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Ausgabe:

Februar/2003

Spalte:

127–138

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hermelink, Jan

Titel/Untertitel:

Organisation der christlichen Freiheit.

Beispiele, Tendenzen und Programme gegenwärtiger Kirchenreform

Die literarischen Debatten wie die praktischen Initiativen zur Kirchenreform, die den deutschen Protestantismus in der Moderne begleiten, haben in den letzten Jahren ein neues Stadium erreicht, dessen Eigenart hier skizziert und praktisch-theologisch reflektiert werden soll.1

Ihren äußeren Grund hat die neue Qualität der Reformbewegung in der Verknappung der materiellen Ressourcen kirchlicher Arbeit. Seit Anfang der 1990er Jahre bewegen sich die Kirchenaustritte auf einer bis dato unerreichten Höhe von mindestens 0,7 % pro Jahr; und seit Mitte des Jahrzehnts sinken - auch im Zusammenhang der Wiedervereinigung - die kirchlichen Einnahmen, mitunter in dramatischem Tempo. Damit sind die Kirchenleitungen unter einen bislang nicht gekannten Entscheidungsdruck geraten, auf den sie zunächst mit der Kürzung von Personalstellen und Arbeitsbereichen sowie mit weit reichenden Strukturveränderungen reagiert haben.

Eine inhaltlich-theologische Reflexion dieses Wandels wurde zunächst von Gruppen geleistet;2 seit einigen Jahren mehren sich jedoch offiziöse, vor allem landeskirchliche "Leitlinien", "Perspektiven" oder "Zielorientierungen", die z. T. heftige Diskussionen ausgelöst haben.3 Viele dieser Programme setzen mit einer Skizze des gesellschaftlichen Wandels ein und verweisen auf religiöse Pluralisierung, auf zunehmende Entkirchlichung in Lebenswelt und Öffentlichkeit. Während diese Phänomene jedoch seit langem beschrieben werden, betreten die Texte dort Neuland, wo sie nach den Konsequenzen jener Trends für die sichtbare Kirche selbst fragen - hier fallen neuerdings Stichworte wie "Mitgliederorientierung", "Leitbildentwicklung" oder "strategische Leitung". Auch gegenwärtige Programmbegriffe - etwa "Unternehmen Kirche"4 oder "Mission"5 - zielen vor allem auf den Zusammenhang von (gesellschaftlicher wie individueller) Wirkung der Kirche und ihrer konkreten Gestalt, ihrer Organisation.6

Die Wahrnehmung gesellschaftlich-religiösen Wandels und veränderter struktureller Bedingungen kennzeichnet seit den 1990er Jahren auch die meisten praktischen Neuerungen des kirchlichen Handelns. Um der Anschaulichkeit willen sollen zunächst einige jener Praxisinitiativen und -projekte skizziert werden (I). Im Anschluss an diese exemplarischen Schnappschüsse sind die Entwicklungstendenzen zu umreißen, die sich in der Praxis wie in den genannten kirchlichen Programmen finden (II), und sodann einschlägige praktisch-theologische Entwürfe zu würdigen (III). Der Durchgang durch die verschiedenen Schichten gegenwärtiger Reformanstrengung resultiert schließlich in dem Vorschlag, sich perspektivisch am Motiv der organisatorischen Selbstbindung christlicher Freiheit zu orientieren (IV).

I. Exemplarische Neuerungen

1. Kircheneintritt/Kirchenaustritt

Seit Mitte der 1980er Jahre sind in zentralen Kirchen, etwa im Berliner Dom, bei Großveranstaltungen oder in eigenen City-"Kirchenläden" Wiedereintrittsstellen eingerichtet worden, die erhebliche öffentliche, aber auch innerkirchliche Aufmerksamkeit erfahren. Getaufte, aber ausgetretene Menschen können sich hier über das kirchliche Leben und seine Grundlagen informieren, vor allem aber Gespräche über die je eigene, Brüche und Wendungen einschließende Geschichte mit Glauben und Kirche führen - dies kann bis zur Beichte gehen -, und dann an Ort und Stelle wieder in die Kirche aufgenommen werden.

Die Arbeit dieser Stellen wird durch eine rechtliche Liberalisierung ermöglicht, die die meisten Landeskirchen in den letzten Jahren vollzogen haben:7 War der Wiedereintritt bislang an eine Entscheidung des zuständigen Kirchenvorstandes gebunden und vollzog sich - mitunter nach einer längeren Bewährungszeit - in einem gottesdienstlichen und insofern gemeindeöffentlichen Akt, so kann nun, ortsunabhängig, jede und jeder Ordinierte einen Wiedereintritt mit sofortiger Wirkung vollziehen, und zwar auch für eine Gemeinde, die nicht die Wohngemeinde des Betreffenden ist.

Die genannten zentralen Stellen, aber auch einzelne Kirchenkreise und Gemeinden werben ausdrücklich für den Wiedereintritt: Plakate und Flyer nennen "gute Gründe, in der Kirche zu sein"; in Gemeindebriefen, aber auch in Tageszeitungen kommen - mit spürbarer Resonanz - Einzelne zu Wort: "Ich bin (wieder) in der Kirche, weil ...".8 Auf diese Weise wird die kirchliche Mitgliedschaft zu einem öffentlichen Thema; zugleich wird deutlich, wie diese Mitgliedschaft verwoben ist mit je persönlichen, lebensgeschichtlichen Entwicklungen und Entscheidungen.

Gestiegene Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von kirchlicher Bindung und individueller Biographie dokumentiert sich auch im gegenwärtigen Umgang mit dem Kirchenaustritt.9 Immer mehr Gemeinden richten an die Ausgetretenen einen persönlichen Brief, der nicht nur Bedauern äußert und die kirchenrechtlichen Folgen nennt, sondern der vor allem nach den jeweiligen Gründen des Austritts fragt - mitunter wird ein Fragebogen beigelegt, oft ein Gespräch angeboten. Zu dieser Nachfrage treten Hinweise auf die seelsorgliche und soziale Arbeit der Kirche bzw. der jeweiligen Gemeinde - gelegentlich wird auch dafür gedankt, dass der Einzelne diese Arbeit bislang unterstützt hat. Der Brief weist sodann auf weitere Kontaktmöglichkeiten, mitunter auf die Möglichkeit des Wiedereintritts hin. Schließlich wird an den bleibenden Zuspruch der Taufe erinnert oder ausdrücklich ein Segen für den weiteren Lebensweg formuliert.10 Auch über den Austritt hinaus, das markieren diese Briefe, ist der Institution an den Getauften, an ihrem Verhältnis zu Glauben und Kirche gelegen.

