive anders als die anderen Monaden erkennt und begreift, entwirft sie die Vorstellung einer möglichen Welt. Deshalb bedarf es der Verständigung und des gegenseitigen Verstehens der Individuen, um die vielen als möglich erkannten Welten auf die Erkenntnis der einen wirklichen Welt hin zu überschreiten. Da die Verschiedenheit der als möglich erkannten Welten von der Standpunkt bedingten Art der Erkenntnis abhängt, und diese sich vor allem in unterschiedlichen Graden an Klarheit, Distinktheit und Vollkommenheit der Erkenntnis ausdrückt, muss die Leibnizsche Erkenntnistheorie zeigen, wie der Weg von den erkannten und begriffenen möglichen Welten zur Erkenntnis der einen wirklichen Welt zu denken ist35 und wie das Erkennen sein Ziel erreicht, das traditionellerweise mit Aristoteles in dem in Definitionen auszusagenden Allgemeinen (to katholou) gesehen wird.36

III. Perspektivisches und vollkommenes Erkennen

Leibniz hat in seinen "Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis" von 1684 das Wesen menschlichen Erkennens differenziert entfaltet. Leibniz definiert: "Est ergo cognitio vel obscura vel clara, et clara rursus vel confusa vel distincta, et distincta vel inadaequata vel adaequata, item vel symbolica vel intuitiva: et quidem si simul adaequata et intuitiva sit, perfectissima est: eine Erkenntnis ist entweder dunkel oder klar; die klare wiederum entweder verworren oder deutlich; die deutliche entweder inadäquat oder adäquat; und gleichfalls entweder symbolisch oder intuitiv. Die vollkommenste Erkenntnis ist diejenige, die zugleich adäquat und intuitiv ist".37

Klar ist eine Erkenntnis, wenn etwas als dasselbe erkannt und d. h. identifiziert werden kann. Deutlich bzw. distinkt ist eine Erkenntnis, wenn etwas auf Grund von Merkmalen von anderem unterschieden werden kann; d. h. wenn etwas als ein anderes erkannt wird. Mit einer klaren und deutlichen Erkenntnis lässt sich eine Nominaldefinition bilden.38 Allerdings werden in der Nominaldefinition die Merkmale bloß "aufgezählt": Es sind die Merkmale, die zur Unterscheidung von anderem hinreichend sind. Es mag aber sein, dass die einzelnen Merkmale eines Begriffs zwar klar, aber nicht deutlich erkannt werden. Dann ist die Erkenntnis inadäquat. Von einer adäquaten Erkenntnis gilt dagegen: "Cum vero id omne quod notitiam distinctam ingreditur, rursus distincte cognitum est, seu cum analysis ad finem usque producta habetur, cognitio est adaequata".39 In der cognitio adaequata ist der ganze Begriff mitsamt seinen ihn bestimmenden Merkmalen klar und deutlich erkannt. Eine solche vollkommen analysierte Bestimmung eines Begriffs nennt Leibniz eine Realdefinition, die nicht nur von den perspektivischen Erkenntnissituationen abhängig ist.40 Allerdings sieht sich Leibniz nicht in der Lage, ein vollkommenes Beispiel dafür zu nennen, ob eine solche Erkenntnis überhaupt möglich ist. Höchstens käme dafür nach seinem Urteil die Mathematik in Frage.

Ein wesentlicher Grund für diese Einschränkung besteht darin, dass wir an Stelle der Dinge und der Anschauung ihrer Ganzheit Zeichen gebrauchen.41 Leibniz nennt eine solche sich unter endlichen Bedingungen durch den Gebrauch von Zeichen vollziehende adäquate Erkenntnis eine symbolische oder "blinde Erkenntnis".42 Im Unterschied zur cognitio obscura und cognitio confusa kennen wir bei einer cognitio symbolica zwar alle Merkmale, diese sind uns aber nicht in ihrer durchgängigen Bestimmtheit gegenwärtig, wenn wir den Begriff verwenden. Insbesondere wenn ein Begriff sehr zusammengesetzt ist, können wir nicht alle in ihn eingehenden Merkmale zugleich denken: "non possumus omnes ingredientes eam notiones simul cogitare".43 Insofern dies doch möglich ist, nennt Leibniz die Erkenntnis intuitiv.44 In einer - sei es intuitiv oder sei es diskursiv gewonnenen - adäquaten Erkenntnis, in der die Analyse "bis ans Ende durchgeführt wird", geht es nach Leibniz darum, die Möglichkeit eines Begriffs zu erkennen.45

Leibniz hält die Descartsche Erkenntnisregel: Was klar und deutlich erkannt wird, das kann als wahr ausgesagt werden für unzureichend. Über die Klarheit und Distinktheit hinaus geht es in einer adäquaten Erkenntnis um die Ganzheit einer res und damit um die Möglichkeit ihrer Realität. Erst durch die Erkenntnis ihrer Ganzheit wird eine Sache als eine mögliche erkannt. "Adäquate Erkenntnis ist die totale Erfassung der Einstimmigkeit der Vielfältigkeit"46 - so interpretierte dies Martin Heidegger 1928 in seiner Vorlesung über die "metaphysischen Anfangsgründe der Logik". Unverträglichkeit der Merkmale dagegen bricht das Wesen einer Sache auseinander: Sie kann dann nicht sein. Eine adäquate Erkenntnis bzw. ein adäquater Begriff ist eine connexio realis, in der die Erkenntnis der Sache nicht widerstreitet, weil die Sache nicht als in sich widerstreitend erkannt und begriffen wird. "Identität besagt ... den ganzen Reichtum der realen Bestimmtheiten in ihrer freilich widerstreitfreien Verträglichkeit"47

