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Ausgabe:

Dezember/2002

Spalte:

1243–1262

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sundermeier, Theo

Titel/Untertitel:

Missio Dei heute

Zur Identität christlicher Mission*

Welche Bedeutung hat die Willinger Konferenz von 1952 für unsere Mission heute? Ein Fest kann man um seiner selbst willen feiern. Doch Jubiläumsfeste wollen Impulse geben, Ererbtes so zu verarbeiten, dass sich Perspektiven in die Zukunft auftun und mutig Pfade beschritten werden, die auch über das hinausgehen, was auf der Konferenz selbst gesagt und gedacht wurde. Schlagen wir diesen Weg ein, entsprechen wir dem Selbstverständnis der Konferenz von 1952. Sie wollte nicht "terminus" sein, sondern "milestone",1 Meilenstein auf dem Weg zu einem vertieften Verständnis der Mission und einem erneuerten Aufbruch, den "Gehorsam des Glaubens" unter den Völkern aufzurichten. Der Ausdruck "missio Dei" fiel auf der Konferenz nur beiläufig und wurde erst im Nachhinein durch die Publikation von G. Vicedom2 zu dem Begriff, der Neuansatz und Botschaft der Konferenz präzise zusammengefasst hat. Zum ersten Mal wurde umfassend die Mission in der Gotteslehre selbst verankert. Das hatte zunächst eine entlastende Funktion, denn die Mission, noch auf der ersten Weltmissionskonferenz in Edinburgh als das große Ereignis dieses Jahrhunderts ausgerufen, war nach dem 2.Weltkrieg erneut in die Krise geraten. Mehltau legte sich auf die Erwartungen. "At Witby, in 1947, we hoped that the most testing days of the Christian mission, at least for our generation, lay behind us ... But here at Willingen clouds and thick darkness surround the city, and we know with complete certainty that the most testing days of the Christian mission in our generation lie just ahead".3 Große, verheißungsvolle Missionsfelder wurden geschlossen (z. B. China). "Mission unter dem Kreuz" charakterisierte die Stimmung, die nicht mehr von Aufbruch, sondern von Besorgnis, wenn nicht Depression gekennzeichnet war. Da wurde die Verankerung der Mission in Gott selbst so etwas wie eine Entlastung. "Die Sach' ist dein, Herr Jesu Christ", so hatte man schon immer in Missionskreisen gesungen, nun aber gewann dieser Satz eine neue theologische Dimension. Gott, der dreieinige Gott, ist selbst Initiator, Missionar und Vollender der Mission. Da jedoch die Frage nach der "missio hominum" nur beiläufig gestreift wurde, setzten sich die vor der Konferenz sichtbar gewordenen Differenzen auch nach der Konferenz fort und sind bis heute im Hintergrund der missionstheologischen Diskussion wirksam. Auf der einen Seite steht die Ablehnung kirchenorientierter Mission in der Nachfolge von J. Chr. Hoekendijk, der die Kirche als einen "Appendix" der Weltzuwendung Gottes, der eigentlichen missio Dei, ansah.4 Auf der anderen Seite sei exemplarisch W. Freytag genannt, der die Mission der Kirche so aufwertete, dass sie zum Kennzeichen der Zeit vor dem Ende, zum Sinn der Weltgeschichte schlechthin wurde.5 Auch wenn beide Positionen Extreme kennzeichnen, sie sind subkutan weiterhin wirksam. Bis in die Veröffentlichung der Missionszeitschriften der verschiedenen Werke lassen sie sich verfolgen: Auf der einen Seite werden in den Zeitschriften der kirchlichen Missionswerke vorwiegend soziale Probleme der Länder der Kirchen in Übersee angesprochen, in den Zeitschriften der evangelikalen Missionen stehen die persönlichen Glaubens- und Bekehrungserfahrungen im Vordergrund und höchstens das persönliche soziale Umfeld der Mitarbeiter kommt zur Sprache, wenn sie unter fremdreligiösem Druck leiden.

Eine Kompromissformel bietet das Evangelische Missionswerk in Hamburg an: "Selbstverständlich ist Mission Einladung zum Glauben und zum Sprechen über den Sinn des Lebens. Sie ist Einsatz für Befreiung und Arbeit für die Wahrung der Menschenrechte und Würde des Menschen. Mission ist Kampf gegen Rassismus und wirtschaftliche Ausbeutung ebenso wie das Eintreten für Versöhnung und Gerechtigkeit. Mission hat zu tun mit der Schuldenfrage und dem Aufbau einer versöhnten Weltgemeinschaft"6. Auch wenn K. Schäfer deutlich macht, dass für ihn die Evangelisation das "Herz der Mission" ist und die verschiedenen Akzente im Verständnis dessen, was Mission ist, von den jeweiligen Situationen abhängig sei, dem Hoekendijk und seinem Ansatz oft gemachten Vorwurf, er weite den Missionsbegriff so aus, dass er unpräzise und bedeutungslos wird, kann auch er nicht entkommen. Die Differenzkriterien fehlen. Warum firmiert der (Gewerkschafts-)Einsatz für eine gerechtere Welt in Lateinamerika unter "Mission", bei uns aber nicht? Wo ist das Kriterium dafür, einmal eine Demonstration der Globalisierungsgegner dem missionarischen Einsatz zuzuordnen, ein anderes Mal aber nicht? Noch simpler gefragt: Wann wird christliche Bildungsarbeit mit Mission in Verbindung gebracht und wann nicht?7 Wird hier nicht eine Vereinnahmungsstrategie betrieben, die kontraproduktiv ist und dem auch von K. Schäfer intendierten Ziel der Mission Abbruch tut? Wird hier noch die Andersheit des Engagements anderer Menschen, ob kirchenfremd oder nicht, genügend ernst genommen?8

Die Weltmissionskonferenz von Willingen hat uns, wie sich an den folgenden Weltmissionskonferenzen zeigen lässt, in ein Dilemma geführt, das bisher nicht überwunden wurde.9 Nun wäre es vermessen anzunehmen, dass eine Konferenz 50 Jahre später diesen Kraftakt leisten und die Problematik einer endgültigen Lösung zuführen könnte. Ich meine aber, dass in der Willinger Konferenz Spuren zu finden sind, die bisher nicht beachtet wurden. Sie können uns weiterhelfen, aus der Sackgasse der missionstheologischen Diskussion herauszukommen, wie sie in dem Gegensatz von "evangelikaler" und "ökumenischer" Missionstheologie sowie der pluralistischen Religionstheologie (J. Hick u. a.) bis heute die Diskussion gerade auch in der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) bestimmt.10

Bei dieser Spurensuche greife ich Erkenntnisse der neueren Anthropologie auf, die die Identität (man spricht von "Kohärenz des Subjekts") eines Menschen nicht als ein ein für allemal gefundenes, in sich ruhendes Ganzes, sondern eher als einen Prozess versteht, genauer als ein "vierdimensional ausgespanntes Netz". Dieses Netz hat ein "Innen", das schon in sich selbst so etwas wie ein "Universum" ist; es hat ein "Außen", denn es ist wesentlich vernetzt mit anderen Menschen; es ist gekennzeichnet durch Wege, die tatsächlichen oder auch virtuellen Räume, durch die der Mensch geht und die ihn beeinflussen; und schließlich prägen ihn die Zeiten, die er aktiv gestaltet oder passiv erträgt.11

Die Sache der Mission ist solch ein kohärentes Netz, das durch diese vier Dimensionen konstitutiv geprägt ist. Keine von ihnen darf übersehen oder ausgelassen werden, sonst verfehlt man das, was unter Mission zu verstehen ist, oder verkürzt es.

I. Geheimnis

Das "Innen" der Mission will ich mit einem Begriff umschreiben, der mehrfach in den Texten der Willinger Konferenz erscheint, ohne dass er die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhält und entfaltet: Geheimnis.

"Es ist Gottes Ehre, sein Werk zu verbergen; aber es ist des Priesters Ehre, es zu erforschen". Mit diesem etwas abgewandelten Spruch aus den Sprüchen Salomos (25,2)12, können wir ein wesentliches Kennzeichen vieler Religionen umschreiben. Jede Religion lebt durch ihre Verbindung zum "Heiligen". Das "Heilige" aber ist Geheimnis schlechthin. Was man unter dem "Heiligen" versteht und wie man damit umgeht, das unterscheidet die Religionen voneinander. Für die einen ist das Heilige das Unzugängliche schlechthin. Damit es Geheimnis bleibt, muss es vor Verunreinigung und Entheiligung geschützt werden. Aber auch das Verstehen dieses Geheimnisses darf nicht profanisiert werden. Das wird dadurch verhindert, dass dieses Wissen einer Elite vorbehalten bleibt und der Zugang zum Allerheiligsten nur dieser Elite, den Priestern, offen steht, die sich zu reinigen wissen und die als "heilig" gelten. Das Geheimnis der Religion, das Mysterium Gottes, des Lebens und der Welt ist hier ein "secret" (engl.), ein verschlossenes Geheimnis.

Es ist an dieser Stelle nicht die Aufgabe zu fragen, wie man dieses Wissen empfängt, ob durch Askese, durch Meditation oder durch Gnade wie in Indien, oder ob es als Arkanwisssen durch eine Elite von einer Generation zur anderen weitergegeben wird. Wir halten nur fest, dass auch Israel diese Tradition besessen hat und sich hierin nicht von den es umgebenden Religionen Ägyptens, Assyriens oder Babilons unterschied. Dennoch gibt es in Israel eine Gegentradition, die prophetische: Gott wird im Wort zugänglich. Das Geheimnis wird Schrift und damit öffentlich. Der Text soll deutlich, verstehbar sein. Er spricht nicht verschlüsselt. Er ist jedermann zugänglich, der lesen kann oder dem Vorleser zuhört. Das Mysterium bleibt Mysterium, aber es ist kein "secret" mehr, sondern wird ausgelegt und angeeignet.