2. Gottesdienste für Distanzierte

Seit Beginn der 1990er Jahre wächst die Zahl liturgischer Projekte, die sich ausdrücklich an christlich oder doch kirchlich distanzierte, vom normalen Gottesdienst nicht angesprochene Menschen richten.11 Im Blick auf Zweifelnde wird in zahlreichen Stadtkirchen die "Thomas-Messe" gefeiert; in Niederhöchstadt gibt es einen "GoSpecial" für geistlich Suchende mit inzwischen mehreren Ablegern; auch der stärker familienorientierte "Oase-Gottesdienst" in Giengen/Brenz oder die "Nachteulen-Gottesdienste" in Ludwigsburg werden vielerorts rezipiert.

Alle diese, im Einzelnen sehr unterschiedlichen Initiativen sind programmatisch darum bemüht, die (kritische) Perspektive der jeweiligen Zielgruppe einzunehmen, also - oft durch Befragungen - deren kulturell spezifische Erwartungen zu ermitteln und zum Maßstab einer erlebnisorientierten liturgischen Gestaltung zu machen.

Daraus ergibt sich der vier- bis sechswöchige Rhythmus der Gottesdienste, ihr Zeitpunkt - Samstagabend, später Sonntagvormittag (für Familien) oder -nachmittag, am Ende des Wochenendes -, ihre qualitativ anspruchsvolle, stilistisch jedoch eingängige musikalische Gestaltung sowie vor allem die inhaltliche Einstellung auf die Fragen des jeweiligen Milieus, die in eher themen- als textorientierten Redebeiträgen, und dazu in Anspielen, Interviews mit Experten oder Talkrunden angesprochen werden. Auf die je eigenen Lebenserfahrungen wird auch durch offene Fürbitten oder etwa durch das Angebot persönlicher Segnung Bezug genommen.

Bedeutsam für die Resonanz dieser Projekte, die meist weit über die Parochie hinausgeht, ist nicht zuletzt die Chance, individuelle und gemeinschaftliche Beteiligung in hohem Maße selbst zu bestimmen. Das betrifft den Rahmen des Gottesdienstes, der Raum zum Ankommen sowie vielfältige Gelegenheiten zum lockeren Nachgespräch "über Gott und die Welt" bietet; das betrifft aber auch die Liturgie selbst, der man aus der Ferne wie in engagierter Nähe folgen kann. Eine Schlüsselrolle kommt dabei den - meist aus Ehren- und Hauptamtlichen gemischten - Teams zu, die die Gottesdienste vorbereiten und oft ein eigenständiges geistliches Profil mit beträchtlicher Ausstrahlungskraft entwickeln.

3. Mitarbeitergespräche mit Pfarrerinnen und Pfarrern

In zahlreichen Landeskirchen wird derzeit ein "Mitarbeiter"- oder "Personalentwicklungsgespräch" erprobt oder - etwa in Bayern, Baden und Württemberg - eingeführt, das im Jahresrhythmus zwischen Superintendenten/Dekaninnen etc. und Pfarrern und Pfarrerinnen, oft auch anderen Mitarbeitenden in den Gemeinden geführt wird.12

Die Gespräche werden beiderseits durch Anleitungen und Vorbereitungsbögen strukturiert. Sie umfassen regelmäßig einen gründlichen Rückblick auf einzelne Handlungsfelder und Projekte, auf die Arbeitsbedingungen, auf Kooperation im Team, Arbeitszufriedenheit etc.; sodann eine persönliche Einschätzung der Fähigkeiten und beruflichen Potentiale; die Planung künftiger Schwerpunkte; sowie (meistens) ein "Führungs-Feedback". Das - vertrauliche - Gespräch mündet in konkrete, verpflichtende Zielvereinbarungen im Blick auf Tätigkeiten, Konzepte und Fortbildungsmaßnahmen, deren Erreichung beim nächsten Gespräch überprüft wird.

Die ersten Erfahrungen mit dieser Gesprächsform sind durchweg positiv. Von den beteiligten Pfarrern und Pfarrerinnen wird besonders der gesprächsweise Rückblick als ausdrückliche Anerkennung der eigenen Tätigkeit empfunden - eine Erfahrung, die im kirchlichen Alltagsbetrieb offenbar selten ist. Hilfreich erscheinen auch konkrete Hilfen zur Strukturierung des eigenen Handelns sowie der Blick auf die berufliche Weiterentwicklung.13 Aus der Sicht der Vorgesetzten verbessern die Personalgespräche die Zusammenarbeit der Mitarbeitenden und die Entwicklung regionaler Schwerpunkte. Eine - zunächst oft befürchtete - Zunahme hierarchischer Beziehungsformen wird selten beklagt; eher führen jene Gespräche dazu, das Machtgefälle zwischen ephoraler Leitung und pastoralen "Mitarbeitenden" realistisch wahrzunehmen.

Die - ihrerseits exemplarischen - Probleme der pastoralen Jahresgespräche ergeben sich daraus, dass dieses - in anderen Organisationen seit langem verbreitete - Instrument bislang nicht in einen Gesamtzusammenhang kirchlicher Personalentwicklung eingebunden ist. So scheint es schwierig, die gemeindeleitenden Gremien am Prozess von Austausch und Zielvereinbarung zu beteiligen; auch das Verhältnis zur Visitation ist bislang kaum geklärt. Die Fragen, wie die kirchlich Leitenden für den erheblichen Zeitaufwand der Gespräche (und Schulungen) zu entlasten sind, oder wie ihnen die geforderte Beschränkung auf berufliche, also gerade nicht "seelsorgliche" Dimensionen gelingen kann - diese Fragen zeigen, dass das Verständnis von Leitung in der Kirche insgesamt der Revision bedarf.