Der Satz des Widerspruchs und der Identität ist folglich die Grundbedingung einer adäquaten und damit vollkommenen Erkenntnis, die in einer Realdefinition allgemein formuliert werden kann. Dazu bedarf es aber mehr als einer Aneinanderreihung der vielen einzelnen perspektivischen Erkenntnisse (wie es beispielsweise in so manchem Reihenartikel theologischer Lexika geschieht); es bedarf vielmehr eines Überschreitens der einzelnen Perspektive auf die Erkenntnisse anderer Perspektiven hin. Solches Überschreiten geschieht, indem eine kritische Auseinandersetzung darüber geführt wird, wie sich ein Gegenstand oder ein Sachverhalt im Gesamten zusammenstimmend und widerspruchsfrei bestimmen lasse. Die in solch kritischer Auseinandersetzung erlangte Erkenntnis ist dann vollkommen und ihrem Gegenstand angemessen, wenn sie auch in den Perspektiven der Beteiligten als dem Gegenstand entsprechend anerkannt werden kann. Zu solchem Einverständnis mag es selbst dann kommen, wenn die realdefinitorisch begriffene Erkenntnis in einer bestimmten Perspektive und unter einer bestimmten Fragestellung formuliert ist. Voraussetzung dafür ist, dass die von anderen Stand- und Gesichtspunkten aus semiotisch erschlossene und symbolisch dargestellten Erkenntnisse zu verstehen gesucht und in die eigene Erkenntnis und Begriffsbildung eingeholt werden, um einen in sich stimmigen Gesamtbegriff zu formulieren. Dann hat man auch Nietzsches Rat befolgt, möglichst viele verschiedene Augen für dieselbe Sache einzusetzen.

Kann auf Grund der gegenseitigen Mitteilung der perspektivisch gewonnenen Erkenntnisse der Individuen und des Verstehens der Erkenntnisse der anderen eine Realdefinition gebildet werden, könnte wirklich sein. Doch lässt sich auch entscheiden, ob etwas nicht nur wirklich sein könnte, sondern tatsächlich wirklich ist?

Um die Möglichkeit einer kritischen Unterscheidung von möglichen Welten und wirklicher Welt, von als möglich erfassten Gegenständen und wirklichem Gegenstand, von als möglich rekonstruierten Begriffen und wahrer Erkenntnis denken zu können, gebraucht Leibniz den Gottesbegriff. Nach Leibniz kann keine Aussage als wahr erwiesen werden, ohne dass es einen zureichenden (festlegenden) Grund dafür gäbe, weshalb es eben so und nicht anders ist und weshalb etwas nicht nur möglich, sondern auch wirklich ist. Der allen konkreten bewirkenden Kräften zu Grunde liegende letzte Grund der einzelnen kontingenten Dinge muss in einer notwendigen Substanz liegen, die Leibniz Gott nennt.48 Diese Substanz ist einfach und durchschaut sich - anders als alle anderen Monaden - vollkommen selbst (und damit auch das Universum, das es in seiner Seele abbildet). Zur Vollkommenheit Gottes gehört deshalb nicht nur, dass er der Ursprung der wirklichen Welt, sondern auch der Ursprung der ewigen Wahrheiten und Ideen ist und mit seinem Verstand intuitiv die durchgängige Bestimmtheit der mannigfaltigen Gegenstände und Sachverhalte nicht nur der wirklichen Welt, sondern aller möglichen Welten durchschaut und deshalb auch die wirkliche von den möglichen Welten zu unterscheiden vermag. Gott hat von seinem besonderen Standpunkt aus - intuitiv - eine vollständige Erkenntnis der wirklichen Welt, zu der auch die jeweiligen Perspektiven der Monaden gehören mitsamt den in ihren Perspektiven erkannten und begriffenen Welten.

Vor allem in der englischsprachigen Philosophie der letzten Jahrzehnte wurde intensiv diskutiert, ob und inwiefern eine Erkenntnistheorie vom Standpunkt Gottes aus oder wie es dort heißt: von "the God's Eye view" aus, entworfen werden kann.49 Ein Erkennen von einem solchen Standpunkt aus hatte allerdings bereits Friedrich Nietzsche für sinnlos erklärt, da dazu verlangt wird, "ein Auge zu denken ..., das gar nicht gedacht werden kann". "The God's Eye view" kann von der endlichen menschlichen Vernunft in der Tat nur als die Möglichkeit einer solchermaßen privilegierten Erkenntnisperspektive gedacht werden. Damit gewinnen wir jedoch nicht die zu der Perspektive Gottes gehörenden Erkenntnisse; können also Gott und seine die wirkliche Welt schauende Perspektive gerade nicht angemessen bestimmen.50 Der Ertrag einer Konstruktion der Perspektive des "Auges Gottes" liegt in den dabei zu gewinnenden Kennzeichen, die eine vollständige und allgemeine Erkenntnis auszeichnen. Die Möglichkeit eines Erkennens aus der Perspektive Gottes ist dann als Regulativ für jegliches menschliche Erkennen zu verstehen, in dem der Impuls liegt, das menschliche Erkennen nicht auf die Grenzen der je eigenen Perspektive zu beschränken, sondern sich die in anderen Perspektiven gewonnenen Erkenntnisse verstehend anzueignen und ins kritische Gespräch miteinander zu bringen, um gemeinsam einen Erkenntnisfortschritt in Richtung auf Vollkommenheit und Allgemeinheit zu erlangen.

