Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

471–490

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Erne, Thomas

Titel/Untertitel:

Die Kinderbibel als Medium religiöser Überlieferung

1. Vorbemerkung

"Die große Foliobibel, mit Kupfern von Merian ward häufig von uns durchgeblättert"1. Es muss die Eindrucksmacht der Bilder2 gewesen sein, die sich ins Gedächtnis des Knaben Johann Wolfgang von Goethe eingegraben haben. Schon deshalb, weil der fortwährende Religionsunterricht, den das Kind auch genoss, so wenig erinnernswert war. Dieser sagte weder "der Seele noch dem Herzen zu" - wohl aber die Bilderbibel. 150 Jahre nach Goethe erinnert sich der tschechische Schriftsteller Milan Kundera an eine ähnliche Szene in der völlig anderen Umgebung der kommunistischen Tschechoslowakei seiner Kindheit: "Als ich klein war und mir das für Kinder nacherzählte Alte Testament anschaute, das mit Radierungen von Gustave Doré3 illustriert war, sah ich den lieben Gott auf einer Wolke sitzen. Er war ein alter Mann, hatte Augen, eine Nase und einen langen Bart"4. Literarische Zeugnisse5 wie die von Goethe und Kundera dokumentieren den prägenden Einfluss von Kinderbibeln und ihrer Bilder - sprichwörtlich ist der alte Mann mit Bart auf einer Wolke. Um so erstaunlicher ist es, dass zu diesem, für die primäre Formierung der Gottesbeziehung wie für die Überlieferung und Verbreitung des christlichen Glaubens so aufschlussreichen und bedeutsamen Thema keine sozialempirischen Studien vorliegen. Das mag mit der methodischen Schwierigkeit zu tun haben, überhaupt etwas Verlässliches von Kindern über ihren Glauben zu erfahren. Doch gibt es mehrperspektivische Zugänge6, die durchaus Erkenntnisse über kindliche und jugendliche Religiosität liefern. Nur sind diese Methoden bisher nicht auf die Rezeption von Kinderbibeln durch Kinder und Jugendliche angewendet worden. Warum also sind Kinderbibeln "einerseits wichtig und weit verbreitet, aber andererseits [...] kaum ein Thema, mit dem Theologen und Religionspädagogen sich ausdrücklich beschäftigen"7?

2. Forschungsstand

Es fehlt, neben empirischen Studien zur Kinderbibel im Prozess religiöser Entwicklung, eine Bibliographie der schätzungsweise 500 Kinder- und Schulbibeln, die in den letzten 200 Jahren im deutschsprachigen Raum erschienen sind.8 Und es fehlt eine umfassende Geschichte der Kinder- und Schulbibeln im Kontext der jeweiligen Erziehungspraxis.

Was bereits an Forschung vorliegt, möchte ich knapp skizzieren, um dann meine Perspektive auf Kinderbibeln und die Gliederung meiner Überlegungen zu erläutern. Christine Reents9 hat Kinderbibeln in der Erziehung des 18. und 19. Jh.s erforscht anhand einer exemplarischen Werkanalyse eines frühen Best- und Longsellers, Johann Hübners10 Biblischer Historien- ein Haus- und Schulbuch für Kinder, das an der Grenze der Orthodoxie zur Frühaufklärung entstanden ist. Martin Brechts11 knappe Darstellung der weltweit verbreiteten Biblischen Geschichten des Pfarrers, Autors und Verlegers Christian Gottlob Barth12, einem bedeutenden Vertreter der schwäbischen Erweckungsbewegung, gibt Hinweise auf die noch zu leistende Aufgabe einer historischen Gesamtdarstellung. Arbeiten zu modernen Kinderbibeln, wie die von Reimar Tschirch13, verstehen sich als Orientierungshilfe für die Erziehungspraxis. Die kommentierenden und empfehlenden Bibliographien der Kinderbibeln des 20. Jh.s von Regine Schindler14 und Gertraud Rosenberger15 sind der Versuch einer Qualitätskontrolle. Das gewachsene Interesse an Kinderbibeln dokumentieren die Artikel Kinderbibel in der Theologischen Realenzyklopädie (TRE) und dem neu erschienenen Lexikon der Religionspädagogik (LexRP). Ein Sammelband mit thematischen Untersuchungen, historischen Analysen, Länderberichten, Fragen nach Auswahl, sprachlicher Gestaltung und Kriterien der Beurteilung von Kinderbibeln wurde von Gottfried Adam und Rainer Lachmann16 herausgegeben.