4. Regionale Entwicklungsprogramme

Vor allem in Ballungsgebieten versuchen immer mehr Dekanate bzw. Kirchenkreise, die Reforminitiativen einzelner Gemeinden und Arbeitszweige durch eine übergreifende Profilbildung zu bündeln und damit auch inhaltliche Kriterien für Strukturveränderungen zu gewinnen, wie sie z. T. durch knappere Ressourcen notwendig werden.

So hat etwa der Kirchenkreis Dortmund-West eine Analyse der regionalen Bevölkerungsstruktur vorgelegt, der Erwartungen sowie der derzeitigen Schwerpunkte in den Gemeinden verbunden mit Leitsätzen, die die Kirche u. a. als "die Gesamtheit ihrer Mitglieder - [...] derer, die sich regelmäßig und derer, die sich nur bei Gelegenheit am kirchlichen Leben beteiligen" verstehen.14 Aus dieser Orientierung ergaben sich "Querschnittsthemen" wie die Arbeit mit 30- bis 50-Jährigen oder die Einrichtung eines Trauerzentrums, die durch Schwerpunktpfarrstellen gestützt sind.

Das Entwicklungsprogramm "Evangelisch in Nürnberg" formuliert den kirchlichen Auftrag, "daran mit[zu]wirken, dass Menschen ihre persönliche Gottesbeziehung entwickeln können"15 und will die vielfältige Arbeit daher in den nächsten Jahren auf "das Einfache" konzentrieren: "den persönlichen Kontakt, den Ausdruck der Wertschätzung, das offene Gespräch über den Glauben, den Raum für Stille" (2). Von daher werden Ziele im Blick auf "die Anderen" entwickelt - hier geht es u. a. um individuelle Seelsorge, um gottesdienstliche Spiritualität sowie um die Erschließung von Kirchenräumen. Auch im Blick auf die Ermutigung, die fachliche und spirituelle Begleitung der Mitarbeitenden werden konkrete Ziele formuliert und Verantwortliche benannt; ebenso für eine "verbesserte Entscheidungskultur" und für die erforderlichen "organisatorischen Ressourcen".

Dieses Programm steht sachlich in der Tradition des "Evangelischen Münchenprogramms", das 1995 zum ersten Mal versucht hatte, sich konsequent der Denkweise, Methodik und unterstützender Beratung aus der Erwerbswirtschaft zu bedienen.16 In Nürnberg zeigt sich die Prägung durch unternehmerisches Denken etwa in einer detaillierten Operationalisierung, die zu allen Entwicklungszielen konkrete Maßnahmen, Zeitrahmen und überprüfbare Kriterien der Zielerreichung benennt. Deutlich ist auch das Bemühen, Erhebungsdaten - etwa von Mitgliederinteressen, Angebotsnutzung, Mitarbeiterzufriedenheit etc. - mit Zielen und konkreten Leitungsprozessen zu einem einheitlichen und transparenten Steuerungssystem zu verknüpfen.17

II. Tendenzen und paradigmatische Handlungsformen

Die skizzierten wie auch andere Neuerungen der letzten Jahre gehören zunächst in den Zusammenhang einer schon länger andauernden Wendung der Kirche zur gesellschaftlichen wie zur individuellen, biographisch wie kulturell vielfältig bedingten Situation. In diesem Sinne gibt es seit den 1960er Jahren Zielgruppenliturgien; seelsorglich wie homiletisch wird seit Jahrzehnten nach der Lebensgeschichte gefragt; auch die Orientierung an Außenstehenden ist praktisch-theologisch nicht neu. Gleichwohl lassen sich einige Hinsichten benennen, in denen aktuelle Initiativen wie Kirchenleitungsprogramme, ohne jene Wendung zur empirischen Lebenswelt zu verneinen, doch darüber hinausgehen. Besonders anschaulich wird dies an bestimmten Formen kirchlichen Handelns, die in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben und die sich den im Folgenden skizzierten Tendenzen zuordnen lassen.

1. Die Perspektive der Mitglieder - Projektorientierung

Nicht zuletzt auf Grund der einschlägigen kirchensoziologischen Untersuchungen18 ist die Einsicht in die kirchliche Distanz, ja Fremdheit gegenüber der Vielfalt von Lebenswelten und Milieus in den letzten Jahren noch einmal gewachsen - und zwar auch auf der Ebene der Gemeinde, auf der man bisher oft zu wissen meinte, was die Menschen vor Ort dächten. In der Folge werden religiöse Einstellungen und kirchliche Erwartungen inzwischen auch regional systematischer und gründlicher erhoben und in spezifische Handlungsstrategien umgesetzt.

Der Wille, die (Außen-)Perspektive der Mitglieder einzunehmen, äußert sich in der Liberalisierung des Mitgliedschaftsrechts; er hat die Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit befördert und zahlreiche Kommunikationskampagnen angestoßen. Diese Perspektive nimmt die Menschen also dezidiert als (potenzielle) Mitglieder der Kirche wahr; sie fragt ausdrücklich nach den Bedingungen und Möglichkeiten kirchlicher Beteiligung der Einzelnen.

Paradigmatisch für diese Perspektive ist die bei vielen neueren Angeboten anzutreffende Form des Projektes. Ein Projekt lebt von bewussten Beteiligungsentscheidungen, die zeitlich begrenzt und durch eine klare thematische Fokussierung begründet sind. Daher ist kirchliche Arbeit mit Projekten in besonderer Weise zur inhaltlichen Selbstklärung genötigt: Jedes Handeln der Kirche muss sich fragen lassen, ob und wie es - aus der Perspektive der Mitglieder - der Entwicklung und Gestaltung der je eigenen Gottesbeziehung dient, oder einfacher: ob es den Glauben der Einzelnen stärkt.