Die Bedeutung der Möglichkeit einer Erkenntnis vom Standpunkt des intellectus divinus aus besteht des weiteren darin, dass die von den Individuen perspektivisch erkannten und begriffenen möglichen Welten von der wirklichen Welt zu unterscheiden sind. Doch gerade dadurch konzentriert der Gedanke der vollkommenen göttlichen Erkenntnis das menschliche Erkennen auf die wirkliche Welt, die trotz verschiedener perspektivischer Rekonstruktion allen Individuen gemeinsam ist.

Für Leibniz ist es die Liebe zu Gott, die nach einem möglichst vollkommenen Erkennen der wirklichen Welt streben lässt. Es ist diejenige Welt, die Gott in seiner Güte als die Beste aller möglichen Welten geschaffen hat. Deshalb darf sich auch das menschliche Erkennen nicht mit möglichen Begriffen, mit nur perspektivischen Erkenntnissen oder gar nur mit Aspekten zufrieden geben. Für Leibniz zeichnet es den Menschen aus, dass seine Seele nicht nur ein Spiegel des Universums ist, sondern dass er außerdem Ebenbild Gottes ist. Insbesondere wenn der Mensch die Wissenschaften entdeckt, denen gemäß Gott nach Leibniz Überzeugung alles eingerichtet hat, ahmt er innerhalb seines Bereichs und seiner kleinen von ihm gestaltbaren Welt das nach, was Gott in der großen tut.51 Dazu aber ist es nötig, dass der Mensch die Werke Gottes und damit die wirkliche Welt im Blick hat. Auch deshalb kann er sich nicht mit einer Erkenntnis zufrieden geben, in der die Welt nur von einem individuellen Stand- und Gesichtspunkt aus erschlossen und rekonstruiert ist. Das Erkennen zielt vielmehr auf ein Zusammenführen der vielen perspektivischen Erkenntnisse, in dem diese allerdings so miteinander in ein Streitgespräch gebracht werden, dass an der Wirklichkeit sich die Wahrheit der Erkenntnisse entscheiden muss.

Gott kommt innerhalb dieser erkenntnistheoretischen Konzeption als der Gesamtzusammenhang in den Blick, innerhalb dessen die Welt in der - von Gott in seiner Güte getroffenen - "Unterscheidung von Möglichem und Unmöglichem ... wirklich"52 ist. Auf Grund dessen kann das Denken zwischen möglichen Welten und der wirklichen Welt, zwischen möglichen Begriffen und wahrer Erkenntnis unterscheiden. Gott ist der Grund dafür, dass die wirkliche Welt, auf die die Individuen gemeinsam bezogen sind, nicht in verschiedene raum-zeitlich und personal differenzierte, perspektivisch erfasste und konzipierte Welten zerfällt, sondern diese auf Grund ihres gemeinsamen Grundes eine Einheit bilden, die zwar anders hätte sein können und also kontingent ist, aber eben die wirkliche und nicht nur eine mögliche Welt ist. Die Erkenntnis des das Mögliche vom Unmöglichen unterscheidenden gütigen Gottes als des Grundes der kontingenten Welt bezieht das menschliche Erkennen auf die wirkliche Welt. Der Gottesgedanke zeigt an, dass das menschliche Erkennen nicht alle möglichen Welten, sondern die wirkliche Welt zum Gegenstand hat, so dass nicht alles Mögliche wahr sein kann.

IV. Theologische Konsequenzen

Was folgt nun aus obiger Reflexion des Problems der Perspektivität für die Theologie? Neben den gewissermaßen auf der Hand liegenden Konsequenzen möchte ich meine abschließenden Überlegungen auf zwei Punkte konzentrieren, die sich daraus ergeben, dass bei dem Versuch, einen stimmigen Gesamtzusammenhang des in Perspektiven sich vollziehenden Erkenntnisprozesses aller Individuen zu konstruieren, der Gottesbegriff mit in den Blick kommt.

1. Die Rekonstruktion der Entwicklung des Perspektivenbegriffs und sein exemplarisch angedeuteter hermeneutischer und theologischer Gebrauch zeigen, dass mit der Einsicht in die Perspektivität des Erkennens konsequenterweise auch die Einsicht in die notwendige Inbeziehungsetzung der verschiedenen Perspektiven einhergeht. Dieses Aufeinander-Beziehen der verschiedenen Perspektiven muss jedoch von der Art sein, dass es zu einem gemeinsamen Fortschritt im Sinne nicht nur einer Erweiterung der Erkenntnis, sondern auch im Sinne einer Intensivierung des Erkennens kommt. Dies kann man an der Leibnizschen Gesamtkonzeption aller Perspektiven, wenn man sie unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten in den Blick nimmt, sehen. Bereits Leibniz macht darauf aufmerksam, dass der Rekurs auf die Perspektivität des Erkennens eine Konzeption des Gesamtzusammenhangs aller möglichen Perspektiven fordert. Dieser Gesamtzusammenhang kann jedoch nur unter Bezug auf den Gottesbegriff stimmig konstruiert werden - wenn denn nicht nur mögliche Welten erkannt und im Gespräch kommuniziert werden sollen, sondern es um die Erkenntnis der Wirklichkeit gehen soll.