3. Gattung und Begriff

Kinderbibel17 ist ein Sammelbegriff. Er umfasst die unterschiedlichsten Gattungen, die eines gemeinsam haben, dass sie durch die Beziehung auf ihre Rezipienten, die Kinder,18 definiert sind. Bei Kinderbibeln hat man es demnach mit einem literarischen Phänomen zu tun, dass eine ursprünglich für Erwachsene19 geschriebene Literatur für eine bestimmte Zielgruppe, nämlich für Kinder und Jugendliche, bearbeitet wird. Werkbearbeitungen verfolgen die Absicht, "das Fortbestehen und die Verbreitung des bearbeiteten Werkes zu sichern und zu fördern, indem sie ihm für seine Rezeption gegenüber der Zielgruppe günstige Gestalt verleihen, ohne den literarischen Kern anzutasten"20.

Idealtypisch kommen bei der Kinderbibel als Werkbearbeitung zwei konstitutive Bezugsgrößen zum Ausgleich. Zum einen die Beziehung auf die Vollbibel - sie ist das Werk, das ohne substanziellen Verlust tradiert werden soll -, zum anderen der Bezug auf den Rezipienten. Die Bibel soll dem Verständnis von Kindern erschlossen werden. Als Werkbearbeitung repräsentiert die Kinderbibel einen spezifischen Aneignungstypus vorgegebener Erwachsenenliteratur, dessen Kennzeichen die schwierige Balance zwischen Text- und Kindgemäßheit ist. Je nach Schwerpunkt reicht deshalb die Gattungsbreite von frei gestalteten Erzählungen auf biblischer Basis (Johann Peter Hebel; Anne de Vries; Jörg Zink) über Bilderbibeln mit nur wenig Text (M. Luther, Passional21; Schnorr von Carolsfeld22; Kees de Kort) hin zu Katechetischen Kinderbibeln mit bibelnaher Textgestaltung, didaktischen Anhängen und wenigen Illustrationen (Johann Hübner; Christian Gottlob Barth; Ernst Veit, Gottbüchlein; Jörg Erb, Schild des Glaubens).

4. Bemerkungen zu Titel und Methode

Wie wird das Evangelium überliefert?23 Welcher Medien24 bedient sich der christliche Glaube und welche sozialen Formen bildet er aus, um diese Überlieferungsprozesse zu tragen? Eine, mitnichten die einzige, Antwort lautet: Der Glaube wird nach wie vor in einem bewährten und vertrauten Medium überliefert, der Bibel für Kinder. Auch der Ort auf den die Kinderbibeln zurückverweisen ist im Judentum wie im Neuen Testament bekannt: Das Haus25 und die dort geschehende religiöse Sozialisation. Ungewöhnlich ist allenfalls, dass unter den Bedingungen einer hochdifferenzierten Gesellschaft dies immer noch zu gelten scheint, dass Kinderbibeln in modernen Familien als Medium religiöser Überlieferung dienen, wenn auch in veränderter und verwandelter Gestalt. Die hohe Auflage und Vielfalt von Kinderbibeln sind zumindest ein Indiz dafür, dass die Familien auch heute für die Überlieferung des Evangeliums und für die Stabilität der Volkskirche26 bedeutsam sind. Aber kaum eine moderne Kinderbibel bietet noch einen Hinweis auf eben jene Institution, die sich ebenfalls der Bibel, sogar der Kinderbibel als Medium der christlichen Überlieferung bedient, und die in unmittelbarer lebensweltlicher Nachbarschaft zur Familie existiert: die christliche Gemeinde.27 Was hat das zu bedeuten? Treten Familie und Kirche28 als Überlieferungsträger auseinander? Entwickelt sich auf der einen Seite eine private Frömmigkeit, ohne Beziehung zur Gemeinschaft der Glaubenden? Oder - und das ist meine Arbeitsthese - handelt es sich um ausdifferenzierte Momente einer Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft, deren Beziehung zueinander allerdings nicht allen Beteiligten hinreichend deutlich vor Augen steht? Die Kinderbibel könnte dann eine Brücke sein, an der sich die Beziehung von Familie und Kirche deutlich machen ließe.

Methodisch soll die Frage nach der Kinderbibel als Medium religiöser Überlieferung in einer Art Hermeneutik der Lebenswelt untersucht werden. Die "als"-Bestimmung bedeutet, dass die Kinderbibel in einer bestimmten Hinsicht betrachtet wird, eben als Medium und im Blick auf das christliche Überlieferungsgeschehen. Ich versuche deshalb zu beschreiben, welche veränderten Bedingungen religiöser Sozialisation die modernen Kinderbibeln widerspiegeln.29 Dabei zeigt sich, dass die Kinderbibel für eine eigenständige und zugleich auf andere Institutionen bezogene Form der religiösen Überlieferung in Familien steht.30 Sodann versuche ich unter dem Gesichtspunkt der Erinnerung einen möglichen Zusammenhang von familiärer und kirchlicher Überlieferungsarbeit zu erfassen. Und abschließend möchte ich an zwei konkreten Textbeispielen zeigen, inwiefern die Kinderbibel ein Bindeglied darstellt zwischen religiöser Sozialisation in Familien und der Weitergabe des Glaubens in der christlichen Gemeinde.