2. Systematische Begleitung der Mitarbeitenden - Fortbildung

Auch im Blick auf die Mitarbeitenden gehören bestimmte Initiativen, etwa die Förderung des Ehrenamtes oder der berufsübergreifenden Kooperation, schon seit Jahrzehnten zur Programmatik der Kirchenreform. Von neuartiger Qualität dürfte allerdings die systematische Form sein, in der kirchliche Mitarbeit derzeit gepflegt wird: In der Ausbildung werden Kompetenzen für kirchliche Berufe generell sowie für einzelne Handlungsfelder präzise beschrieben; Ehrenamtlichen werden Grundkurse und regelmäßige Begleitung angeboten. Insgesamt wandelt sich die kirchliche Personalverwaltung - allmählich! - zu einer umfassenden Personalentwicklung, die nicht nur an den Schwellen der Mitarbeit - bei der Ausbildung, bei Stellenbesetzungen oder Beauftragungen sowie bei konkreten Konflikten - tätig wird, sondern sich um kontinuierliche Begleitung bemüht. Diese Begleitung vollzieht sich durch Jahresgespräche, durch Supervision bzw. Coaching oder durch regelmäßige Berichte in den zuständigen Gremien. Mindestens in Ansätzen wird inzwischen auch der langfristige Aufbau von Leitungskompetenz und damit einer kirchlichen Karriere gefördert.

Paradigmatisch für diese personalpolitische Systematisierung erscheint der gegenwärtig zu beobachtende Ausbau der landeskirchlichen Fortbildung. Mit der Einführung einer Fortbildungspflicht wird der Erwartung, dass die Einzelnen ihre berufliche Weiterentwicklung aktiv und eigenständig betreiben, ebenso Nachdruck verliehen wie mit einer Systematisierung des entsprechenden Angebots, das beruflichen, persönlichen und - nicht zuletzt - spirituellen Dimensionen Rechung zu tragen versucht. Auch die Kooperation von ehrenamtlichen und beruflichen Tätigkeiten wird häufiger zum Thema.

3. Klärung von Leitungsstrukturen und Leitungshandeln - Zielvereinbarungen

Infolge der aktuellen Engpässe erfährt die strukturelle Dimension kirchlicher Veränderung besonders kritische Aufmerksamkeit. Dabei wiederholen auch die Debatten um die Fusion von Gemeinden und Kirchenkreisen, oder um die Legitimität übergemeindlicher Arbeitsfelder, zahlreiche Argumente aus den 1960er Jahren. Auch wenn gegenwärtig wieder "die Gemeinde" beschworen wird, so ist doch nicht zu übersehen, dass viele der neueren Initiativen - Zielgruppengottesdienste, aber auch diakonische, missionarische und kulturelle Projekte - überregional ausgerichtet sind, auch was die in Gruppen organisierte Mitarbeiterschaft betrifft.

Insgesamt sensibilisiert die von außen aufgenötigte Reorganisation für die Probleme einer überkomplexen, nurmehr historisch zu erklärenden kirchlichen Leitungsstruktur. Im Zuge von Fusionen wird daher versucht, Kompetenzen zu klären, Entscheidungswege zu straffen sowie mehr Laienbeteiligung, etwa an der Finanzplanung, zu ermöglichen.19 Dabei zeigt sich zugleich die wachsende Bedeutung kirchlichen Leitungshandelns, das vielfältige Ansprüche, Organisationsebenen und Zeithorizonte zu koordinieren hat: Unterliegen die kirchlichen Projekte oft raschem Wandel, so ist doch zugleich ein strategischer Blick auf langfristige Trends erforderlich, nicht zuletzt bei der Mitarbeitendenentwicklung.20

Aus den gestiegenen Anforderungen erklärt sich ein tiefgreifender Wandel der Steuerungsformen. Vollzog sich kirchliche Koordination bislang vor allem mit den Mitteln zentraler Rechtssetzung und -aufsicht, die an der Basis durch situativ-informelle, jederzeit revidierbare Verständigung untersetzt wurde, so wird diese Kombination von behördlicher und kleingruppenförmiger Leitung zunehmend ersetzt durch Formen vertraglicher Kooperation: Für eine bestimmte Dauer verpflichtet man sich wechselseitig, partnerschaftlich (gleichsam auf Augenhöhe) und zugleich verbindlich zur Zusammenarbeit; die Leitenden sind dann weniger für inhaltliche Vorgaben als vielmehr für die Abstimmung der einzelnen Vertragsbindungen zuständig.

Zu diesen neuen Steuerungsformen gehört etwa die Budgetierung von Finanzmitteln, oder Vereinbarungen über extern erbrachte Beratungsleistungen. Paradigmatisch für eine solche vertragsförmige Handlungsleitung ist vor allem das Instrument kollektiver wie individueller Zielvereinbarung: Die kirchlich klassische Steuerung durch inhaltlich unspezifische Anfangsimpulse - etwa in Form einer Stellenbesetzung - wird hier ersetzt durch die Orientierung an einem überprüfbaren, ja messbaren "output". Auf diese Weise wird die - pädagogisch wie homiletisch längst übliche - Frage nach der Wirkung des eigenen Tuns präzisiert und zugleich generalisiert, nämlich auf die gesamte kirchliche Handlungssteuerung bezogen.

4. Auf der Suche nach inhaltlichem Profil - Leitbildentwicklung

Je deutlicher das kirchliche Handeln sich einer Vielfalt von Anforderungen und Erwartungen gegenüber sieht, je bewusster es auch seine Konkurrenzsituation zu anderen "Anbietern" von Lebenssinn, Gemeinschaft und sozialem Engagement wahrnimmt, desto eher wird schließlich nach einem spezifischen, inhaltlich-theologisch ausgewiesenen Profil dieses Handelns gefragt.

Die zahlreichen Leitbilder, die daraufhin in den letzten Jahren auf der Ebene von Gemeinden und regionalen Projekten, von Kirchenkreisen und landeskirchlichen Arbeitszweigen entstanden sind, haben freilich verblüffend wenig zu einer solchen Profilierung beigetragen. Dafür scheint es vor allem zwei Ursachen zu geben. Zum einen: Die verbreitete, genuin protestantische Beteiligung möglichst vieler Anspruchsgruppen (innerhalb und außerhalb der Institution) führt zu Texten, die eher den status quo formulieren als innovative Prioritäten setzen. Zum anderen sind viele Leitbilder geprägt von einem Nebeneinander geistlicher Grundsätze und konkreter, verbindlicher Ziele, deren Erreichbarkeit doch - angesichts der Vielfalt der Erwartungen sowie der geistlichen Unverfügbarkeit jedes kirchlichen Erfolges - empfindlich eingeschränkt erscheint.