Wie jegliches andere wissenschaftliche Erkennen kann sich dann auch die Theologie mit dem Aneinanderreihen verschiedener Perspektiven nicht zufrieden geben, sondern bedarf einer sachbezogenen Inbeziehungsetzung der verschiedenen perspektivischen Erkenntnisse. Dies gilt sowohl für die Auseinandersetzung der pluralen Erkenntnisse innerhalb der Theologie als auch mit Erkenntnissen anderer Wissenschaften. Theologisches Erkennen kann sich zur Vermeidung des Streites mit anderen Erkenntnissen nicht auf die jeweils eigene Perspektive zurückziehen, sondern muss die Auseinandersetzung suchen. Gerade der Theologie, die mit dem Gottesbegriff den Gesamtzusammenhang aller möglichen Perspektiven thematisiert, kommt innerhalb des Hauses der Wissenschaften eine besondere Rolle zu.

Die Theologie, die den die wirkliche Welt schaffenden gütigen Gott thematisiert, ist unter der Voraussetzung der Perspektivität des Erkennens die Wissenschaft, die die Voraussetzung reflektiert, unter der die Wissenschaften insgesamt auf Wirkliches und nicht nur auf Mögliches bezogen sind und insofern nicht nur Meinungen, sondern wahre Erkenntnisse hervorbringen können. Insofern rückt die Theologie im Haus der Wissenschaften den Bezug des Erkennens auf die gemeinsame Wirklichkeit und damit die Verpflichtung auf Wahrheit ins Zentrum allen Erkennens und Denkens. Dazu gehört, dass eine Erkenntnis in einer bestimmten Perspektive nicht bereits als eine vollkommene Erkenntnis verstanden werden kann. Das nach Vollkommenheit und Allgemeinheit strebende Erkennen will über die vielfältigen Perspektiven hinaus; und es kann über die jeweiligen Perspektiven hinaus, wenn es auf die Welt, die Gott "in der Unterscheidung von Möglichem und Unmöglichem ... wirklich sein läßt" als die gemeinsame Sache bezogen ist, an der allein der Streit um die Wahrheit der verschiedenen perspektivisch gewonnenen Erkenntnisse entschieden werden kann. Mit der Betonung der wirklichen Welt im Unterschied zu den möglichen Welten, die das menschliche Erkennen in Zeichen rekonstruiert und kognitiv strukturiert, ist nun allerdings gerade keine Herabsetzung der Kategorie der Möglichkeit impliziert. Vielmehr geht es in dem sich immer perspektivisch und in Zeichen vollziehenden Erkennen gerade um die Erkenntnis einer Welt, die wirklich sein könnte. Die wirkliche Welt hat das menschliche Erkennen - im Unterschied zum göttlichen intuitus - (noch) nicht erkannt. Erkenntnistheoretisch geht es also für das menschliche Erkennen um die Rekonstruktion von möglichen Welten, die wirklich sein könnten. Zugleich zeigt die sachbezogene Rekonstruktion der Welt, dass in ontologischer Hinsicht die "wirkliche" Welt offensichtlich eine Welt voller Möglichkeiten ist. Eine Rekonstruktion der Welt, die nicht berücksichtigen würde, dass die Welt sich als Raum von Möglichkeiten entwickelt - und genau dies ihre Wirklichkeit ausmacht -, verfehlte gänzlich die "wirkliche" Welt.

Mit einer präzisen Darstellung der jeweiligen Perspektiven ist zwar schon einiges, für den wissenschaftlichen Diskurs jedoch noch zu wenig erreicht. Denn dann beginnt diejenige Arbeit des Denkens, in der die Erkenntnisse in einen auf ein Einverständnis zielenden Streit miteinander gebracht werden. Für die Theologie impliziert dies, dass sie alle anderen Wissenschaften und ihre Erkenntnisse im Blick haben muss, denen gegenüber sie nicht nur ein wissenschaftliches Fach neben anderen vertritt, sondern im Verhältnis zu denen sie gewissermaßen die erste Dienerin unter all denen ist, die im Haus der Wissenschaften der Erkenntnis dienen wollen. Als die erste Dienerin unter den Dienerinnen des Erkennens bringt die Theologie mit dem Gottesgedanken zum einen die fundamentale Voraussetzung jeglichen auf Wahrheit zielenden Erkennens zur Geltung. Zum andern ist es Aufgabe der Theologie, auf eine Zusammenführung der vielen im Haus der Wissenschaften erarbeiteten Erkenntnisse zu dringen. Interdisziplinarität gehört damit für die Theologie zur Grundeinstellung ihrer Arbeit, aber auch zu ihrer Auffassung von wissenschaftlicher Arbeit überhaupt. Der Theologie kommt damit im Zusammenhang der Wissenschaften die besondere Rolle zu, den Wahrheitsbezug jeglichen Erkennens und den Zusammenhang wissenschaftlicher Erkenntnisse zu thematisieren. Natürlich wird diese Rolle der Theologie immer wieder aus der Perspektive anderer Wissenschaften mit mehr oder weniger plausiblen Gründen bestritten, mit denen sich die Theologie im Einzelnen auseinander setzen muss. Dazu aber ist es nötig, dass innerhalb der Theologie ein klares Bewusstsein dieser eigenen Rolle vorhanden ist, die sich aus der Stellung ihres Gegenstandes zum Gesamten der Wirklichkeit ergibt.

