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Ausgabe:

Januar/1997

Spalte:

77–80

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Pannenberg, Wolfhart

Titel/Untertitel:

Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996. 159 S. 8° = Kleine Vandenhoeck-Reihe 1577. Kart. DM 24,80. ISBN 3-525-33601-2.

Rezensent:

Martin Honecker

Die schmale und umfangmäßig kurze Studie ist inhaltsschwer und konzentriert. Sie erhebt einen grundsätzlichen theologischen und ethischen Anspruch; Ethik, auch theologische Ethik ist einerseits nicht auf die Dogmatik zu begründen, die Allgemeinheit des ethischen Themas fordert vielmehr eine Begründung auf eine vortheologische Anthropologie und damit die Nähe zur philosophischen Ethik. Andererseits bedarf Ethik einer Verankerung in der Religion als menschlicher Grundgegebenheit. In dieses systematisch-theologische Programm werden knapp und prägnant Traditionen philosophischer und theologischer Ethik eingezeichnet.

P. geht souverän mit der Geschichte der Ethik um und verbindet historische Perspektive und Tiefenschärfe mit aktuellen Fragestellungen. Anders als die barthianische Konzeption besteht zwischen philosophischer und theologischer Ethik eine Korrespondenz. Theologische Ethik muß also nicht nur philosophische Ethik voraussetzen, sondern sie hat sich auch ausdrücklich mit ihr auseinanderzusetzen und sie zu rezipieren. Die dem Münchner Kollegen Trutz Rendtorff zum 65. Geburtstag gewidmete Studie stimmt ausdrücklich dessen Ansatz zu, welcher die Selbständigkeit der ethischen Disziplin betont, sucht diesen aber durch Aufnahme der Tradition philosophischer Ethik und deren Verbindung mit biblischen Einsichten vertieft zu begründen. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Loslösung der Moral und Ethik in der säkularen Kultur der Gegenwart von Theologie und Religion.

In 6 Kapiteln wird die Argumentation entfaltet. Das 1. Kapitel "Moral und Ethik in der säkularen Kultur der Gegenwart" (9 ff.) geht aus von der Emanzipation der Ethik von der kirchlichen Dogmatik, konstatiert dann - im Anschluß an A. MacIntyre u. a. ­ gleichzeitig die Auflösung des moralischen Normbewußtseins. Dabei bezieht sich P. auf Nietzsches Kritik der (christlichen) Moral (12-15). Soziologische Theorien (vor allem von N. Luhmann) sprechen von einer "Entmoralisierung der Gesellschaft" (15) und vertreten die These vom Verlust der "öffentlichen Funktion der Moral". Das "Sittengesetz" ist nämlich we-der allgemeinverbindliche gesellschaftliche Grundlage, noch ist es inhaltlich eindeutig bestimmbar. Die Lebensführung ist strittig geworden. Nach dieser Zeitdiagnose lenkt das 2. Kapitel "Die Ursprungssituation der Ethik und die wichtigsten Wege ihrer Begründung" (23 ff.) den Blick zurück auf die Anfänge der Ethik bei den Griechen, deren Vorstellungen zu Nomos, dem Guten, der sittlichen Einsicht. Ethik wird verstanden als Aufklärung über die Frage nach dem Guten (27). Die Strebensethik des Aristoteles und die platonische Ethik bilden den Schwerpunkt und die Grundlage der Ethik. Die Umformung der platonischen Frage nach dem Guten durch Augustin (36 ff.) und die Tugendethik eines Thomas von Aquin (40 ff.) leiten über zum Verständnis der Ethik als Pflichtenlehre (43 ff.). Als Repräsentant des Pflichtgedankens wird nur enpassant die Stoa vorgestellt (44f.) und dann Kants Pflichtethik (47 ff.) knapp und treffend beschrieben. Kapitel 3 "Das Fundament der Ethik. Eine kritische Würdigung der wichtigsten Begründungsversuche" (52 ff) streift den Utilitarismus ganz beiläufig (52). Mit Hegel wird sodann der Formalismus der Ethik Kants kritisiert und die Verbindung christlicher Gebotsethik mit dem Naturrecht als "eigentliches Kulturdogma der Kirche" (E. Troeltsch) (57) vorgestellt. Die Orientierung am Naturrecht als Bedingung der Bewahrung der Gemeinschaft impliziert eine Kritik des neuzeitlichen Individualismus (60). Die Rückkehr zur Frage Platons nach dem Guten schlägt dann die Brücke zur Reflexion auf das theologische Fundament der Ethik (60 ff.). Die Idee des Guten fordert eine Güterethik. Mit Schleiermacher wird dabei die Verknüpfung von Religion und Ethik über den Begriff des höchsten Gutes hergestellt (66 ff.).