III. Praktisch-theologische Programme der Kirchenreform

Die inhaltlichen Artikulationsprobleme gegenwärtiger Kirchenreform sind nicht auf praktische Leitbildprozesse beschränkt. Das Verhältnis theologischer Grundsätze und kirchenorganisatorischer Detaillierung ist vielmehr auch auf der Ebene praktisch-theologischer Reflexion durchaus umstritten. Die knappe Durchsicht vier exemplarischer Entwürfe verdeutlicht, ohne Vollständigkeit anzustreben,21 Grundfragen und elementare Spannungen der gegenwärtigen Debatte.

1. Der Sozialethiker Wolfgang Huber, seit 1994 Bischof in Berlin-Brandenburg, hat 1998 die "Kirche in der Zeitenwende"22 im Horizont der christlichen Freiheit reflektiert, die "ihren genuinen Ort in Gemeinschaft und wechselseitiger Verständigung [hat]" (170). Diese "kommunikative und kooperative Freiheit" betrifft zugleich die Öffentlichkeit, in der sich die Kirche als "intermediäre Institution" zwischen individuellen Lebenswelten, partikularen Organisationen und der Gesamtgesellschaft zu verstehen hat (267 ff.). Nur relativ knapp geht Huber auf die "Zukunft der Kirche" ein (223-266), indem er aktuelle Krisen vom Mitgliederschwund bis zur Orientierungsarmut der Kirche umreißt, ihr das Ernstnehmen der eigenen Botschaft, auch ihrer liturgischen Formen empfiehlt und schließlich, eher aphoristisch, "Wege aus der Krise" skizziert.

Huber markiert die für jede kirchentheoretische Reflexion konstitutiven Spannungen zwischen der Freiheit des Glaubens
und der Verbindlichkeit seiner Gemeinschaft, zwischen aktueller Erfahrung und institutioneller Stabilität der Kirche sowie zwischen umfassendem Öffentlichkeitsanspruch und einem inhaltlichen Profil. Es gelingt ihm freilich nicht, diese Programmatik auf die Ebene konkreter Strukturprobleme zu beziehen: Wenn er für eine Pluralisierung von Mitgliedschafts- und Finanzierungsformen plädiert, so bleibt doch offen, wie sich diese Vielfalt im Namen der Freiheit zusammenhalten lässt, ohne "kommunikativ" vereinnahmt zu werden, oder wie sich das Verhältnis von Freiheit und Verbindlichkeit für die Mitarbeitenden der Kirche darstellt.

2. Der Praktische Theologe Herbert Lindner, seit langem in der Fortbildung der bayrischen Kirche tätig, hat seine Gemeindetheorie kürzlich zu einem "Entwicklungsprogramm für Ortsgemeinden" fortgeschrieben.23 Lindner versteht die Kirche als "Teilorganisation der Gesellschaft" (19 ff.), deren gezielte Veränderung durch die Vision "Gemeinsam Leben in Gottes Haus" inspiriert ist (112 f.) und die sich am Leitbild einer für viele Menschen "glaubensfördernden und lebensbegleitenden Kirche" orientiert (115 ff.). Lindner entfaltet dieses Leitbild im Blick auf die Mitglieder, die Angebotsformen, die kommunikativen Mittel, die Mitarbeitenden, die Strukturen und die Leitungsaufgaben; er stellt das Konzept einer Gemeinde vor, die sich auf die kasuell-integrative Begleitung von "Lebensstufen" (183 ff.) und die Dramaturgie des Kirchenjahres konzentriert; und er formuliert spezifische Schritte einer entsprechenden Gemeinde-"Erneuerung".

Dieses Programm nutzt die Impulse unternehmerischen Denkens zur zielorientierten Planung des kirchlichen Handelns, vermeidet aber mit guten Gründen die betriebswirtschaftliche Metaphorik (45-48). Es bricht die Impulse des konziliaren Prozesses auf die Ebene detaillierter Strukturierung herunter und bietet damit ein Handbuch der Gemeindereform aus einem Guss. Eben in dieser anspruchsvollen Vollständigkeit liegt freilich auch eine Grenze. Nur wenige Gemeinden haben bislang den angebotenen Weg gewählt; offenbar wirkt dessen Präsentationsform allzu perfekt und geschlossen. Für das Experiment, für das vorläufige Projekt lässt Lindner wenig Raum. Die Dimension des Unerwarteten ist programmatisch präsent, allzu rasch jedoch wird sie in die lückenlose Systematik der kirchlichen Organisationsreform hinein verrechnet.

3. Manfred Josuttis, bis vor kurzem praktisch-theologischer Lehrer in Göttingen, hat 1997 "Unsere Volkskirche und die Gemeinschaft der Heiligen" gegenübergestellt.24 Er bestreitet den selbstverständlichen Anspruch der Institution, Kirche Jesu Christi zu sein: "Die Kirche der Freiheit will [...] offen gegenüber den Menschen [sein] und setzt auf hybride Weise voraus, daß die Offenheit von Gott her und zu Gott hin in ihr schon vorhanden ist." (27) Die gegenwärtige Kirche existiert in drei Sozialformen (vgl. 34-37): als rational-rechtlich verfasste Organisation, als emotional stabilisierendes Milieu, und als Gemeinschaft der Heiligen, die unverfügbar, durch die Macht Gottes in Wort und Sakrament entsteht und für die Organisation und Milieu bestenfalls "Hilfsdienste" leisten. Diese Gemeinschaft entfaltet Josuttis im Rekurs auf Texte des Epheserbriefes vom "Leib Christi" (38 ff.), der von einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft ebenso scharf unterschieden ist wie die "Fülle der Gottheit" von der soziologisch gesehenen "Leere der Kirchen" (53 ff.) oder die "Erwählung in Christus" von kirchlichen Werbekampagnen (84 ff.).