2. Die Theologie ist zweifellos auch ein wissenschaftliches Fach neben anderen Fächern. Sie hat jedoch auch in dieser Hinsicht keinen anderen Gegenstand als den Gott, in dem die wirkliche Welt letztlich gründet. Innerhalb der erkenntnistheoretischen Reflexion kann Gott allerdings nur in abstrakter Begrifflichkeit bedacht werden. In der Theologie dagegen wird, auf Grund des biblischen Zeugnisses sowie des vergangenen und gegenwärtigen Lebens des christlichen Glaubens, Gott als derjenige zum Gegenstand des Erkennens, der sich mit dem ganzen Reichtum seines schöpferischen Lebens als dreieiniger offenbart hat. Bei aller Ausdifferenzierung des Faches im Einzelnen ist die Theologie selbst auf Grund dieses ihres zentralen Erkenntnisgegenstandes auf eine Zusammenführung der in ihren einzelnen Disziplinen und Teilen gemachten Erkenntnisse im Sinne stimmiger Begriffsbildung angewiesen. Dies gilt bei aller Schwierigkeit auch für das Verhältnis von "kirchlicher" und "philosophischer" Theologie, deren Differenz nicht in der Verschiedenheit des Gegenstandes, sondern in unterschiedlichen Reflexionsformen besteht.

Insofern Theologie kritische kirchliche Reflexion ist, kann sie sich dann nicht mit konfessionellen Positionen als Ausdruck verschiedener Perspektiven abfinden, sondern wird von den einzelnen perspektivischen Glaubenserkenntnissen aus auf einen sachgemäßen, stimmigen Begriff hinarbeiten, mit dem Ziel, dass das, was bisher verschieden geglaubt und auch verschieden gedacht wird und deshalb auch als Verschiedenes betrachtet wird, als ein- und dasselbe geglaubt und gedacht wird. Auch im Blick auf die Kirche hat die Theologie die Aufgabe, darauf hinzuweisen, dass nicht alles mögliche wahr sein kann, sondern das Erkennen und Leben der Kirche sich an dem zu messen hat, was wirklich ist.

Die Theologie wird - wenn sie sich selbst innerhalb der Pluralität der Perspektiven des Erkennens und Verstehens zu bestimmen sucht - im Blick auf ihr eigenes Erkennen, im Zusammenhang der Wissenschaften und als kritische kirchliche Reflexion mit ihrer Rede von Gott den Gesamtzusammenhang zur Sprache bringen, in dem sich menschliches Erkennen auf die zwar kontingente, aber wirkliche eine und gemeinsame Welt bezieht. Die Theologie formuliert damit diejenige Voraussetzung, unter der ein auf Wahrheit gerichteter und auf das Einverständnis der Erkennenden zielender Erkenntnisprozess möglich ist: im Einverständnis der Erkennenden über den Gesamtzusammenhang, in dem Erkennen geschieht. "Alles Verstehen gründet ... im Einverständnis" - so hat Ernst Fuchs formuliert.53 Von solchem Einverständnis aus kann sich das immer perspektivisch beginnende Erkennen auf den Weg begeben, der wiederum auf das in wahrer Erkenntnis gründende Einverständnis derer zielt, die bisher in ihren jeweiligen Perspektiven etwas verschieden erkannt und gedacht haben.54

Summary

In epistemology it is unavoidable to be confronted with the problem of perspectivity: what we know and understand we know and understand always in a certain perspective. In present theology this insight is often applied. The conclusion is frequently drawn, that then there can be no true general knowledge: that knowledge is only relatively true, given prevailing perspectives. Perspectives stand out as a unified standpoint or point of view from which knowledge and understanding emerge. Knowledge thus understood does not stand in opposition to objective knowledge but is really its prerequisite. However, the question arises about the relation of the different knowledge people have in different perspectives. In that respect Leibniz has already put forward an unsurpassed model in his Monadology: all possible perspectives can be related to each other. Leibniz's model on perspectives has to be seen in relation to his theory of knowledge, which gives an answer to the question, how knowledge in perspectives is related to general knowledge: knowledge and understanding aim at common and complete knowledge. The concept of God was indispensible for Leibniz's theory of knowledge. This essay finally aims to show the plausibility of this (philosophical) concept of God and to formulate some consequences for theology. In relation to the other subjects at university (philosophical) theology has the special task to thematize the question of truth in any knowledge and the (interdisciplinary) connection between scientific discoveries.

Fussnoten:

1) I. U. Dalferth, Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität, 1991, 97.

2) F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, Bd. 2, 91982, 566.

3) Vgl. z. B. H. Putnam, Reason, Truth and History, Cambridge 1981, 49 ff. Putnam unterscheidet eine externalistische von einer internalistischen Perspektive als zwei Weisen des Philosophierens, deren Differenzen vor allem darin begründet sind, dass sie sich von zwei grundverschiedenen Standpunkten (points of view) aus vollziehen.

4) Vgl. F. Avemarie, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefs. A Very Old Perspective on Paul, ZThK 98, 2001, 282-309, der eine "new perspective" auf das Verhältnis von Jakobus und Paulus und auf die Frage nach der Heilsbedeutung des Gesetzes im Lichte einer "sehr alten" Perspektive prüft.