In dieser Tradition steht die christliche Religion. Zugleich unterscheidet sie sich davon in doppelter Weise: Nicht ein Text wird Offenbarungsträger, sondern eine Person. Diese Person ist selbst Teil des Mysteriums. Das Mysterium differenziert sich, es geht aus sich heraus, um als Geheimnis erkennbar, zugänglich, verstehbar zu sein. Diese Selbstunterscheidung Gottes wird im Johannesevangelium "missio", "Sendung" genannt. Die Sendung öffnet den Blick in das Geheimnis Gottes und lässt Gott als den dreieinigen verstehen, der allein von Liebe bestimmt ist. Er ist Liebe und entlässt aus sich heraus immer neue "missiones": Die Sendung des Geistes, die Sendung der Apostel, die Sendung der Kirche. Immer ist es der gleiche Vorgang, aus dem gleichen Impuls entstanden: "Gleichwie mich der Vater gesandt hat, sende ich euch ..." (Joh 17,18; 20,21). Das Mysterium der Sendung geht in die Geschichte ein und wird in Geschichten erzählbar. Es soll erzählt werden, es sucht die Öffentlichkeit. Es wird ein "offenbar Geheimnis" (Goethe).

Die Sendung kommt mit dem Tod des Sohnes nicht an ihr Ende, sondern nimmt eine neue Qualität an durch die Auferstehung. Jetzt wird sie entschränkt, universal erzählbar. Das Geheimnis wird durch die Sendung des Geistes jedermann zugänglich, weltweit. Denn dazu hat sich das Geheimnis der Welt geöffnet, auf dass - oder sollten wir lieber übersetzen: so dass - die Welt teilhat an diesem Geheimnis.13 Sie darf, sie kann, sie soll glauben. Der Zugang zu Gott steht allen offen. Allen ist Rettung verheißen: Juden, Judenchristen, "Heiden". Weder zählt die bisherige religiöse Zugehörigkeit noch zählen soziale oder ethnische Bindungen.

Dass die Jünger dies anfangs nicht verstanden haben, macht Apg 10 deutlich. Petrus muss durch eine Spezialoffenbarung lernen, dass die bisherigen Tabus der Religion, auch die der jüdischen Religion, nicht mehr gelten. Das offenbare Geheimnis Gottes, die Sendung - in der, dogmatisch gesprochen, die immanenten und ökonomischen Relationen der drei Personen zusammenfließen - evoziert aus innerer Notwendigkeit die missio hominum. Der christliche Glaube kann nicht anders als missionarisch zu sein. Die christliche Religion ist essentiell missionarische Religion.

II. Freiheit

Es mag überraschen, dass an solch prononcierter Stelle "Freiheit" als zweite Dimension der Identität christlicher Mission genannt wird. Die Mission begegnet immer wieder dem Vorurteil, sie verbreite religiösen Zwang, knechte Gewissen und habe kolonialen Abhängigkeiten den Weg bereitet. Angesichts der fraglos vorhandenen Verdrehungen und Missbräuche von Missionsunternehmungen muss heute an den eigentlichen Sinn und Kontext von Mission erinnert werden. Und der lautet: Freiheit. In vierfacher Weise gehört zur Mission Sache und Geschmack der Freiheit.

1. Gott kommt als der Liebende zum Menschen.14 Ein Liebender sucht phantasievoll nach einem Weg, die Aufmerksamkeit des Gegenübers auf sich zu ziehen. Er sucht höchst sensibel einen Weg zum Herzen des anderen. Dabei wird die Entscheidungsfreiheit des anderen vorausgesetzt, die Werbung abzulehnen oder anzunehmen. Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit, den von der Liebe bestimmten Weg zum Herzen des anderen zu suchen. Liebe kann nur im Raum der Freiheit entstehen und wachsen. Liebe sensibilisiert deshalb für das Verhalten des anderen und stimuliert die Phantasie des Liebenden. -

Das ist die Weise der missio Dei. So kam der erste Missionar, Jesus selbst, zu den Menschen. Der Weg der missio Jesu ist auch der Weg der missio hominum. Ihr Kennzeichen ist die Sensibilität eines Liebenden, der sich im Vorfeld der Begegnung auf den anderen einstellt und ihn mit liebenden Augen sucht und begleitet. Es ist die Haltung der "kenosis" (Phil 2).

2. Mission respektiert die Freiheit des anderen. Ohne diesen Respekt vor der Würde des anderen Menschen kann und darf es Mission nicht geben. Stimmt dieser Satz mit der Wirklichkeit überein? Führt die Mission nicht in Unfreiheit, insofern der Glaube Unterwerfung und Gehorsam fordert? Jesus beschreibt das Verhältnis zwischen ihm und denen, die sich seiner Liebe geöffnet haben, mit dem Begriff der Freundschaft. "Ihr seid meine Freunde" (Joh 15,14). "Freund" ist nicht irgendein beliebiger Begriff zwischenmenschlichen Verhaltens, vielmehr gebraucht Jesus einen Begriff, der im Alten Testament das exklusive Verhältnis zwischen Gott und Mose beschreibt. Zu Mose hat Gott geredet wie ein Freund zu seinem Freunde (Ex 33,11)!15

Freundschaft gründet auf dem Boden der Freiheit. Sie schenkt Vertrauen und empfängt Vertrauen. Sie gewährt dem anderen einen weiten Raum (Ps 31,9), einen Raum, der nicht einengt, sondern befreiend wirkt zur Entfaltung der eigenen Gaben. Freunde freuen sich am Gelingen, Fortkommen und Wachsen des anderen. Sie stärken sich gegenseitig. Sie sind einander "treue Helfer zur Freiheit und Menschlichkeit" (D. Bonhoeffer).16 Freundschaft ist Freiheit und Treue in einem. Wenn Jesu Sendung dem dient, dass das Verhältnis zwischen Gott und Mose nun für alle Menschen gilt und sie in dieses Gottesverhältnis gerufen werden, kann auch unsere Mission kein anderes Ziel haben, als Gottesfreundschaft zu verbreiten und das heißt zugleich, zur Freiheit einzuladen. Zur Freiheit sind wir befreit (vgl. Gal 5,1), zur Freundschaft sind wir berufen!

Wenn wir unsere missionarische Berufung unter dem Freiheits- und Freundschaftsgedanken neu durchdenken, hat das nicht nur Konsequenzen im Blick auf die Missionsmethode, sondern auch auf das Verhältnis zwischen den Kirchen und Gemeinden, die miteinander in missionarischer Verantwortung verbunden sind. Auf der Weltmissionskonferenz in Witby (1947) wurde das Schlagwort "partners in obedience" geprägt. Dieser Leitbegriff hat wesentlich dazu beigetragen, das Verhältnis zwischen sendenden und empfangenden Kirchen neu zu gestalten. Noch immer spielt er eine große Rolle in der Verhältnisbestimmung zwischen Partnergemeinden,17 doch muss das Wesen der Partnerschaft dringend neu bestimmt werden. Partnerschaft setzt voraus, dass die Partner gleichberechtigt sind und sich auf einer Ebene von Gleichberechtigten treffen. Der aus dem Geschäftsleben stammende Begriff setzt gemeinsame Interessen voraus. Werden die nicht erfüllt oder haben sie sich überlebt, wird die Partnerschaft schiedlich/friedlich getrennt. Die kulturellen, ökonomischen und sozialen Differenzen aber werden in der Wirtschaft selten genug ernst genommen. Da sie heruntergespielt oder verdrängt werden, scheitern "joint ventures" in der Wirtschaft bis zu 70 %. Auch ökumenische Beziehungen scheitern oft, weil die kulturellen, sozialen und Frömmigkeitsdifferenzen unterbewertet werden. Deshalb muss der Partnerschaftsgedanke durch den der Freundschaft qualifiziert werden. Aus Partnern müssen Freunde werden. Nur wo durch die Gemeindepartnerschaft und aus ihr heraus wirkliche Freundschaften entstehen, sei es zwischen einzelnen Personen, einigen Familien oder speziellen Gemeindekreisen, gelingen Partnerschaften und haben über Jahre hindurch auch bei aufkommenden Schwierigkeiten und Spannungen Bestand! Partner suchen Gleichheit, sind auf gleiche Interessen und Aufgaben angewiesen, der Freund aber freut sich an der Differenz. Er wahrt Distanz, die der Raum der Freiheit ist. Er vermag neidlos den andern zu bejahen, denn er "will anerkennen, will danken, will sich freuen und stärken am andern Geist".18 "Wen der Sohn freimacht, der ist recht frei" (Joh 8,36) - auch zur Freundschaft mit dem kulturell Fremden und fernen Nächsten.

3. Wer sich gegen Mission ausspricht, entscheidet sich gegen Freiheit, denn Mission steht für Freiheit. Um diese prima vista zu steil anmutende Aussage zu untermauern, bedarf es eines kurzen religionsgeschichtlichen Ausblicks. Stammesreligionen sind unmissionarisch. Sie gelten nur im Bereich des jeweiligen Volkszusammenhanges. Das hat einen doppelten Grund. Es gibt keine Glaubenswahrheit, die außerhalb des Volkes Gültigkeit hätte. Auf Menschen außerhalb des Stammes wird oftmals der Begriff "Mensch" nicht angewandt. Sie sind Feinde, potentielle Sklaven und oder im besten Falle durch Bündnisse befriedete Nachbarn.19 Religionszugehörigkeit ist von der Stammeszugehörigkeit nicht zu trennen. Religion wird wie das Leben von einer Generation zur anderen weitergegeben.20 Von diesen primären Religionen unterscheiden sich die Weltreligionen. Sie sind missionarisch, denn sie vertreten eine Wahrheit, die allen Menschen gilt und nicht auf ein bestimmtes Volk beschränkt ist. Das impliziert letztendlich die Gleichwertigkeit aller Menschen, zumindest in dem Sinne, dass alle zur Erlösung bestimmt sind und des ewigen Heils teilhaftig werden können, wie immer das im Einzelnen bestimmt wird. Menschenwürde und Freiheit sind Voraussetzungen und Teil der Wahrheit, die diese Religionen verkündigen. Der Mensch ist würdig und fähig, sich für oder gegen die Wahrheit der neuen Religion zu entscheiden. Es bedarf eines Freiheitsraumes für solche Entscheidung. Dass es den gibt, dafür steht die Mission ein. Ein kurzer Blick in die Geschichte und die sozio-politische Situation verschiedener Staaten belegt diesen Satz. Alle diktatorischen Staaten negieren dieses elementare Menschenrecht, sich für oder gegen eine Religion entscheiden zu können. Aber auch jene Religionen, die sich vehement gegen Mission aussprechen, verweigern Freiheit, selbst wenn sie ihrerseits das Konversionsrecht für die eigene Religion beanspruchen. Nicht nur der Islam ist dafür ein Beispiel, sondern auch der orthodoxe Hinduismus u. a. Hier werden aus religiösen Gründen elementare Menschenrechte verletzt. Es ist ein Zeichen von Toleranz und bedeutet die Respektierung der Menschenwürde, wenn in einem Land Mission erlaubt ist. Wer sich gegen Mission ausspricht, gegenüber welcher Religion auch immer, hat sich gegen Freiheit entschieden!