Josuttis' kritisches Programm schärft den Wahrheitsanspruch biblischer Rede von der unheimlichen, machtvoll einbrechenden "Dynamis" Gottes ein und erinnert an die Wirkung eigentümlich religiöser Handlungsformen, etwa Meditation, Bußgebet oder Segenshandlungen. Das durchweg polemische Verhältnis zur Empirie der Kirche verstellt Josuttis freilich den Blick für die Vielfalt religiöser Biographien und kirchlicher Organisation. Weil er die Gemeinschaft der Heiligen allein im Raum einer Gemeinde für möglich hält, erscheinen alle überparochialen Einrichtungen, namentlich der Aus- und Fortbildung, tendenziell als überflüssig (131 f.). Auch die Fragen inhaltlicher Kooperation zwischen Pfarrer und Pfarrerinnen oder Regionen gelten als rein organisatorische Probleme und werden daher gänzlich ignoriert.

4. Während die Vision einer heiligen Gemeinschaft alle Strukturfragen souverän beiseite schiebt, erlaubt das Programm der missionarischen "Kirche für das Volk", das Michael Herbst seit einigen Jahren als Praktischer Theologe in Greifswald entfaltet,25 einen konstruktiven, wenn auch etwas einseitigen Blick auf konkrete Aufgaben. Die Kirche steht im Dienst der "missio Dei"; sie zielt auf eine verbindliche, persönliche Christusbeziehung, die die Integration in eine geistlich wie ethisch profilierte Gemeinschaft einschließt. Um Kirchen- und Glaubensferne zu diesem Lebensstil einzuladen, können Denkweise und Methodik des Marketing adaptiert werden.26 Die systematische Bedürfnisermittlung, Strategieentwicklung und Zielplanung mündet vor allem in die Entwicklung von Gottesdiensten für Suchende, in gabenorientierter Mitarbeiterschulung und im Aufbau von Hauskreisen und anderen Formen intensiver Gemeinschaft.

Die gegenwärtige Debatte um eine "missionarische" Ausrichtung wird durch Herbsts Beiträge konkretisiert. In dem Bemühen, die Kirche aus der Perspektive kulturell und religiös Distanzierter zu sehen, ihr geistliches Profil zu schärfen und ihr Handeln zu professionalisieren, trifft er sich mit vielen Reforminitiativen. Problematisch wird jene Orientierung dort, wo die Außenstehenden eo ipso als geistlich defizitär erscheinen, und wo die Kirche immer schon zu wissen scheint, welche Form der Gottesbeziehung, welche inhaltliche Überzeugung und welche Sozialform dem Glauben entspricht. Weil das Ziel der Mission feststeht, atmen die konkreten Vorschläge den Geist technischer Machbarkeit; für die spirituelle Kompetenz der "Fernen" bleibt ebenso wenig Raum wie für das unverfügbare, überraschende Handeln Gottes.

IV. Kirchliche Organisationsreform als Folge der Selbstbindung christlicher Freiheit

Unter dem doppelten Druck gesellschaftlichen Wandels und knapper Ressourcen muss sich die Kirche, so ist zusammenzufassen, bewusster als Organisation verstehen:27 Sie muss ihre Bedeutung für die individuelle wie die gesellschaftliche Entwicklung artikulieren; sie muss ihre inhaltlichen Grundsätze in ein Leistungsprogramm umsetzen, das für (potenzielle) Mitglieder identifizierbar wie für Mitarbeitende attraktiv ist; sie muss von daher konkrete Handlungsziele und Leitungsstrukturen ausarbeiten. Es ist dieser - für eine Organisation typische - Zusammenhang von inhaltlicher Orientierung und zielbewusster Gestaltung, der etwa das kirchliche Leitbild der "Mission" derzeit so plausibel macht. Auch die zunehmende Relevanz betriebswirtschaftlicher Denkformen erklärt sich durch die Selbstwahrnehmung der Kirche als Organisation unter Wandlungsdruck: Dann liegt es nahe, Methoden des "Marketing" oder des "Controlling" daraufhin zu prüfen, ob und wie sie Leitungsstrukturen, Berufsbilder und Arbeitsformen auch in der Kirche so systematisieren, dass ein profiliertes, zusammenstimmendes Handeln möglich ist.

Die skizzierten theologischen Programme und praktischen Initiativen zeigen jedoch, dass die Tendenz zur Kirche als Organisation unter eigentümlichen, theologisch begründeten Bedingungen steht. Denn zum einen ist die Vielfalt der Erwartungen und Interessen, denen die Kirche gegenüber steht, nicht allein lebensgeschichtlich und kulturell bedingt, sondern in dieser Vielfalt kommt auch die Freiheit des Glaubens zum Ausdruck, die zu einer selbständigen Lebensführung, auch in einer selbst gewählten Kirchenbeziehung führt. Die Vielfalt der Mitgliedschaft, auch die Vielfalt des kirchlichen Engagements wird darum - aus Gründen des Glaubens - in keine Organisationsform, auch in keine Gemeinschaftsform restlos einzubinden sein. Die Qualität einer kirchlichen Personalentwicklung zeigt sich daher nicht zuletzt darin, dass sie auf jede umfassende Vereinnahmung verzichtet. - Zum anderen findet die Organisierbarkeit des kirchlichen Handelns seine Grenze an der Freiheit Gottes: Er hat sich an das geordnete (!) Handeln von Wort und Sakrament gebunden - aber dessen Wirkung stellt sich nur ein "ubi et quando visum est deo" (CA V). Die Qualität kirchlicher Planung zeigt sich daher nicht zuletzt darin, dass sie diesen Vorbehalt nicht verdeckt, sondern - als Planung, als "Controlling"- die Erwartung von Überraschung, Irritation, auch Fremdheit wach hält, die zur Hoffnung auf Gottes Geist gehört.