5) F. Schleiermacher, Dialektik, hrsg. von R. Odebrecht, [Leipzig 1942] 1976, 19 f.

6) Mit dem Begriff der Perspektive wurden ursprünglich Probleme des richtigen Sehens und dessen Darstellung begriffen. Die ursprüngliche Bedeutung des Terminus perspectiva ist wahrscheinlich nicht aus perspicere = durchsehen, hineinsehen, sondern aus perspicere = genau, deutlich sehen; gewiss wahrnehmen herzuleiten. In dieser Bedeutung stellt perspectiva die Übersetzung des griechischen Ausdrucks optike techen dar. In diesem Sinne finden wir den Ausdruck perspectiva beispielsweise in Boethius Interpretation der Analytica posterior des Aristoteles, um damit einen Teil der Geometrie zu bezeichnen. In dieser Bedeutung bleibt der Ausdruck das Mittelalter hindurch erhalten. Vgl. Boethius, Interpretatio Posteriorum analyticorum Aristotelis, Lib. I, cap. 7, MPL Bd. 64, 720C: Boethius gibt ta optika in der Zweiten Analytik (75b 15 f.; vgl. dazu 76a 24 und 78b 37) mit perspectiva wieder: "Propter hoc geometriae non est demonstrare quod contrariorum una sit scientia, sed neque quod duo cubi sit unus cubus, neque alterius scientiae, quod alterius est, sed aut quaecunque sic se habent ad invicem, ut quod alterum sit sub altero, ut perspectiva ad geometriam, et consonantia ad aritmethicam". Vgl. weitere Belege für diese Bedeutung von perspectiva: a. a. O., lib. I, cap. 10 u. 11, MPL, Bd. 64, 726B u. C. Auf Grund der Etymologie kann perspectiva dann definiert werden als das richtige und genaue Sehen. Die entsprechende scientia perspectiva befasst sich mit dem richtigen Sehen, den Gesetzen des Sehens oder den Problemen optischer Täuschung. Zu einem Bedeutungswandel des Ausdrucks Perspektive kommt es dann in der Renaissance. In Albrecht Dürers schriftlichem Nachlass findet sich dafür ein Beleg, in dem er Perspektive von perspicere = durchsehen, hineinsehen hergeleitet verwendet: "Item prospectiua ist ein lateinisch wort, pedewt ein Durchsehung" (A. Dürer, Schriftlicher Nachlaß, hrsg. von H. Rupprich, Bd. II, 1966, 373).

7) G. E. Lessing, Briefe, antiquarischen Inhalts, 9. Brief, in: ders., Werke, hrsg. von H. G. Göpfert, 1974, Bd. 6, 215.

8) G. E. Lessing, Briefe, antiquarischen Inhalts, 10. Brief, in: a. a. O., 221.

9) G. E. Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: ders., Werke, hrsg. von H. G. Göpfert, 1974, Bd. 6, 128. Im Laokoon hatte Lessing auf Grund zweier antiker Bildbeschreibungen, nach denen die beiden Bilder "offenbar ohne alle Perspektiv" waren, behauptet, dass "dieser Teil der Kunst ... den Alten gänzlich abzusprechen" sei (a. a. O., 127). Gegen die Behauptung, Homer sei schon mit der Perspektive vertraut gewesen, da er die Entfernung eines Gegenstandes von einem andern ausdrücklich angibt, und in diesem Sinne ein mit Herden und Hütten und Ställen übersätes Tal wie eine große perspektivische Gegend beschreibe, wie auch auf einem Schild die Figuren unterschiedlich groß dargestellt seien, wendet Lessing ein, dass "die bloße Beobachtung der optischen Erfahrung, daß ein Ding in der Ferne kleiner erscheinet, als in der Nähe ... ein Gemälde noch lange nicht perspektivisch" mache (a. a. O., 128).

10) In der darstellenden Kunst bedeutet Perspektivität dann nicht mehr, das Bild einer Sache so zu zeichnen, wie es in einer gegebenen Entfernung ins Auge fällt, sondern "wie eine jede Sache aus einem gegebenen Gesichtspuncte betrachtet, aussehen müsse". Es geht dann vor allem darum, von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus das Verhältnis der Teile der Sache so darzustellen - um es mit J. H. Lamberts Schrift "die freye Perspektive" zu formulieren -, "damit der Abriß eben so in die Augen falle, als wenn die Sache selbsten gesehen würde" (J. H. Lambert, Die freye Perspektive, oder Anweisung, jeden perspektivischen Aufriß von freyen Stücken oder ohne Grundriß zu verfertigen, Zürich 21774, 1. Abschnitt, 2).

11) G. Boehm, Studien zur Perspektivität. Philosophie und Kunst in der Frühen Neuzeit, 1969, 13.

12) I. U. Dalferth, Kombinatorische Theologie, 89.

13) J. M. Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742), 309, hrsg. von L. Geldsetzer, 1969, 187 f.