4. Das "Außen" der Identität evangelischer Mission meint ihre Relationalität. Die Mission kann nicht anders, als sich auf den anderen, den Fremden zu beziehen. Ohne den anderen gibt es sie nicht. Diese Bezogenheit gehört zu ihrem Sein. In doppelter Weise ist sie "exzentrisch": Sie hat außerhalb ihrer selbst ihren Ursprung, in der innertrinitarischen Beziehung und Sendung Gottes, und ist auf den anderen, fremden Menschen bezogen. Da sie durch und durch aus der Freiheit lebt, ist diese Relation als eine dialogische zu bestimmen. Ein Dialog kann nur in Freiheit geführt werden. Er setzt keine Vorbedingungen und ist "ein sich gegenseitiges Öffnen, aus dem Verlangen heraus, vom andern zu lernen und sich von ihm bereichern zu lassen" (U. Schoen)21. Der Dialog besitzt seine eigene Würde. Er ersetzt nicht das Zeugnis, ist aber auch nicht ihr Vorhof. Er darf weder für das Zeugnis instrumentalisiert werden, noch ist er von ihm zu trennen. Sonst verflacht er zu einem freundlichen Austausch von Gedanken, bei dem jeder bleiben kann, der er ist.22 Nein, wer sich im Dialog auf den anderen so einlässt, dass die andere Religion selbst zur Versuchung wird,23 der wird durch den Dialog verändert. Man geht in Glaubensdingen vertieft aus einem Dialog heraus. Ökumenische Erfahrungen lehren aber auch, dass der Dialog nur in einem "Dialog des Lebens" gelingen kann. Konvivenz ist die Bedingung der Möglichkeit des Dialogs.24

III. Pluralismus

Die Identität eines Menschen wird durch Orte und Wege bestimmt. Wo man aufgewachsen ist, der Weg zur Schule, die Schulräume und -träume, der Weg ins Studium, der Weg in andere Länder, dies alles prägt uns bis in die Tiefenschichten unseres Denkens und Erlebens hinein. Erzähl mir die Wege, die du gegangen bist, und ich sage dir, wer du bist.

Weg meint dabei nicht nur die Überwindung von geographischen Distanzen, sondern zugleich die Dynamik, wie die bisherigen Erfahrungsgrenzen überschritten werden, heißt, sich in andere Kulturräume, in andere Religionserfahrungen und -gestaltungen hineinzubegeben und sich ihnen auszusetzen. Weg heißt Identitätsfindung durch Veränderung. Eben das charakterisiert die Mission und macht ihre Identität aus. Mission meint jene Dynamik, die uns auf den Weg gehen lässt zum Fremden, zu dem religiös entfremdeten Menschen, den Gott wieder bei sich haben will. Diese Bewegung zielt auf Veränderung. Zunächst aber ist es der Missionar selbst, der sich verändert. Er muss sich verändern, denn er tritt in ein dichtes Geflecht sozialer und religiöser Interdependenzen hinein und wird Teil von ihnen. Er wird sich entfremdet oder bedroht fühlen durch das, worauf er sich einlässt. Zugleich eröffnen sich Horizonte, die bereichernd sind und sein Leben vertiefen. Wer sich nicht verändert, ist dominant und versucht nur, die anderen zu verändern, denen er begegnet. Das hat nichts mit Mission zu tun.

Die Sendung des Sohnes ist das Beispiel. Wir müssen uns einmal den Weg Jesu vor Augen führen, der ganz sicher als junger Zimmermann in der aufblühenden Stadt Sepphoris, die nur 10km von Nazareth entfernt liegt, gearbeitet hat. Hier ist er den Geldinstituten, dem Theater, der Vielfalt fremder Religionen begegnet. Obwohl er die anderen Religionen dort kennen lernte, hat er später nicht gegen sie polemisiert. Er hat von der "mosaischen Unterscheidung" (J. Assmann)25 keinen Gebrauch gemacht. Und wie hat ihn später die Begegnung mit den Fischern verändert, die er zu sich rief? Hat die Begegnung mit den Frauen in seiner Umgebung ihn nicht verändert? Hätte er sonst, anders als es bei den Rabbinern seiner Zeit üblich und "schicklich" war, Frauen in seiner Nähe zugelassen und sie selbst als seine Schülerinnen zu seinen Füßen akzeptiert, wie es bei Maria der Fall war (Lk 10,38 ff.)! Und wie hat ihn die Begegnung mit fremdreligiösen Menschen verändert! Wir wissen, wie er auf sie eingegangen ist und neue Antworten gegeben hat. Und dann der Verrat des Freundes und schließlich die Erfahrung der Gottverlassenheit am Kreuz. Eine tiefere Veränderung, die ja bis in das Gottesbild dringt, kann es kaum geben. Aber der Weg in die Fremde führte nicht zur Selbstentfremdung, führte ihn nicht von Gott weg, sondern Tod und Auferstehung erschließen seine und damit Gottes Wirklichkeit in einer bis dahin nicht gekannten Weise. Dahinter gibt es kein zurück. Daran ist jede christliche Sendung gebunden.

Wie es Jesu Weg war, die Verlorenen des Volkes Gottes zu Gott zurückzubringen (Mt 15,24), so führt der Weg der apostolischen Mission in die Völkerwelt, um die Völker zu Gott zurückzurufen.

Ist damit die Einheit der Völkerwelt im Blick, die durch die Einheit der Kirche antizipiert wird? Nicht nur in der katholischen Ekklesiologie und Missionstheologie, auch in der ökumenischen Bewegung hat man vielfach so gedacht. Die Gründung des Völkerbundes und die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen wurden durchaus in sachlicher Parallelität zueinander gesehen. In der evangelischen Missionsbewegung war das Ziel bescheidener, man hatte allein die Einheit der Kirchen im Blick. Nicht nur Willingen, alle Weltmissionskonferenzen haben das Thema Einheit der Kirchen behandelt. Dabei stand lange Zeit, auch unter dem Einfluss Genfer Vorstellungen, die organisatorische Einheit der Kirchen im Vordergrund.26 Wie sehr hat man sich getäuscht und Joh 17,21 missverstanden! Als ob auch nur ein Muslim sich bekehren würde, wenn Kirchen sich vereinigen. Wenn zwei Kirchen sich vereinigen, das hat die Kirchengeschichte der Neuzeit gezeigt, gibt es drei Kirchen. Vereinigung bewirkt Multiplikation. Das hat mit der Sünde der Menschen zu tun und ihrem Machtstreben. Vereinigung ist Machtsteigerung, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Kirche. Die Bibel meint es anders. Das lehrt ein Blick auf Gen 11 und Apg 2. Die Aufsplitterung der Menschen in verschiedene Völker, Sprachen und Kulturen war Strafe für die Hybris der Menschen, aber sie war doch so etwas wie "a blessing in disguise". Nun standen zwar Völker gegen Völker, aber es wurde dadurch auch Machtzuwachs in einem einzigen Herrscher und Diktator verhindert.27 Die Geschichte von der Ausgießung des Heiligen Geistes, oft als Umkehrung der Geschichte vom Turmbau zu Babel interpretiert, hebt die Vielfalt der Sprachen und Völker nicht auf, sondern bestätigt, ja verstärkt sie. Anders als im Islam, wo jeder die arabische Sprache sprechen muss, will er Gottes Wort verstehen und Gott angemessen anreden, wird in Apg 2 die Vielzahl der Ethnien rund um Israel ausführlich aufgezählt: Jeder versteht "in seiner Sprache" die Botschaft. Der ethnische Pluralismus ist Segensträger. Der Heilige Geist dringt in den sprachlichen, kulturellen und ethnischen Pluralismus ein. Er lehrt die Menschen nicht das Aramäische, sondern öffnet die jeweilige Sprache für das Geheimnis der Zuwendung Gottes in Jesus, der missio Dei. Keine Sprache hat Vorrang vor der anderen. Aber auch die sozialen Unterschiede und Genderdifferenzen werden durch den Heiligen Geist ihres Ranges beraubt. Männer wie Frauen, Alte wie Junge, Sklaven wie Freie, sie alle werden in gleicher Weise mit dem Heiligen Geist begabt. Damit werden die Differenzen als solche nicht aufgehoben, aber niemandem mehr wird ein Vorrang eingeräumt, jeder Dominanzanspruch verliert sein Recht. Gereinigt können die Differenzen als Charismen in den Dienst gestellt werden. Der Heilige Geist verstärkt den geschöpflichen, sozialen und individuellen Pluralismus, aber er tut es so, dass die Differenzen nicht mehr als trennend und Feindschaft verstärkend empfunden werden. Sie werden in ein Interdependenzverhältnis gebracht, das durch Hören, Verstehen und Helfen gekennzeichnet ist und zum gemeinsamen Gotteslob führt. Fremdheit kann überwunden werden, Verständigung wird möglich, Vertrautheit kann wachsen, Gemeinsamkeiten stellen sich ein. Aus Fremden können Freunde werden.