Eine praktisch-theologische Orientierung der gegenwärtigen Reformbemühungen wird nun versuchen müssen, die christliche Freiheit nicht als Beschränkung oder gar Bestreitung, sondern als spezifische Begründung eines zielbewussten, strukturierten und koordinierten Handelns zu verstehen, also evangelische Freiheit und kirchliche Organisation positiv aufeinander zu beziehen. Eine solche genuin theologische Orientierung könnte vom Motiv der "Selbstbindung der Freiheit" ausgehen: Zum christlichen Glauben gehört die Erfahrung der Freiheit gegenüber allen bindenden Ansprüchen und Verpflichtungen, auch gegenüber den Ansprüchen der Kirche - aber zugleich gehört zum Glauben die Einsicht, auf die Traditionen und Institutionen des Christentums angewiesen zu sein, um in jener Freiheit bleiben zu können.28

Aus diesem Motiv der genuin zur Freiheit des Glaubens gehörenden Selbstbindung ergibt sich eine Perspektive auf die (potenziellen) Mitglieder der Kirche, die ihre Selbständigkeit auf dem Weg zur Kirche und in der Kirche fördert, die von ihnen, wenn es an der Zeit ist, eine verbindliche, aber stets im Anspruch begrenzte Selbstverpflichtung erwartet, und die offen ist für ein intensiveres, aber auch dann stets eigenständig verantwortetes Engagement.

Der Rekurs auf die Selbstbindung des Glaubens eignet sich ebenso zur Orientierung der Mitarbeit, auch der beruflichen Mitarbeit in der Kirche. So jedenfalls lässt sich die Rücknahme hierarchischer zu Gunsten vertragsförmiger Leitungsformen deuten (s. o. II.3): Die (vor allem pastorale) Handlungsfreiheit äußert sich nicht mehr in der individuellen, gelegentlich individualistischen Ausfüllung eines von oben vorgegebenen Rahmens, sondern in Formen der Kooperation, die aus freier Einsicht vereinbart werden, in Anspruch und Umfang begrenzt sind, die aber in diesem Rahmen verpflichtenden Charakter haben. Kirchliche Personalentwicklung besteht dann darin, Handlungs- und Fortbildungsziele so auszuhandeln, dass Leitende und Geleitete sie aus eigener, geistlich begründeter Einsicht bejahen und sich wechselseitig darauf behaften können.

Insgesamt legt der Ansatz bei der Freiheit des Glaubens es nahe, die kirchliche Reform weniger von der Erfahrung äußeren oder inneren Drucks bestimmen zu lassen als vielmehr von der Frage, in welchen Organisationsformen jene Freiheit für Außenstehende wie für distanzierte und engagierte Mitglieder glaubwürdig zum Ausdruck kommt. Die gegenwärtigen Reforminitiativen erscheinen gerade dort überzeugend, wo sie von der Mündigkeit der Glaubenden ausgehen, um zu einer ebenso verbindlichen wie freien Beteiligung am kirchlichen Leben einzuladen. Eine solche, ihres Grundes gewisse Organisation christlicher Freiheit wird sich um ihre Zukunft nicht sorgen müssen.

Summary

Forced by loss of members and decreasing financial support, the German Evangelical Churches began in the 1990s to ask how the spiritual and missionary aspects of the Church are related to its specific structural shape.

This articles describes some practical paradigms in contemporary reform: seeker services, regional development programs etc. There follows the outline of reform tendencies today such as the perspective of distant members, the development of concise personal management, the restructuring of leadership in terms of coordination, the search for a specific profile. This is followed by a look at published programs which underline the profile of liberty (W. Huber), the need for precise planning (H. Lindner), the difference between biblical perspectives on the Church and its actual administration (M. Josuttis), and the links between the missionary approach and marketing tools (W. Herbst). Finally, the author argues that the experience of Liberty which is basic to the Christian faith does not hinder more systematic organization. On the contrary, the Liberty of faith itself may establish a specific form of Church management which includes elements of planning, control, and the hope for a renewal of God's Holy Spirit.

Fussnoten:

1) Für hilfreich-kritische Impulse im Vorfeld des vorliegenden Textes danke ich Christian Stäblein, Birgit Klostermeier, Reinhard Kähler und vor allem Herbert Lindner.

2) Vgl. etwa Arbeitskreis "Kirche von morgen" [Hrsg.], Minderheit mit Zukunft. Überlegungen und Vorschläge zu Auftrag und Gestalt der ostdeutschen Kirche in der pluralistischen Gesellschaft, Berlin/Hannover 1995.

3) Exemplarisch sind: Leitendes Geistliches Amt der Evang. Kirche in Hessen und Nassau, Auftrag und Gestalt - Vom Sparzwang zur Besserung der Kirche. Theologische Leitvorstellungen für Ressourcenkonzentration und Strukturveränderung, Frankfurt/M. 1995; Ev.-Luth. Kirche in Bayern [Hrsg.], Perspektiven und Schwerpunkte kirchl. Arbeit in den nächsten Jahren, München 1997; Ev. Kirche von Westfalen [Hrsg.], Kirche mit Zukunft. Zielorientierungen für die Ev. Kirche von Westfalen, Bielefeld 2000; Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg [Hrsg.], Leitlinien kirchl. Handelns in missionarischer Situation, Berlin 2001.

4) Zum Stand der Debatte vgl. Joachim Fetzer/Andreas Grabenstein u.a. [Hrsg.], Kirche in der Marktgesellschaft, Gütersloh 1998; Jan Hermelink/Herbert Lindner [Hrsg.], Management als kirchliche Praxis? Zur Zukunft unternehmerischen Denkens in der Kirche; in: PrTh 37, (2002) 4, 242 ff.

5) Vgl. etwa: Kirchenamt der EKD [Hrsg.], Das Evangelium unter die Leute bringen. Zum missionarischen Dienst der Kirche in unserem Land (EKD-Texte 68), Hannover 2001; Eberhard Hauschildt [Hrsg.], Mission!?- ein Reizwort in der praktisch-theologischen Diskussion; in: PTh 91, (2002) 4, 125 ff.

6) "Organisation" bezeichnet also im Folgenden nicht einen kirchlichen Teilbereich, etwa die Verwaltungsstruktur o. ä., sondern eine bestimmte Dimension der ganzen sichtbaren Kirche, nämlich ihre zielbewusste Gestaltung.

7) Vgl. zum Folgenden Jan Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, Göttingen 2000, 171 ff. sowie Hans Christian Brandy, Einladung in die Kirche!; in: Informations- und Pressestelle der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers [Hrsg.], Arbeitsheft Kircheneintritt. Anregungen zur Werbung für die Mitgliedschaft in der Kirche und zum Umgang mit Ausgetretenen, Hannover Juni 2002, 4 ff.