14) Chladenius, der - darin Christian Wolff folgend - die sprachlichen Dokumente in dogmatische und historische Schriften einteilt, kann auch die gesamte "systematische Lehrart" als "Sehe-Punckt" bezeichnen, der neben anderen nichtsystematischen Arten, eine Einsicht darzulegen, eingenommen werden kann. "Die Systematische Erkäntniß der Wahrheit, kan also von andern Arten eben dieselben Wahrheiten zu erkennen, durch ihre Gewißheit, Ergötzung, und den ungehinderten Fortgang in Erkäntniß der Wahrheit unterschieden werden ... Da nun die Umstände, warum wir eine Sache so und nicht anders erkennen, ein Sehe-Punckt heisset, ... so kan man auch die allgemeinen Wahrheiten aus einem Sehe-Punckte sich vorstellen; und die Systematische Lehr-Art ist eben eine Art von einem Sehe-Punckte, aus welchem man sich allgemeine Wahrheiten vorstellen kan" (a. a. O., 517, S. 381 f.).

15) R. Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: ders., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, 51968, 211-235.229.

16) Ebd.

17) A. a. O., 230.

18) F. Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus. 1. Teil: Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche, 1990, VIII.

19) A. a. O., IX. Gegen den Anspruch des Erkennens und Denkens auf eine allgemein geltende, beweisende Wahrheit an sich, tritt eine perspektivische Philosophie "für die Anerkennung einer Wahrheit je für mich ein" (ebd.).

20) B. Russell, Our Knowledge of the External World, London 71992, 95.

21) F. Schleiermacher, Dialektik, 21.

22) F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III, 12, in: ders., Werke in drei Bänden, hrsg. von K. Schlechta, Bd. 2, 91982, 860.

23) "Hüten wir uns ..., meine Herren Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher kontradiktorischer Begriffe wie reine Vernunft, absolute Geistigkeit, Erkenntnis an sich" (ebd.).

24) A. a. O., 861.

25) Den Weg von Leibniz in eine perspektivische Konzeption des Universums von seinem Frühwerk an hat jüngst Hubert Busche rekonstruiert: vgl. H. Busche, Leibniz' Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, 1997.

26) Leibniz hat schon in jungen Jahren "ökumenische" Überlegungen entwickelt, in denen er die umfassend allgemeine Glaubenswahrheit aller Konfessionen herausstellte. Deshalb nannte er seine entsprechenden theologischen Beweise, die auch die römische Amtsautorität mit der evangelischen Schriftautorität vermitteln sollten, "Demonstrationes catholicae"; vgl. G. W. Leibniz, Demonstrationum Catholicarum Conspectus (1668/ 69), in: ders., Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 6. Reihe: Philosophische Schriften, Bd. 1, 1971, 494-500.

27) "Der wirkkausalen Naturentzauberung wird zwar ein autonomes Gebiet eingeräumt; weil sie jedoch eine reduzierte Abstraktionsansicht der Natur ist, muss sie durch finale Begründungsprinzipien ergänzt werden" (H. Busche, Leibniz' Weg ins perspektivische Universum, 14).

28) Zur Bedeutung des Ausdrucks "Monade" vgl. G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grace fondés en raison/Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, PhB 253, 21982.

29) G. W. Leibniz, Monadologie 57, PhB 253, 21982, 52/53. Mit Welt bezeichnet Leibniz die perspektivische Beziehung einer Monade auf alles andere. Deshalb gibt es so viele verschiedene Welten, wie es einfache Substanzen gibt.

30) Vgl. A. a. O., 58.

31) A. a. O., 59.

32) A. a. O., 56. Vgl. ders., Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, 3: Jede Monade ist "un Miroir vivant ou doué d'action interne, représentatif de l'univers, suivant son point de veuë et aussi réglé que l'univers lui même: ein lebendiger, der inneren Tätigkeit fähiger Spiegel ..., der das Universum aus seinem Gesichtspunkt darstellt und ebenso eingerichtet ist wie das Universum selbst".

33) G. W. Leibniz, Monadologie, 61. Leibniz Formulierungen deuten aber an, dass ein Erkenntnisfortschritt - und zwar im Sinne einer Intensivierung des Erkennens - möglich ist.

34) A. a. O., 60.

35) Für Leibniz ist es bei der auf diesem Erkenntnisweg unverzichtbaren Kommunikation der Individuen auf Grund der vorausgesetzten extensionalen Übereinstimmung der Vorstellungen der Monaden undenkbar, dass es zwischen den verschiedenen perspektivischen Erkenntnissen der Individuen zu unüberwindbaren Widersprüchen kommen könnte. Vielmehr liegt allen perspektivischen Vorstellungen des Universums "immer und immer ... eine vollkommene Harmonie zugrunde" (G. W. Leibniz, Die Theodizee, PhB 71, 21968, 367). Es kann zwar "dieselbe Sache auf verschiedene Weise repräsentiert werden", jedoch muss dabei nicht nur "stets ... eine genaue Beziehung zwischen Vorstellung und Sache", sondern auch "zwischen den verschiedenen Vorstellungen ein und derselben Sache" enthalten sein (ebd.). An diese verschiedenen Vorstellungen ein und derselben Sache ist anzuknüpfen und zu fragen, wie sie so miteinander in Beziehung gesetzt werden können, dass das Erkennen der Individuen vollkommener wird und damit das Ziel des Erkennens erreicht.

36) Vgl. Aristoteles, Zweite Analytik A 87 b 30-33; Metaphysik 987 b 1-4; 1078 b 17-32.

37) G. W. Leibniz, Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis, in: ders., Die philosophischen Schriften, hrsg. von C. J. Gerhardt, Bd. 4, 1978, 422-426.422; deutsche Übersetzung: ders., Meditationen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen, in: ders., Fünf Schriften zur Logik und Metaphysik, übers. und hrsg. von H. Herring, 1987, 9-17, 9.