In der Mission hat man schon immer von diesem Pluralismus gewusst und ihn im Problemfeld von Indigenisierung und Inkulturation ausführlich diskutiert. Stärker als bisher muss aber dabei berücksichtigt werden, dass Einheit nicht gegen Pluralismus stehen darf, sondern die Vielfalt vom Geist gewirkt ist. Es ist die Aufgabe missionarischen Handelns, dass aus dieser Vielfalt Kräfte freigesetzt werden für eine immer intensivere Erfüllung der Aufgabe, zu der Jesus seine Kirche berufen hat: das glaubwürdig zu sein, was sie ist, Licht der Welt und Salz der Erde.28

Was bedeutet dieser pluralistische Weg der missio Dei für die Beurteilung der Religionen? Ist die Konsequenz aus unseren Überlegungen die Forderung nach einer pluralistischen Theologie der Religionen? Nichts wäre falscher, als diese Konsequenz zu ziehen. Ohne das Problem hier auszudiskutieren, will ich zwei Einwände nennen. Diese Entwürfe gehen cum grano salis davon aus, dass alle Religionen dem gleichen Ziel der Erlösung des Menschen dienen, also auf ein gemeinsames Ziel zugehen. Damit interpretieren sie die anderen in ihren eigenen Kategorien. Die Differenzen werden nicht aus- und nicht durchgehalten. Dieser Ansatz wäre für bestimmte Schulen des Hinduismus typisch und angemessen, widerspricht aber dem Respekt, den wir als Christen für die Differenz der anderen aufbringen müssen - aus Liebe zu ihnen! Man muss geradezu sagen: Die pluralistische Religionstheologie ist nicht pluralistisch genug!29 Der andere Fehler besteht sowohl in der pluralistischen als auch der evangelikalen Beurteilung der Religionen darin, dass man sich ein Urteil anmaßt, das Gott allein zukommt. Wie kann ich, der ich nicht einmal Teil der anderen Religion bin, ihre Riten ebenso wenig teile wie ihre Bekenntnisse, darüber urteilen, ob in dieser Religion ewiges Heil erlangt wird oder nicht! "Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet", warnt Jesus (Mt 7,1). Dagegen lautet sein Auftrag: "Du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes" (Lk 9,60).

IV. Dichte Hoffnung

Mission ist nicht zeitlos. Sie ist "Mission im Blick aufs Ende"30. Die Verkündigung des "Reiches Gottes" war seit ihrem Beginn Movens evangelischer Missionsunternehmungen und gehört zum Urgestein christlicher Missionstheologie. Doch was ist darunter zu verstehen? Die Konferenz in Willingen hat drei Bedeutungen unterschieden: Das Reich Gottes meint 1. das gesamte bewohnte Gebiet der Welt. Darum sind die Christen Botschafter bis zu den äußersten Enden der Erde; 2. ist die Kirche zu "jeder sozialen, politischen und religiösen menschlichen Gemeinschaft, ob sie nah ist oder fern" gesandt; 3. muss Christi Herrschaft "in jedem Augenblick und in jeder Situation" verkündigt werden. Mission umfasst "die geographische Ausdehnung genau so wie die intensive Durchdringung aller Lebensgebiete".31 Mit diesem Votum hat die Konferenz Interpretationen des Reiches Gottes zusammengefügt, die inhaltlich durchaus konträr zueinander standen. Geht es um das individuelle Heil oder um das soziale? Kommt das Reich Gottes durch Gott oder sind die Menschen für sein Kommen verantwortlich bzw. helfen sie mit, sein Kommen zu beschleunigen? Die Konferenz in Edinburgh (1910) hatte die geographische Dimension betont, allerdings auch die zeitliche Dringlichkeit hervorgehoben. Das Kommen des Reiches, resp. die Wiederkunft Christi ist davon abhängig, so die allgemeine Überzeugung, dass zuvor alle Menschen das Evangelium gehört haben (vgl. Mk 13).

Seit der Weltmissionskonferenz in Jerusalem (1928) stand mehr und mehr die soziale Dimension im Vordergrund. Unter dem Eindruck der Befreiungstheologien lateinamerikanischer und südafrikanischer Provenienz beherrschte sie die Konferenz in Melbourne (1980), die unter dem Thema "Dein Reich komme" stand. Dass es vor allem diese sozio-politische Interpretation war, die zu einer Spaltung der Weltmissionskonferenzen und zur Gründung der Lausanner Bewegung führte, ist bekannt und muss hier nicht weiter ausgeführt werden.32 Für uns genügt es festzuhalten, dass diese Differenz schon auf der Stockholmer Konferenz von Faith and Order (1925) zu vehementen theologischen Auseinandersetzungen führte, für die Weltmissionskonferenzen der Gegensatz jedoch erst nach Willingen virulent wurde. An der gegensätzlichen Interpretation des Missio Dei-Gedankens lässt sich das festmachen. Ich verweise exemplarisch auf J. Chr. Hoekendijk. Er versteht unter Mission die gesamte Zuwendung Gottes zur Welt, die "Totalität dessen, was auf Gottes Geheiß und Initiative in der Welt ... vor sich geht". Kirche und Mission sind dabei höchstens so etwas wie "ein erklärendes Postskriptum", ein "Appendix", temporär nötig um der Verhärtung unserer Herzen willen. Aber schon bald wird die Zeit kommen, da es eine "Platitude" oder eine "baalistische Häresie" sein wird, von dem "Proprium der Mission" zu sprechen.33 Die missio Dei dient der "Schalomatisierung des gesamten Lebens", so dass Menschen wieder Menschen und "Dinge wieder (nicht mehr Idole oder Material, sondern) Dinge sein können".34 Gegen diese Interpretation der missio Dei und des Reich-Gottes-Gedankens hat sich vehement die pietistische ebenso wie die kirchliche Mission gewandt, wobei sich im Verlaufe der Missionskonferenzen die Gegensätze immer mehr verhärteten. W. Freytag hatte schon im Vorfeld der Konferenz von Willingen sowie danach versucht,35 sie durch die eschatologische Neuausrichtung der Mission zu überwinden. Auch wenn sein Bemühen vergeblich war, es lohnt sich, diesen Weg noch einmal zu beschreiten.

Zeit, die vierte Dimension missionarischer Identität, muss auf Grund der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu in diesem Kontext zentral bedacht werden. Mission geschieht in Raum und Zeit. Sie ist eingespannt in die Zeitereignisse, die mit dem Jesus von Nazareth beginnen und die in der endgültigen Epiphanie des Reiches ihr "telos", ihr Ziel und Ende, finden. Zeit ist die eigentliche Grundierung, vor der erst die Identität christlicher Mission aufleuchtet, der entscheidende Kohärenzfaktor, der die vielen Facetten missionarischer Einsätze zusammenbindet. Das hat W. Freytag richtig erkannt. Aber was ist im missiologischen Kontext unter "Zeit" zu verstehen? Freytags eigener Ansatz konnte die Gegensätze nicht überwinden, da er letztlich mit allen das gleiche Zeitverständnis teilte, das durch das Geschichtsverständnis des 19. Jh.s geprägt war und im Begriff der "Heilsgeschichte" eine in Missionskreisen geradezu kanonische Dignität besaß und noch immer besitzt.36 Dieses Zeit- und Geschichtsverständnis ist postmilleniaristisch geprägt und spiegelt gelegentlich einen "krassen", meist aber einen "chiliasmus subtilis" wider (W. Sparn).

Man erwartet eine soziale und pädagogische Verbesserung des menschlichen Geschlechts (Comenius), ist im Blick auf Frömmigkeit und Kirche durch die "Hoffnung künftiger besserer Zeiten" (Spener) beflügelt, hofft mit providentieller Hilfe auf die Erziehung der Menschheit zur Mündigkeit (Lessing) und erwartet deren "Bildung zur Humanität" (Herder).37 Dem Gedanken des Fortschritts sind entsprechend alle Missionen seit dem 18.Jh. verpflichtet.38 Unter anderer Terminologie setzt sich das Gedankengut der Aufklärung in der Missionsbewegung fort: Die Mission dient der Ausbreitung des Reiches Gottes. Mit der Ausbreitung des Evangeliums breitet sich die Herrschaft Christi aus, die in der einen oder anderen Weise im Millennium mündet (so viele evangelikale Missionen); Missionare sind Mitarbeiter am Bau des Reiches Gottes, indem sie Kirchen in aller Welt bauen (so die konfessionell gebundenen Missionen); sie dienen der sozialen und kulturellen Verbesserung der verschiedenen Völker, indem sie sie mit dem Evangelium durchsäuern (G. Warneck u.a.); sie dürfen mit der kolonialen Ausbreitung des Abendlandes Hand in Hand arbeiten, weil sie zum zivilisatorischen Fortschritt unterentwickelter Völker beitragen; Mission dient der "Humanisierung", ist Friedensdienst, dient der "Schalomatisierung" der Welt (Hoekendijk). In den 80er Jahren konnte Entwicklungshilfe der neue Name für Mission sein.