P. betont wie T. Rendtorff den Unterschied von Ethik und Eschatologie. "Eschatologie kann nicht unmittelbar Gegenstand ethischen Handelns sein" (71). Das 4. Kapitel "Reich Gottes und Ethik" (73 ff.) bringt explizit die biblische Perspektive ein. Reich Gottes als Ort der Gemeinschaft mit Gott hat eine "Be-gründungsfunktion für die Inhalte ethischer Aussagen" (73). Jesu Gesetzesauslegung wird skizziert, freilich nicht im Sinne einer Kritik der Tora, sondern als Ansage der Gegenwart der göttlichen Liebe (74-77). Die alttestamentliche Auffassung vom Gesetz und paulinische Aussagen bleiben allerdings beiseite. Jesu Reich-Gottes-Botschaft führt dazu, das Leben nicht nur aus der Perspektive des eigenen Ich zu betrachten (77), und ermöglicht dadurch Liebe und Wohlwollen. "Wohlwollen" ist die allgemeinmenschliche Gestalt des christlichen Gebots der Nächstenliebe, der Agape (79). Das Liebesgebot gründet in der Grundsituation der Geschöpflichkeit des Menschen (80 f.) und verbindet daher Gotteslehre und Anthropologie bei der Begründung der Lebensführung als einem "Leben für andere" (83). Die eschatologische Botschaft Jesu bildet den "Begründungszusammenhang des Liebesgebotes" (84). Die Liebe gibt auch die Grundlage der Sozialbeziehungen, des Rechts ab (88-91), weil die Liebe Gottes menschliche Gemeinschaft stiftet. Das 5. Kapitel "Christliche Ethik und die menschliche Allgemeinheit des Ethischen" (95 ff.) faßt die Grundthese zusammen. Glaube ist nicht nur Motiv persönlichen Handelns, sondern ohne Religion gibt es keine Kultur, wie P. unter Berufung auf Schleiermacher und E. Troeltsch einschärft (96 f). Eine christologische Begründung der Ethik ist wegen der Selbstevidenz des Guten nicht notwendig (98 f.). Ethik ist freilich abhängig von Religion (101). Die "Weltoffenheit" des Menschen impliziert Gottoffenheit, al-so Religion. Neben die schöpfungstheologische Argumentation tritt also die bekannte anthropologische These P.s von der Religion als Naturanlage des Menschen. Das abschließende 6. Kapitel "Prinzipien christlicher Ethik im Kontext einer säkularisierten Gesellschaft" (108 ff.) wendet die Grundsicht der Ethik auf allgemeine Fragen der Lebensführung an. Eine nur ekklesiologische Begründung christlicher Ethik wird hier ausdrücklich abgelehnt. "Die Kirche als solche ist nicht Subjekt des christlichen Ethos" (109).

Die Beispiele sind: 1. Selbstverwirklichung undDienst (110ff.); das Prinzip unbeschränkter Selbstverfügung des Menschen ist Ausdruck der Sünde des Menschen (112). Ein "Leben für andere" ist Dienst, ein Lebensstil, der dem ordo amoris folgt (116). 2. Selbstbeherrschung (118 ff): Sie fordert nicht leibfeindliche Askese, sondern eine in der Tugendlehre traditionell beschriebene Ordnung des menschlichen Zusammenlebens. 3. Ehe und Familie (124 ff.): Vehement plädiert P. gegen neuzeitlichen Individualismus und gegen die Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften (126, 128) für die Achtung und Pflege von Ehe und Familie. Die Familie als Ort der primären religiösen Sozialisation fällt freilich im Protestantismus der Gegenwart weithin aus. 4. Christliches Handeln im säkularen Staat (131 ff.): Nach einem kurzen Rückblick auf das Neue Testament, die theokratische Begründung politischer Herrschaft und Luther wird der moderne Staat analysiert, der Glaubensfreiheit gewährt und religiös neutral ist. Auch die Rechtsordnung der Demokratie, so die These, kann "ohne religiöse oder quasireligiöse (ideologische) Basis auf die Dauer nicht bestehen" (140). Die Annahme der Möglichkeit einer vollständigen weltanschaulichen und religiösen Neutralität der politischen Herrschaftsordnung sei illusionär, "und diese Illusion bildet die Hauptschwäche des modernen demokratischen Verfassungsstaates" (140).