38) Leibniz fügt hinzu, dass es auch eine distinkte Erkenntnis von einem undefinierbaren Begriff geben kann, wenn dieser nämlich "ursprünglich und das Merkmal seiner selbst ist" (primitiva sive nota sui ipsius) und d. h. "wenn er nicht aufgelöst werden kann, nur durch sich selbst erkannt wird und so keine weiteren Bestimmtheiten besitzt: Datur tamen et cognitio distincta notionis indefinibilis, quando ea est primitiva sive nota sui ipsius, hoc est, cum est irresolubilis ac non nisi per se intelligitur, atque adeo caret requisitis" (a. a. O., 423).

39) Ebd.

40) Aus der Realdefinition "ginge hervor, daß die Sache von ihr selbst her möglich ist, weil sie sich, als adäquat erkannte, durchgängig in der Widerspruchsfreiheit aller ihr zugesprochenen Eigenschaften präsentiert" (J. Simon, Sprachphilosophie, 1981, 51).

41) Vgl. G. W. Leibniz, Meditationes, 423: "Plerumque autem, praesertim in Analysi longiore, non totam simul naturam rei intuemur, sed rerum loco signis utimur, quorum explicationem in praesenti aliqua cogitatione compendii causa solemus praetermittere, scientes aut credentes nos eam habere in potestate".

42) Blind ist diese Erkenntnis (cognitio caeca), weil im stellvertretenden Zeichen der Sinn der Wörter "dem Geist wenigstens dunkel und unvollkommen vorschwebt: sensus obscure saltem atque imperfecte menti obversatur" (ebd.).

43) Ebd.

44) Vgl. ebd. Dass eine vollendet deutliche und damit adaequate Erkenntnis "blind" genannt wird, deutet darauf hin, dass es bei der Unterscheidung von symbolischer und intuitiver Erkenntnis nicht um eine weitere Stufe der Analyse, sondern um eine zweifache Weise des Aneignens und des Gebrauchs von adäquaten Erkenntnissen geht. Intuitive Erkenntnis ist im Unterschied zur zeichenvermittelten, diskursiven Erkenntnis unmittelbare adäquate Anschauung, die sich am Ideal der Erkenntnis des göttlichen Intellekts orientiert. "Intuitus ist ... 1. direktes Erfassen, und zwar 2. eines nicht weiter Analysierbaren in seiner Ganzheit" (M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA Bd. 26, 21990, 79).

45) "Et quidem quandocunque habetur cognitio adaequata, habetur et cognitio possibilitatis a priori; perducta enim analysi ad finem, si nulla apparet contradictio, utique notio possibilis est: Wenn man nun eine adäquate Erkenntnis besitzt, so besitzt man auch a priori eine Erkenntnis ihrer Möglichkeit; denn wenn man die Analyse bis zum Ende durchgeführt hat und wenn dann kein Widerspruch sichtbar wird, so ist der Begriff möglich" (G. W. Leibniz, Meditationes, 425). Eine adäquate Erkenntnis ist die Erkenntnis der Möglichkeit eines Begriffs und damit auch der begriffenen Sache. Im Unterschied zu Nominaldefinitionen, die nur die Merkmale einer Sache enthalten, um sie von anderen zu unterscheiden ("definitiones nominales, quae notas tantum rei ab aliis discernendae continent") ergibt sich aus Realdefinitionen die Möglichkeit einer Sache ("definitiones ... reales, ex quibus constat rem esse possibilem" - a. a. O., 424 f.).

46) M. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, 84. "Das in der adäquaten Erkenntnis Erkannte ist der Zusammenhang der unter sich verträglichen Bestimmtheiten einer Sache, und zwar ist die Sache, wenn adäquat erkannt, gerade hinsichtlich der Verträglichkeit ihrer Realitäten erkannt" (ebd.).

47) Ebd.

48) Vgl. G. W. Leibniz, Monadologie, 38.

49) Nach Hilary Putnam kann eine solche von "the God's Eye view" her konstruierte externe Perspektive durch drei Behauptungen charakterisiert werden:

(1) Die Welt besteht aus einer feststehenden Gesamtheit geistesunabhängiger Gegenstände.

(2) Es gibt genau eine wahre und vollständige Beschreibung dessen, wie die Welt aussieht.

(3) Zur Wahrheit gehört eine Korrespondenzbeziehung zwischen Wörtern/Zeichen und äußeren Dingen; vgl. H. Putnam, Reason, Truth and History, Cambridge 91992, 49. Vgl. dazu H.-P. Großhans, Theologischer Realismus. Ein sprachphilosophischer Beitrag zu einer theologischen Sprachlehre, 1996, 20-104.

50) Vgl. G. W. Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, 18: "Parce que Dieu étant infini, ne sauroit être connu entiêrement".

51) Vgl. a. a. O., 14.

52) E. Jüngel, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit. Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre, in: ders., Unterwegs zur Sache, 32000, 206-231, 222.

53) E. Fuchs, Hermeneutik, 41970, 136.

54) Das "Einverständnis ist faktisch sowohl Folge als ... auch Voraussetzung einer Entsprechung zwischen Wesen, die sich verstehen und eben deshalb gemeinsam, nicht nur miteinander, sprechen können" (E. Fuchs, Marburger Hermeneutik, 1968, 176).