Zwar war niemand der Überzeugung, dass das Reich Gottes in seiner Endgültigkeit durch Menschenhand geschaffen wird, aber Zeichen des Reiches Gottes müssen aufgerichtet werden. Sein Kommen vorzubereiten ist Sinn der Mission. Doch zugleich ist sie es, die - so in der Interpretation von O. Cullmann von 2Thess 2,6 - sein Kommen aufhält und dadurch Geschichte ermöglicht. Geschichte, die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Kommen Christi, so W. Freytag, gibt es nur, weil Gott in seiner Geduld Zeit zur Mission gewährt. Mission ist der Sinn der "heilsgeschichtlichen Pause".39

Dieses Zeit- und Geschichtsverständnis wird den komplexen biblischen Zeitvorstellungen nicht gerecht. Es orientiert sich an der simplen Zeiteinteilung der römischen Sprache bzw. der indogermanischen Sprachfamilie, die Zeit als "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" bestimmt und sie zwischen diesen Bestimmungen wie einen Fluss in eine Richtung verlaufen lässt. Solche Einteilung macht den Menschen zum Herrn der Zeit. So kann vom vorchristlichen wie christlichen Rom bestimmt werden, wann die Jahreszählung beginnt, was die Mitte der Zeit ist und dass Zeit sich vom Jahre 1 bis zum Ende geradlinig fortbewegen wird. Wer die Zeit einzuteilen weiß, bestimmt über sie, macht sie sich, seiner Ideologie oder Religion untertan und bestimmt die Menschen in ihrem Lebensrhythmus.40



Das hat auch Mohammed gewusst, als er auf seiner letzten Wallfahrt seinen Anhängern verboten hat, der christlichen Jahreseinteilung zu folgen und ihnen vielmehr den Mondkalender als göttliches Gebot auferlegte. Damit richtete er eine tiefe Grenze zu den Christen auf. Trotz dieser Differenz folgte Mohammed, der nicht unwesentlich vom Christentum seiner Umgebung beeinflusst war, dem linearen Zeitdenken römisch-christlicher Prägung.

Wie reduktionistisch diese Zeitvorstellung ist, wird jeder nachvollziehen können, der sich in einem anderen als dem abendländischen Sprachraum bewegt hat. Welche Bedeutung hat es, dass in manchen asiatischen Sprachen das Verb nicht konjugiert wird, wie z. B. im Chinesischen? Es ist der Leser, der darüber bestimmt, wie in den klassischen Texten Chinas der Zusammenhang von Handlungen zeitlich zu deuten ist. Zeit gibt es nicht ohne den Menschen. Er ist es, der Zeit "schafft". Die Zeit lässt ihn gewähren und er gewährt Zeit. Im asiatischen Raum wird allein durch die Sprache deutlich, dass Geschichte, wie es einmal der japanische Theologe und Philosoph Takizawa Katsumi ausdrückte, "Konstrukt des Menschen" ist, dem keine ontologische Qualität zukommt.

Doch was ist Zeit? In den primären Gesellschaften ist Zeit immer Zeit des Menschen. Es gibt eine Zeit des Melkens, eine Zeit, die Kühe auszutreiben, die Zeit des Säens und die Zeit der Ernte. Die Jahre werden nach Ereignissen aus dem Leben des Stammes oder nach Naturereignissen benannt. Einen "Fortschritt" kennt man hier ebenso wenig wie im Alten Ägypten. Auch dort kannte man keine der abendländischen vergleichbare Zeitkonstruktion, sondern war davon überzeugt, dass Zeit den Menschen rituell in Anspruch nimmt und durch ihn in Gang gehalten wird.41 In dem allen spiegelt sich das Zeitverständnis der Weisheit wider. Die Weisheit orientiert sich an der Vergangenheit.42 Sie lebt von der Erfahrung vergangener Generationen, die sich in sprichwörtlichen Redewendungen konzentriert niederschlägt. Die Alten, die Natur sind die Lehrmeister. Darum bewegt man sich in primären Gesellschaften und Religionen gleichsam wie Ruderer mit dem Rücken nach vorn.43 Dieses Zeitverständnis primärer Religionen liegt auch dem Alten Testament zu Grunde. Das schließt andere Zeitkonzepte im Alten Testament nicht aus, sondern sie ergänzen, überlagern sich im Blick auf religiöse und alltägliche Weltbewältigung.44 Ein Zeitverständnis, wie es das abendländische Denken bestimmt, kann ich nicht entdecken.

Auch das Neue Testament spiegelt verschiedene Zeitverständnisse wider. Bei Lukas und Paulus mag das geradlinige Zeitverständnis ansatzweise zu finden sein, denn sie schreiben für römische Bürger. Doch Jesu Verkündigung des Reiches Gottes ist komplexer. Alttestamentlich apokalyptische Zeitvorstellungen sind erkennbar, aber in einer bemerkenswerten Brechung. Vergangenheit spielt in Jesu Reich-Gottes-Verkündigung keine Rolle. Vergangenheit ist abwesend. Damit ist ein einlinig zielgerichtetes Zeit- und Geschichtsverständnis ausgeschlossen. Jesu Verkündigung ist zwar weisheitlich geprägt, doch die weisheitliche Zeitvorstellung wird zentral gebrochen: "Wer die Hand an den Pflug legt und schaut zurück, ist nicht geschickt zum Reich Gottes" (Lk 9,62). Jesu Rede verweist wie die Weisheitsliteratur auf das Jetzt, auf die Gegenwart. Doch die eigentliche Lehrmeisterin ist nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft. Von ihr her muss sich das Leben bestimmen lassen, wenn es gelingen und Freude aufkommen soll. Mit dem Reich der Himmel verhält es sich wie mit einem Kaufmann, der eine köstliche Perle fand und nun alles daran setzt, um diese Perle erwerben zu können (Mt 13,46)! Der verlorene Sohn schaut nach vorn und macht sich in der Hoffnung auf, eine offene Tür zum Vaterhaus zu finden (Lk 10).

Umkehr, Buße heißt bei Jesus Ausrichtung nach vorn!45 Hoffnung leuchtet auf und erleuchtet den Weg! Aber es ist keine vage Hoffnung ins Ungewisse hinein, sondern sie ist konkret, sie hat ein Ziel vor Augen, das schon präsent ist. Sie verdichtet raumzeitliche Zukunft zur Gegenwart, eine dichte Hoffnung.

Was meint das? Man hat in der exegetischen Literatur von präsentischer und futurischer Eschatologie gesprochen, die in Jesu Verkündigung ineinander greifen. Die Gegenwart des Reiches wird gelegentlich als "Fragment" beschrieben, seine Erfahrung als "fragmentarisch" bezeichnet.46 Doch beides wird der Sache nicht gerecht. Es muss genauer bestimmt werden, wie die Zeiten zusammengehören.47 Das Senfkorn, mit dem Jesus das Reich Gottes vergleicht, ist nicht Fragment, sondern Nukleus. In ihm ist das Ganze des Baumes enthalten (Mt 13,31 f.). Man kann nicht "etwas" schwanger sein, sondern ist es ganz oder gar nicht. Die Schwangerschaft hat ein Ziel und Ende. Das kündigt sich durch Wehen an. So verhält es sich mit dem Reich Gottes. Es ist nicht nur "fragmentarisch", partiell und im Ungefähren präsent. Es kommt auch nicht so, wie der Satz unterstellt: "Die Zukunft hat schon begonnen". Jesus spricht vom Reich der Himmel im futurum präveniens. "Wenn ich durch Gottes Finger die Teufel austreibe, so kommt ("ist gekommen") ja das Reich Gottes zu euch" (Lk 11,20). Die Zukunft kommt so, dass sie ganz als präsent aufblitzt! Sie kommt so, dass sie Zeit und Unheil unterbricht und das Heil "nuklear" Gegenwart wird: Als Vergebung der Sünden, als Heilung von Krankheit, als Neueingliederung in die Gemeinschaft, als Widerfahrnis von Gerechtigkeit, als Ruf in die Nachfolge, als Freiheit von der Bindung des Reichtums, als Rettung aus dem Tod, als Befreiung von dämonischen Mächten, als Freundesmahl mit Jesus, als Wiedergeburt, als Festfreude. Es ist immer sehr spezifisch da und wird sehr spezifisch erfahren. Es ist "in euch" (Lk 17,21)! Diese räumliche Übersetzung des "entos hymin" ist sprachlich angemessener, auch wenn die soziale Dimension ("mitten unter euch") damit nicht ausgeschlossen ist.48 Mit einer koreanischen Formulierung könnte man geradezu sagen: Das Reich Gottes ist "dir näher als deine Halsschlagader"! Paulus hat es jedenfalls so verstanden, wenn er schreibt: Das Reich Gottes ist "Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist" (Röm 14,17).49 Das Reich ist kraftvoll da (1Kor 4,20) und wird zugleich als zukünftig erwartet. Jeder Augenblick kann zum Tor werden, da es einbricht, jeder Ort zur Epiphanie seiner Gegenwart.

Es ist präsent, aber es wird auf verschiedene Weise erfahren. Die Erzählungen, die nach Ostern von der Gegenwart des Auferstandenen berichten, sind wie eine Koda des vielfältigen Konzerts der Verkündigung Jesu von der dichten Nähe und Zukunft des Reiches Gottes: Der Auferstandene (Lk 24) ist den Jüngern von Emmaus nahe in der Wortauslegung (und wird es zukünftig sein); der irdische und auferstandene, der "ganze" Jesus ist ihnen nahe im Brotbrechen - und wird es auch zukünftig beim "Abendmahl" sein; seine Nähe lässt das Herz brennen vor Freude, selbst wenn er ihnen - wie das Reich Gottes - unbemerkt und unerkannt nahe ist; diese Erfahrung drängt sie, sie nicht für sich zu behalten, sondern sie andern an anderen Orten mitzuteilen.

Niemand von den Jüngern wird aufgefordert, das Reich Gottes zu bauen. Nicht einmal die "Zeichen" des Reiches können sie aufrichten. Das Reich Gottes kann weder vergrößert, noch von den Jüngern ausgebreitet werden. Wohl aber sollen sie um sein Kommen beten, denn die endgültige Epiphanie steht noch aus. Sie wird die letzte große Veränderung bringen. Gegenwart und Zukunft werden in die Fülle der Zeiten eingebracht. Himmel und Erde, die Auserwählten von überall her, werden vereinigt (Mk 13,27).50 Wann das geschehen wird, kann für die Jünger kein Thema sein. Die unendlich dichte Verflechtung von Präsenz und Zukunft, das dichte Ineinander von Erfahrung des Ganzen in einzelnen Ereignissen des Lebens sowie die intensive Erwartung des Kommenden heben diese Frage auf. Jeder Versuch, dieses Ineinander in ein einfaches Zeitschema, und sei es ein heilsgeschichtliches, aufzulösen, ist zum Scheiten verurteilt51 und verfehlt den Sinn der Verkündigung Jesu. Im Licht des Reiches Gottes ist kein Platz für die Schatten der Vergangenheit. Seine Nähe lässt das Herz brennen. Wer das erfahren hat, kann nicht anders, als sich aufzumachen und in Jerusalem und überall in der Welt eben dies weiterzuerzählen. Aber er wird auch wie die Jünger von Emmaus erfahren, dass der Auferstandene ihm vorausgeeilt, schon längst vor ihm da war, und dass auch am anderen Ort das Reich den anderen Menschen schon immer nahe war. Weil das Reich so nahe ist, kann der Blick in die Zukunft Christen keine Furcht einflößen. Die dichte Nähe des Reiches Gottes schenkt dichte Hoffnung.