8) Vgl. die Materialien im "Arbeitsheft Kircheneintritt", a. a. O., 16-33.

9) Vgl. Jan Hermelink, Gefangen in der eigenen Geschichte? Zur prakt.-theol. Wahrnehmung des Kirchenaustritts; in: PTh 89, (2000), 36-52. Konkrete Beispiele finden sich im "Arbeitsheft Kircheneintritt", a. a. O., 50-57.

10) Vgl. zum Thema auch: Taufe und Kirchenaustritt. Theologische Erwägungen der Kammer für Theologie zum Dienst der evangelischen Kirche an den aus ihr Ausgetretenen, Hannover 2000 (EKD-Texte, 66).

11) Vgl. den informativen Aufsatz von Michael Herbst, Neue Gottesdienste braucht das Land; in: BThZ 17, (2000), 155-176.

12) Einen systematischen Überblick über Chancen und Probleme dieses Instruments gibt Herbert Lindner, Kontinuität und Systematik. Auf dem Weg zur Personalentwicklung in evangelischen Kirchen; in: PrTh 37, (2002), 253-264.

13) In - bislang nicht systematischen - Auswertungen zeigt sich, dass die Einführung von Personalgesprächen die Frequenz personeller Krisengespräche deutlich senkt; umgekehrt steigt in den beteiligten Kirchenkreisen die Zahl der Fortbildungsanträge (s. auch u. II.2).

14) Hartmut Anders-Hoepgen/Elke Rudloff-Klotz u. a., Informationen zum "Kooperationsmodell" im Evang. Kirchenkreis Dortmund-West, Dortmund 2000 (Typoskript).

15) Steuerungsgruppe "Evangelisch in Nürnberg", "Kirche ist persönlich". Vorlage zur Dekanatssynode im März 2002, 3.

16) Eine Einführung in Grundlagen und Themen des "Evangelischen Münchenprogramms" gibt Herbert Lindner, Spiritualität und Modernität; in: PTh 86, 1997, 244-264.

17) Nicht nur in Nürnberg fällt die Schlüsselrolle für ein solches kirchliches "Controlling" dem Konzept einer "Balanced Churchcard" zu, die Daten über Ressourcen, Angebote und Mitarbeiterentwicklung systematisch mit der jeweiligen "Vision und Strategie" verknüpft, vgl. "Evangelisch in Nürnberg", a. a. O., 33f. und die Studie von Martin Mertes, Controlling in der Kirche. Aufgaben, Instrumente und Organisation dargestellt am Beispiel des Bistums Münster, Gütersloh 2000.

18) Vgl. zuletzt Klaus Engelhardt u. a. [Hrsg.], Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 1997; Gerald Kretzschmar, Distanzierte Kirchlichkeit - eine Analyse ihrer Wahrnehmung, Neukirchen-Vluyn 2001.

19) Diese Ziele verfolgen auch die aktuellen Umstellungen im kirchlichen Rechnungswesen; vgl. Susanne Edel, "Wirtschaftliches Handeln in der Kirche" - ein Projekt der Evang. Landeskirche in Württemberg; in: PrTh 37, (2002), 278-293.

20) Vgl. die detailreiche Arbeit von Günter Breitenbach, Gemeinde leiten. Eine praktisch-theologische Kybernetik, Stuttgart u. a. 1994.

21) Insgesamt kann von einer gründlichen praktisch-theologischen Bearbeitung des Themas bislang keine Rede sein. Verbreitet sind eher essayistische Formen (z. B. Christian Nürnberger, Kirche, wo bist du?, München 2000) oder bunt gemischte Sammelbände; vgl. etwa Heike Schmoll [Hrsg.], Kirche ohne Zukunft? Evangelische Kirche - Wege aus der Krise, Berlin 1999; Wolfgang Ratzmann/Jürgen Ziemer [Hrsg.], Kirche unter Veränderungsdruck. Wahrnehmungen und Perspektiven, Leipzig 2000. - Historisch und prinzipiell orientiert sind Christoph Dinkel, Kirche gestalten - Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Berlin/New York 1996; Lars Emersleben, Kirche und Praktische Theologie, Berlin/New York 1999; Martin Kumlehn, Kirche im Zeitalter der Pluralisierung von Religion. Ein Beitrag zur praktisch-theologische Kirchentheorie, Gütersloh 2000. - Kaum interessiert an den aktuellen Reforminitiativen ist Reiner Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evang. Kirche, Berlin/New York 1997. Ein programmatisch missionarisch ausgerichtetes Lehrbuch hat Eberhard Winkler vorgelegt: Gemeinde zwischen Volkskirche und Diaspora. Eine Einführung in die praktisch-theologische Kybernetik, Neukirchen-Vluyn 1998.

22) Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998; vgl. auch: Ders., Kirche, 2. Aufl. München 1988; Ders., Folgen christlicher Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1984.

23) Herbert Lindner, Kirche am Ort. Ein Entwicklungsprogramm für Ortsgemeinden, Stuttgart u. a. 2000; vgl. Ders., Kirche am Ort. Eine Gemeindetheorie, Stuttgart u. a. 1994.

24) Manfred Josuttis, "Unsere Volkskirche" und die Gemeinschaft der Heiligen. Erinnerungen an die Zukunft der Kirche, München/Gütersloh 1997.

25) Michael Herbst, Und sie dreht sich doch! Wie unsere Volkskirche wieder zu einer Kirche für das Volk wird, Asslar 2001; Ders, Gemeindeaufbau im 21. Jahrhundert; in: Georg Lämmlin/Stefan Scholpp [Hrsg.], Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen/ Basel 2001, 369-387.

26) Vgl. Hans-Jürgen Abromeit/Michael Herbst u. a. [Hrsg.], Spirituelles Gemeindemanagement. Chancen - Strategien - Beispiele, Göttingen 2001.

27) Zur Kirche als Organisation vgl. (mit anderen Folgerungen) Eilert Herms, Religion und Organisation; in: Ders., Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990, 49-79.

28) Vgl. die Rekonstruktion einschlägiger Überlegungen von Eilert Herms und Wilhelm Gräb bei Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, a. a. O., 41 ff.81 ff.