P.s Konzeption imponiert in der gegenwärtigen Diskussion durch ihre innere Geschlossenheit und durch Kenntnisreichtum. Im einzelnen bleiben jedoch manche kritische Fragen, gerade auch dann, wenn man die Kritik des neuzeitlichen Individualismus und die Erinnerung an die ethische Tradition teilt. Genannt seien dafür einige Beispiele: Ist neben dem säkularen Staat nicht genauso bedeutsam und zu bedenken die Gesellschaft, die "Zivilgesellschaft", oder verkörpert politische Herrschaftsordnung al-lein die sittliche Idee? Wie steht es um den religiösen, gesellschaftlichen und moralischen Pluralismus? Müßte man nicht den faktisch vorhandenen Pluralismus stärker reflektieren und deshalb die Intentionen von Utilitarismus und modernen Konsens- und Vertragstheorien genauer erörtern? Wie steht es vor allem um die derzeit vielfach angesprochene Krise der Vernunft?

Mit dieser Frage stellt sich zugleich die prinzipielle Frage an die Tragfähigkeit des Ansatzes P.s. In den Spuren von Platon und Hegel bemüht er sich um den Nachweis der Unverzichtbarkeit allgemeiner Sittlichkeit, der Verbindlichkeit des Sittengesetzes. Dieses Bestreben, angesichts moralischer Desorientierung und einer Unübersichtlichkeit heutiger Ethik, Grundlagen in Erinnerung zu rufen und auf sie zu verweisen, ist in jeder Hinsicht zu unterstützen. Aber genügt dafür der Rückgriff auf Platon und Hegel, die Überzeugung von der Plausibilität des Guten und das Zutrauen zum Vermögen der Vernunft, das Gute zu erfassen? Eine Erneuerung der Linie der sokratisch-platonischen Frage nach dem Guten (86) übersieht außerdem die Realität des Bösen. Die Ausführungen zur Sünde als Prinzip unbeschränkter Selbstverfügung des Menschen (112 ff., vgl. 107) sind beiläufig, die Feindesliebe wird nur in einem Satz erwähnt: "... die apostolischen Schriften haben das Liebesgebot doch an erster Stelle auf das Verhältnis der Christen untereinander bezogen" (117). Die Ambivalenz der conditio humana ist bei diesem Ansatz nicht fundamental. Das Böse ist Verirrung, Verfehlung des richtigen Weges. Wird das Böse freilich radikaler gedacht, dann wird ebenfalls die Evidenz der Vernunft fragwürdiger. Neben der Forderung nach Einsicht in das Gute, das für den Menschen Gute, tritt dann gleichwertig die Befähigung, die Ermächtigung zum Tun des Guten. Glaube als Ermutigung einer Lebensführung und Lebensgestaltung, Befreiung zur Liebe, wird neben der Evidenz des Guten zu einem wichtigen Thema der Ethik. Reformatorisch formuliert, der Zusammenhang von Glaube und guten Werken ist zu bedenken. Man kann dasselbe noch anders so sagen: Die Besinnung neuzeitlicher Moralphilosophie auf eine normative Theorie des Guten und auf Begründungsstrategien richtiger sittlicher Entscheidung und richtigen Handelns, die mit der platonischen Ethik die Fragestellung teilten, ist ein Thema. P. erörtert materiale Moralbegründung, substantielle Sittlichkeit. Ein anderes Thema ist hingegen das Ethos, die konkrete Lebensführung,christliche wie menschliche Lebenspraxis. Unterscheidet man Ethik von Ethos, wie dies philosophische Ethik vorschlägt (z. B. W. Kluxen), dann bedarf P.s anthropologische Kritik anderer Begründungen der Ethik der Ergänzung und Korrektur durch eine Wahrnehmung der Notwendigkeit eines Ethos. Mit dieser Unterscheidung verändert sich dann freilich auch die Zuordnung von philosophischer und theologischer Perspektive der Ethik. Wolfhart P.s eigenständiger und profilierter Beitrag zur Debatte um die Grundlagen von Ethik gibt unter diesem Gesichtspunkt Anlaß zu weiterer Überprüfung der Grundlagen theologischer wie philosophischer Ethik.