Das Ziel: Gottesfreundschaft

Wir kommen zum Schluss und versuchen die praktischen Konsequenzen aus dem erneuten Nachdenken über die missio Dei zu ziehen.

1. Die Identität christlicher Mission hat sich vor uns als ein dichtes vierdimensionales kohärentes Netz dargestellt. Dass wir uns eigentlich nur dreidimensionale Körper vorstellen können, erinnert uns daran, dass wir es in der Mission mit einer Sache zu tun haben, die wir Menschen uns nicht selbst gegeben haben und die auch nicht innerweltlich, soziologisch, psychologisch oder anthropologisch zu erklären und zu begründen ist. Ihr Ursprung liegt außerhalb ihrer selbst. Gott selbst ist origo et fons der Mission, Ursprung und stete Quelle ihrer Kraft. Das ist ihr innerstes Geheimnis. Davon lebt sie. Dafür gibt es sie, dass sie dieses Geheimnis der Weltzuwendung Gottes in Jesus der Welt weitergibt. Alles entscheidet sich daran, ob sie aus dieser Quelle lebt, sich von daher Leben, Kraft und Vision geben lässt. Nur dann hat sie ein Recht zu sein, nur dann findet sie die Adäquatheit ihrer Aufgaben, nur dann bleibt sie glaubwürdig. Sobald sie beginnt, ihr Existenzrecht anders zu begründen, sozio-politisch, kulturell oder konfessionell, verliert sie ihre Authentizität. Dieses Geheimnis der missio Dei ist Kristallisationspunkt der vielgegliederten Wege in die Welt. Zugleich ist es das Kriterium, an dem ihr Einsatz gemessen wird, weltweit. Verliert sie dieses Zentrum, verdunkelt ihr Licht, ist sie wie wirkungslos gewordenes Salz, nur wert, weggeworfen zu werden.

2. Mission ist Einladung, sich diesem Geheimnis Gottes zu öffnen und sich ihm anzuvertrauen. Sie ist Einladung zur Gottesfreundschaft und kennt deshalb keinen Zwang.52 Die Einwohnung des Sohnes in der Welt dient ihrer Freiheit. Gott respektiert die Freiheit des Menschen. Er will sie als freie Menschen. Darum ist der Respekt vor der Freiheit des anderen Grundlage jeder Begegnung mit den Menschen anderen Glaubens. Solche Begegnung ist deshalb wesentlich dialogisch. Vorbedingungen und Unfreiheit machen einen Dialog unmöglich.

Zur Kohärenz missionarischer Identität gehört die Multiperspektivität. Im Dialog lernt der christliche Glaube, sich von außen und aus anderer Perspektive zu sehen. Aber er lernt auch, den anderen aus seiner Perspektive wahrzunehmen. Dadurch wird Fremdheit überwunden, Verstehen ermöglicht. Der Raum der Freiheit ermöglicht Annäherungen.

Da Gott die "unerschöpfliche Freiheit seiner Geschöpfe" ist,53 ist die andere Seite der Begegnung mit den Menschen anderen Glaubens die missionarische Verkündigung, die Einladung, sich aus der Knechtschaft zur Kindschaft befreien zu lassen. So können aus Fremden Freunde werden. Das gilt im Blick auf die Menschen anderen Glaubens, wieviel mehr aber im Blick auf des Glaubens Genossen (Gal 6,10). Durch Jesus, der sein Leben hingab für seine Freunde (Joh 15,13 f.), werden wir Menschen zu Gottesfreunden. Das verändert unser Verhältnis zu den Menschen in gleicher Weise wie das Verhältnis zu Gott. Als Freie sprechen wir zu Gott. Im Gebet kommt die geschenkte Freiheit zum Ziel. Gott hört auf seine Freunde. Gebet und die Fürbitte gehören zentral in das Kohärenznetz der Mission.54

3. In Gottes Garten wachsen viele bunte Blumen, pflegte mein Vater, ein Laie, zu sagen, wobei er an die verschiedenen Ausprägungen des Pietismus und der Erweckungsbewegungen allein in seiner Heimatkirche, der Kirche von Westfalen, dachte. Wieviel mehr gilt das für die missio Dei weltweit. Nein, nicht alles ist Mission. Wohl aber sind die Anzahl der Instrumente, die Gott zur Durchführung seiner Mission braucht, von uns nicht zu begrenzen. Gottes Geist, so lernten wir aus Apg 2, macht sich in den verschiedenen Sprachen und Kulturen verständlich. Er erfüllt Männer, Frauen, Knechte und Freie, Alte und Junge und macht sie nicht nur ungeachtet ihrer sozialen Position, sondern in ihrer jeweiligen Stellung jeweils anders und in unterschiedlicher Weise zu seinen Instrumenten. Der daraus entstehende Pluralismus ist nicht Last oder gar Fluch, sondern es ist Gottes Geist, der diesen "schöpferischen Pluralismus" bewirkt! Die Differenzierungen machen den lebendigen Reichtum der Gnadengaben aus, der "der Lebendigkeit Gottes entspricht".55

Was bedeutet das für die Praxis? Es gibt eine Norm, an der wir gemessen werden, nämlich der Bezug auf die erste Dimension, die Bindung an das innertrinitarische Geheimnis Gottes, aus dem heraus die Mission entspringt. Doch diese Norm ruft nicht nach homogenen Strukturen und einer homogenisierenden Einheit, sondern erwartet von uns, dass wir einer "schöpferischen Komplexität" (M. Welker) Raum geben. Es ist der Raum der Freiheit, der die Andersheit des anderen akzeptiert und nicht an alle und alles die gleiche Elle (Zinzendorf) vertrauter Heimatlichkeit legt. Wir müssen lernen, dass nicht alle Differenzen Differenzen in Glaubensdingen sind. In den meisten Fällen handelt es sich um Differenzen im Lebensstil, in der Ästhetik (Musik, Kunst oder Kleidung), in der praxis pietatis. Gott geht sehr verschiedene Wege mit uns in unserer jeweiligen Biographie, in unseren jeweiligen Lebensumständen, in unseren verschiedenen kulturellen, auch nationalen Prägungen. Das gehört zur Identität. Wir müssen deshalb lernen, die anderen mit den Augen von Freunden zu betrachten. Nur so lernen wir, was wir so dringend brauchen: eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung. Sie verdichtet die Kohärenz und stärkt sie.

4. Christen sind "Gegenwartsschwimmer".56 Die Vergangenheit belastet sie nicht. Gottes abgrundtiefe Vergebensbereitschaft befreit sie für die Gegenwart: "Seht die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen ..." (Mt 6,28). Sie können sich unbeschwert von vergangenen Fehlern dem Jetzt zuwenden, denn auch die Zukunft müssen sie nicht schaffen. Sie kommt uns entgegen. Das futurum präveniens in der Basileia-Verkündigung Jesu bedeutet: Die Zukunft kommt auf uns zu. Genauer: Die Zukunft des Reiches Gottes kommt uns zuvor. Wir können uns ganz und gar den Aufgaben zuwenden, vor die uns Gott jeden Tag stellt. Hier gilt: Je näher wir bei Christus sind, um so näher sind wir beim Nächsten. Und gilt nicht auch: Je näher und selbstloser wir beim Nächsten sind, um so näher sind wir dem Reich Gottes?! Aber wie verhält sich dann unser Tun zum Reich Gottes? Müssen wir nicht zumindest "Zeichen des Reiches Gottes" aufrichten? Der Begriff "Zeichen" ist fraglos geeigneter als der des "Fragments", weil er nicht wie jener in die Vergangenheit schaut, sondern eher auf die Zukunft ausgerichtet ist. Dennoch zögere ich, ihn in diesem Zusammenhang weiter zu gebrauchen. Das hat drei Gründe: 1. In keiner Dogmatik habe ich überzeugende Argumente gefunden, die den inneren Zusammenhang zwischen dem Reich Gottes und den von uns aufgerichteten Zeichen plausibel machen. Führen sie das Reich herauf oder helfen sie mit, das Reich zu bauen?57 Brauchen sie die Bestätigung seitens Gottes? Oder wie ist der Zusammenhang zu verstehen? 2. Erfahrungen gerade auch aus der Missionsgeschichte sollten uns skeptisch machen. Wie oft wurde das soziale, zivilisatorische, kirchliche und fromme Engagement als Einsatz für das Reich Gottes deklariert, als Zeichen dafür, dass das Reich Gottes in dunklen Erdteilen errichtet wird. Aber wie oft waren es Zeichen von etwas ganz Anderem, höchst Menschlichem, und sie erwiesen sich eher als schädlich denn als nützlich für die Evangeliumsverkündigung. 3. Der Begriff Zeichen ist, wie man besonders im Johannesevangelium sehen kann, eine Denotation, die nur im Nachhinein eine Handlung deutet und in einen theologischen Kontext stellt, nicht im Voraus. Das Letztere ist entscheidend. Ob ein Ereignis Zeichencharakter für das Reich Gottes besitzt, kann immer nur ein Urteil post festum sein. Die Jünger kommen in ein Haus und teilen den Frieden aus. Wird er nicht akzeptiert, so kann man nur im Nachhinein sagen, dass das Reich nahe gewesen ist (Lk 10,11). Die Jünger heilen im Auftrag Jesu, und die Geheilten können bekennen: Das Reich Gottes hat sich ihnen in seiner ganzen Kraft mitgeteilt.

Und heute? Beim Abendmahl erfährt jemand plötzlich mit überwältigender Gewissheit: Nun bin ich geheilt! Ein anderer betet das Abendmahlsgebet: "Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund" und hört ganz unverwechselbar die Stimme des guten Hirten: "Ich habe dich lieb". Hier, bei diesen Beispielen aus der Seelsorge, wurde das Abendmahl zum Zeichen des Reiches Gottes, wurde blitzartig erfahren, dass es "nahe herbeigekommen ist"! Es können andere, alltägliche Gegebenheiten und Gelegenheiten sein, immer ist es das Reich selbst, das sich unser Tun aussucht und zum Zeichen seiner Nähe und seines Kommens werden lässt, ubi et quando visum est deo. Es entlastet unser Tun, wenn wir wissen, dass wir ihm keine Ewigkeitsgewichte anhängen müssen. Es entlastet uns und macht uns frei, uns ganz allein von der Liebe leiten zu lassen, das Notwendige, das dem Leben Förderliche und das das Leben Erhaltende zu tun und es Gott selbst zu überlassen, ob er daraus ein Zeichen seines Reiches machen will. In dem allen lernen wir mit beglückender Gewissheit: Nicht wir erbauen das Reich, sondern das Reich erbaut uns!58

Summary

Individual identity is determined by a fourfold net of coordinates: by internal and external aspects, via a way, and by time. Thus also Christian mission. The internal aspect consists of the mystery of God which via missio Dei, sending His son, becomes an "open secret". Mission is an invitation to God's friendship. Such an invitation can only happen with liberty, since it respects the liberty of an individual to decide for or against a religion. Those who decide against mission decide against the liberty of the individual; against a basic human right. The way of mission leads one into the variety of contexts which is Christianity; leads one into the plurality of charisms, but not into a pluralist theology of religion. Mission happens in time, happens "with an eye to Last Things" (W. Freytag). Mission is characterized by "watertight hope".

Jesus's proclamation of the Kingdom of God speaks futurum praeveniens, which means that it is not we who build the Kingdom of God, but God's Kingdom that "builds us".

Fussnoten:

* Vortrag in Willingen aus Anlass eines Symposiums zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der Weltmissionskonferenz in Willingen 1952, der ersten Ökumenischen Tagung in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg. - Die Sache der Mission hat zur Zeit Konjunktur. Doch große Unsicherheiten herrschen noch immer im Umgang mit dem Begriff, gerade auch in der Theologie. Den zu überwinden, diente das Symposium in Willingen. - Ich widme den Aufsatz Wolfgang Huber zum 60. Geburtstag.

1) So N. Goodall im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band "Missions under the Cross. Adresses delivered at the Enlarged Meeting of the Committee of the International Missionary Council at Willingen, in Germany 1952; with Statement issued by the Council, London 1953, 9ff.

2) G. Vicedom, Missio Dei, München 1958. Zur Geschichte des Begriffs vgl. H. H. Rosin, G. van Winsen, Missio Dei, term en functie in de zendingstheologische discussie, Leiden 1971.

3) M. Warren, in: N. Goodall, a. a. O. 40.

4) Vgl. J. Chr. Hoekendijk, Kirche und Volk in der deutschen Missionswissenschaft, München 1967; vgl. weiter seinen vor der Konferenz veröffentlichten Beitrag: Die Kirche im Missionsdenken, EMZ 1952 (= IRM, Juli 1952).

5) Vgl. den seinerzeit veröffentlichten Beitrag: The Meaning and Purpose of the Christian Mission, IRM 1950 (= Vom Sinn der Weltmission, EMZ 1950). Wiederveröffentlicht in: Reden und Aufsätze Bd. 2, München 1961, 207-217.

6) K. Schäfer, Mission als Aufbruch zu den Menschen. In: ders. [Hrsg.], Plädoyer für Mission. Beiträge zum Verständnis von Mission heute. Hamburg 1998, 7-9. Ebd. 8. Vgl. ders., Mission im Zeitalter der Globalisierung. In: B. Mensen [Hrsg.], Globalisierung und ihre Auswirkungen auf religiösem und kulturellem Gebiet, Nettetal 2001, 75-99. K. Schäfer habe ich in diesem Zusammenhang exemplarisch herausgegriffen, weil er als Generalsekretär der IAMS (International Association of Mission Studies) von herausragender Position aus votierte.

7) Zu dieser Problematik vgl. z. B. Ch. Schwindt, Glaube und lebe. Pastoraltheologie 2002, 168-182, bes. 181 f.

8) Seinerzeit lautete der Einwand gegen Hoekendijk und seine Schüler: "Wenn alles Mission ist, ist nichts mehr Mission." Dem wurde verschiedentlich eine logische Inkonsequenz vorgeworfen. Zu Unrecht. Identitäten werden durch Differenzen qualifiziert. Wenn alle Menschen Deutsche wären, verlöre der Begriff "Deutsch" seine Signifikanz.

9) Zur Diskussion vgl. L. A. Hoedemaker, Het volk van God en de einden der aarde. In: Oecumenische Inleiding in de Missiologie. Teksten en Konteksten van het wereldchristendom, Kampen 1988, 167-180.

10) Diese Diskussion hat F. Walldorf in seiner Dissertation "Die Neuevangelisierung Europas. Missionstheologien im europäischen Kontext", Gießen, Basel 2002 sorgfältig nachgezeichnet.

11) W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 1999, 3. Aufl., 250-258.

12) Vgl. zum Folgenden A. und J. Assmann [Hrsg.], Schleier und Schwelle, Bd. 2. Geheimnis und Offenbarung, München 1998, bes. 7 ff.

13) Ob es sich hier um ein "ut finale" oder um ein "ut consecutivum" handelt (Joh 3,16) wird in der Exegese unterschiedlich beantwortet. Wahrscheinlich ist die doppelte Übersetzungsmöglichkeit die Pointe des Satzes!

14) Das hat Paul Gerhardt unvergleichlich präzise in einem Weihnachtslied zum Ausdruck gebracht: "Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden". Lautete der Schlusssatz: "... wie ich dein sollte werden", befänden wir uns in der Welt der anderen Religionen und die Suche nach dem angemessenen Weg der Erlösung begänne.

15) In der späteren und apokryphen Literatur wird auch Abraham als Freund Gottes bezeichnet, der gegenüber Gott alle Freiheit hat, wie sie ein Freund vor seinem Freunde hat. So im "Testament des Abraham". Vgl. Jak 2,23.

16) Vgl. D. Bonhoeffers Gedicht "Der Freund" in: Widerstand und Ergebung, München 1955, 6. Aufl., 269 ff.272.

17) Vgl. dazu L. Bauerochse, Miteinander leben lernen. Zwischenkirchliche Partnerschaften als ökumenische Lerngemeinschaften, Erlangen 1996.

18) D. Bonhoeffer a. a. O.

19) Vgl. dazu T. Sundermeier, Den Fremden verstehen. Göttingen 1996.

20) Zum ganzen Abschnitt vgl. A. Feldtkeller, Mission aus der Perspektive der Religionswissenschaft, ZMR 2001, 83-98.

21) U. Schoen, Dialog, Lexikon missionstheologischer Grundbegriffe, Berlin 1987, 65-68.65.

22) In diesem Sinn kritisiert J. Moltmann den Dialog als "konservativ", weil er nur der Versicherung des eigenen Standpunktes dient. J. Moltmann, Dialog oder Mission? In: R. Weth [Hrsg.], Bekenntnis zu dem einen Gott? Christen und Muslime zwischen Mission und Dialog, Neukirchen-Vluyn 2000, 36-49; ders., Die Mission des Geistes - Das Evangelium des Lebens, ZMR 1999, 83-93, bes. 84 f.

23) W. Freytag war der Überzeugung, dass erst dann, wenn die andere Religion zur Versuchung wird, das Verstehen der anderen Religion beginnt.

24) Vgl. dazu U. Berger, M. Mildenberger, Keiner glaubt für sich allein. Theologische Entdeckungen im interreligiösen Dialog, Frankfurt a. M. 1986; T. Sundermeier, Konvivenz und Differenz, Erlangen 1995, 43 ff.; R. Hummel, Konvivenz - Leben mit Nichtchristen, ZMR 1999, 94-102.

25) Vgl. J. Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998, 245 ff.

26) Die Kirche von Südindien galt vielen dabei als Vorbild und Hoffnungsträgerin.

27) Darauf hat zu Recht J. Ebach hingewiesen. Vgl. ders., Rettung der Vielfalt. In: D. Becker [Hrsg.], Mit dem Fremden Leben, Bd. 2 , Erlangen 2000, 259-268.

Zu Apg 2 vgl. M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 214 ff.

28) Dass diese Sätze aus Mt 5, in denen Jesus den Jüngern das Kirchesein zuspricht, der eigentliche und erste "Missionsbefehl" sind und nicht Mt 28, darauf habe ich verschiedentlich hingewiesen. Die Konsequenzen aus dieser Umorientierung müssen jedoch noch weiter gezogen werden. Vgl. T. Sundermeier, Matthäus 28 und die Frage nach dem Sinn der Mission, Una Sancta 2, 2002, 98 ff., bes. 101 f.

29) Vgl. dazu A. Feldtkeller, Verlangt der gesellschaftliche Pluralismus nach einer pluralistischen Religionstheologie? Ev. Theol. 1998, 445- 460.

30) So der Titel eines wichtigen und oft zitierten Aufsatzes von W. Freytag aus dem Jahre 1942. Reden und Aufsätze, Teil II, München 1961, 186-198.

31) Willingen. Eine Erklärung über die missionarische Berufung der Kirche 19. Juli 1952. Hier zit. nach H.-J. Margull [Hrsg.], Zur Sendung der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung, München 1963, 95 ff. Engl.: N. Goodall [Hrsg.], Missions under the Cross, a. a. O., 188 ff.

32) Eine sachliche Übersicht bietet W. Weiße, Reich Gottes. Hoffnung gegen Hoffnungslosigkeit, Göttingen 1997.

33) J. Chr. Hoekendijk, Kirche und Volk in der deutschen Missionswissenschaft, München 1967, 136 f.

34) a. a. O., 347.

35) Vgl. seinen Aufsatz "Vom Sinn der Weltmission" (1950). In "Reden und Aufsätze, Teil II, a. a. O., 207-217.

36) Die Missionstheologien von D. Bosch, Transforming Mission, New York 1992, und P. Beyerhaus, Er sandte sein Wort, Wuppertal, Bad Liebenzell 1996 Bd. 1, seien hier exemplarisch genannt.

37) Hinweise zitiert nach W. Sparn, Reich Gottes: Reich der Freundschaft. Für eine trinitarische Bestimmung des Begriffs der Gottesherrschaft. In: W. Härle, R. Preul, Reich Gottes. Marburg 1999, 31- 62, 36.

38) Dieser Fortschrittsgedanke prägt auch die abendländischen Reinkarnationsvorstellungen und gibt ihnen dadurch ein höchst optimistisches Gepräge und zeigt die Differenz zum asiatischen Reinkarnationsglauben. Vgl. dazu R. Hummel, Reinkarnation, Stuttgart 1988, 99 ff. H. Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa, Darmstadt 1999.

39) W. Freytag, a. a. O., 213 f. "Ohne Mission ist die Geschichte nichts anderes als menschliche Geschichte, deren Fortschritt höchstens in der Steigerung ihrer Katastrophe besteht. Aber wenn wir um das kommende Reich wissen, können wir uns nicht der Verheißung freuen, ohne sie zu verkündigen" (216). Auch ein apokalyptisch pessimistischer Chiliasmus kommt vom Fortschrittsgedanken nicht los, und sei es sub contrario.

40) Das haben schon die ersten Missionare der Dänisch-Halleschen Mission in Indien erkannt. "Ein Freund machte den Vorschlag, einen Kalender ohne gute und schlechte Zeitangaben und hinduistische Feste in Tamil drucken zu lassen, um der Brahmanen Autorität zu verkleinern, und die Leute von ihnen abzuziehen, daß sie ihnen nicht mehr nachlaufen dürften, um zu wissen, der wievielste Tag im Monat es sei ..." - d. h. ob es gute oder böse Tage sind im Blick auf Hochzeitsfeiern u. a. m. Zit. nach D. Jeyaraj, Hallesche Berichte: Quelle zur Südindienkunde. In: M. Bergunder [Hrsg.], Missionsberichte aus Indien im 18. Jahrhundert, Halle 1999, 94-110, 99.

41) Vgl. J. Mbiti, Afrikanische Religion und Weltanschauung, Berlin 1974, 18 ff.; T. Sundermeier, Nur gemeinsam können wir leben. Das Menschenbild schwarzafrikanischer Religionen, Gütersloh 1988, 34 ff.; W. A. Wienecke, Die Bedeutung der Zeit in Afrika, Frankfurt a. M. 1992; J. Assmann, Recht und Gerechtigkeit als Generatoren von Geschichte. In: R. Bubner, W. Mesch [Hrsg.], Die Weltgeschichte - das Weltgericht? Stuttgart 2001, 296-311; ders., Stein und Zeit, München 1991, 35 ff.

42) In der ägyptischen Sprache gibt es nur das Dual von Perfekt und Imperfekt! Vgl. J. Assmann, Stein und Zeit, a. a. O., 40. Das weisheitliche Zeitverständnis ist prägender als das mythische. M. Eliades Konstruktion, alle Orientierung auf "jene Zeit" des Mythos zu konzentrieren, ist in meinen Augen reduktionistisch und führt in die falsche Richtung. M. Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1962.

43) T. Ahrens drückt das im Blick auf melanesische Zeitwahrnehmung so aus: "Die Vergangenheit liegt vor ihnen ... Bildlich gesprochen schauen sie im Fluss der Zeiten stehend auf die Strömung der verflossenen Vergangenheit, während die Zukunft, die kommende Strömung, hinter ihnen liegt". T. Ahrens, Mission nachdenken, Frankfurt a. M. 2002, 78.

44) Neben dem weisheitlichen Zeitverständnis, das zu Unrecht als "zyklisch" verstanden wird, ist das verheißungsgeschichtliche der Propheten zu nennen, dazu das apokalyptische. Mir scheint, dass es auch ein am rituellen Ablauf des Jahres sich ausrichtendes priesterliches Zeitverständnis gibt. Die Orientierung an der Vergangenheit im Jetzt ist jedoch vorherrschend. "Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft", kommentiert W. Benjamin, Gesammelte Schriften I/2, 704. Hier zitiert nach J. Ebach, Vergangene Zeit und Jetztzeit. Walter Benjamins Reflexionen als Anfragen an die biblische Exegese und Hermeneutik, Ev. Theol. 1992, 288- 309, 304.

45) Die missionstheologische Bedeutung dieser Perspektive hat W. Kohler verschiedentlich bedacht. Vgl. ders., Umkehr und Umdenken. Grundzüge einer Theologie der Mission, Frankfurt 1988.

46) So W. Härle unter Verweis auf H. Weder. W. Härle, Die Basileia-Verkündigung Jesu als implizite Gotteslehre. In: Reich Gottes, a. a. O., (s. Anm. 35) 11-30, 24. Vgl. auch das Votum des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union: Die Bedeutung der Reich-Gottes-Erwartung für das Zeugnis der christlichen Gemeinde, Neukirchen-Vluyn 1986.

47) "Fragment", "fragmentarisch" orientiert sich zu sehr an der Vergangenheit: Das ganze Fresko war da, nun sieht man nur noch ein Fragment. Auch die an Michelangelos Kunstwerken sich orientierende Interpretation des Fragmentarischen durch E. Bloch rettet den Begriff in diesem Zusammenhang nicht. Das Fragment weist nach Bloch über sich hinaus in die Zukunft, aber es ist eben doch nur "Stückwerk". E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959, 254 f. Gerade das trifft nicht das, was Jesu Verkündigung meint.

48) Im apokryphen Thomasevangelium, Logion 3 heißt es: "Das Reich ist in euch und es ist außer euch". Zit. nach Evangelium nach Thomas, Leiden 1959, 3.

49) Mir scheint es evident zu sein, dass die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu eine implizite Lehre vom Heiligen Geist enthält und deshalb legitimerweise bei Johannes und Paulus durch eben diese ersetzt wird. Die Rede vom Reich Gottes in den synoptischen Evangelien hat bei Johannes und Paulus den gleichen Stellenwert wie ihre Rede vom Heiligen Geist. Der Heilige Geist ist Reich Gottes in actu! Dass damit die unterschiedliche Ausrichtung (hier steht die raumzeitliche Dimension im Vordergrund, dort die Dynamik Leben spendender Schöpferkraft) nicht nivelliert werden soll noch darf, ist selbstverständlich. Vgl. 1Kor 4,20.

50) Zur theologischen Diskussion des Zeitbegriffes vgl. D. Georgi u. a. [Hrsg.], Religion und Gestaltung der Zeit, Kampen 1994; J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, 116-150. Weiterführend M. Welker. In: J. Polkinghorne, M. Welker, Faith in the Living God. A Dialogue, London 2001, 119-131.

51) Es sollte doch zu denken geben, dass es bisher nicht gelungen ist, den inneren komplexen Aufbau der markinischen (Mk 13) sowie der johanneischen Apokalypse in ihren vielfältigen Verschachtelungen und thematischen Umspielungen überzeugend aufzuzeigen. Ein geradliniges Zeitschema verfremdet die Texte.

52) Das gilt trotz Lk 14,23!

53) J. Moltmann, Trinität und Reich Gottes, München 1980, 236.

54) "Neben Gehorsam und Glaube ist ... das Gebet die höchste Stufe der menschlichen Freiheit. Als sein Freund nimmt der Mensch darin an der Herrschaft Gottes teil. Indem der Mensch das Seufzen und Stöhnen aus dem Elend der Welt zu Gott bringt, nimmt er Gottes Freundschaft für die Seufzenden und Stöhnenden in Anspruch. Gott zeigt seine Freundschaft darin, dass er auf den Menschen hört ... Gebet und Erhörung kennzeichnen die Gottesfreundschaft des Menschen und die Menschenfreundschaft Gottes." (J. Moltmann, 138). Zur feministischen Rezeption des Themas "Gottesfreundschaft" vgl. E. Moltmann-Wendel, Die Wiederkehr der Gottesfreundschaft. Freundschaft als gesellschaftliche und theologische Herausforderung. Ev. Theol. 2001, 428-440.

55) M. Welker, Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995, 28 f. Zum Folgenden ist das ganze Kapitel "Der Pluralismus des Geistes und seine Orientierungskraft" (24-36 ) zu vergleichen.

56) Nach dem Titel eines Buches von M. Arki, Hildesheim 1992.

57) In diesem Zusammenhang wird gern der Begriff der "Antizipation" gebraucht. Ich halte ihn für falsch. Weder "bauen" wir das Reich, noch können wir es zeichenhaft "antizipieren", genauso wenig wie man eine Schwangerschaft zeichenhaft antizipieren kann. Das Reich kommt und teilt sich selbst mit. Unser Tun ist immer ambivalent. Darum können wir nur im Nachhinein dankbar und lobpreisend bekennen: Hier hat das Reich selbst seine Präsenz sichtbar gemacht: "Brannte nicht unser Herz ...".

58) Vgl. dazu M. Luther in der Römerbriefvorlesung: "Regnum enim non paratur, sed paratum est. Filii vero regni parantur, non parant regnum, hoc est, regnum meretur filios, non filii regnum". WA 18,694,26.