5. Kinderbibeln und die veränderten Formen religiöser Sozialisation

Dass es Verfestigungen von Überlieferungsformen gibt, dürfte unstrittig sein, etwa im Blick auf die Frage-Antwort-Methode des Katechismus.31 Eine Methode, die von Luther als Anregung und Exempel für ein freies Gespräch des Hausvaters mit dem ganzen Haus32 gedacht war, wird zur erstarrten Form eines "Memoriermechanismus"33. Erstarrte Rituale tragen ein Moment der Komik an sich. Und deshalb nutzt der Meister der Ironie, Thomas Mann, zu Beginn seines Romans Buddenbrocks das familiäre Katechismustraining, um den beginnenden Verfall des protestantischen Kulturbürgertums im 19. Jh. zu markieren. Auch heute begegnet man diesem Mechanismus in manchen Familien: unmittelbar vor der Konfirmation, wenn der Pfarrer bei diesem Anlass den Memorierstoff des Katechismus noch einfordert.34

Aber jede Überlieferung kennt auch Momente der innovativen Fortschreibung ihrer vertrauten und bewährten Formen. Das gilt auch für den Katechismus, wie die neue "Katechismusfamilie"35 der VELKD eindrucksvoll belegt. Das gilt aber vor allem für die mit hohen Auflagenzahlen36 und in großer Vielfalt auf dem deutschen Buchmarkt erscheinenden Kinderbibeln, biblischen Erzähl- und Bilderbüchern. Jeder renommierte deutsche Kinderbuchverlag führt eine oder mehrere Ausgaben in seinem Programm. Und zwar durchaus Verlage, die kein dezidiert religiöses Profil vertreten. Für die Verlage ist die Kinderbibel zunächst ein normales Kinderbuch37, das auf Grund seiner Ausstattung, der Qualität der Bilder und dem Reiz der Geschichten auf dem Markt konkurrenzfähig sein muss. Die Auflagenzahlen der Kinderbibeln kommen daher nicht wie die hohen weltweiten Auflagen der Bibeln für Erwachsene durch kirchlich subventionierten Verteilungspolitik zustande, sondern auf Grund von Kaufentscheidungen der Eltern, Paten, Onkel oder Tanten. Über das Ausmaß, vor allem aber über die Qualität des Gebrauchs einer Kinderbibel besagt diese Kaufentscheidung nicht sehr viel, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie gekauft wurden, um benutzt zu werden, dürfte größer sein, als wenn die Bibel anlässlich der Trauung vom Pfarrer überreicht wird.

Die hohen Auflagenzahlen der Kinderbibeln berechtigen zu gewissen Zweifeln an der These von einem grundsätzlichen Bruch in der religiösen Traditionsbildung, einem Unsichtbar-Werden der Religion, wie Thomas Luckmann38 die Auflösung eines verbindlichen und allgemein glaubwürdigen Modells für die Erfahrung von Transzendenz nannte. Folgt man der Auflösungsthese Luckmanns, dann kann es, streng genommen, überhaupt keine religiöse Sozialisation mehr geben. Die Kirche repräsentierte dann einen Heiligen Kosmos, aus dem die Formen der persönlichen Daseinsführung in einen Alltag ausgewandert sind39, der keine expliziten-religiösen Symbole mehr kennt.40 Solche Formen der individuellen Daseinsgestaltung sind zwar einer Deutung aus christlicher Perspektive zugänglich, aber nur für den "religionstheoretisch gebildeten Betrachter"41. Aus Sicht der Betroffenen gehört ihre Lebensorientierung längst nicht mehr zu einer explizit-religiösen Tradition. Es mag sich dann in vielen Äußerungen der modernen Alltagskultur um die unthematisch gewordene Idee des Christentums handeln - so gesehen ist das Christentum nicht verschwunden, sondern eben unsichtbar geworden -, aber der Traditionsabbruch besteht darin, dass eine unsichtbare Religion keine sozialen Folgen mehr hat. Nur an sichtbaren Formen, an "Gebräuchen, Gesinnungen und Einstellungen, [...] die allgemein und selbstverständlich eben als Religion gelten"42, kann Religion soziale Folgen haben. Wo sich der Glaube nicht mehr in manifesten religiösen Symbolen artikuliert und nur noch über theoretische Rekonstruktionen vermittelt ist, wo sich also "Religion ins Religiöse verflüchtigt"43, da kann das Christentum allenfalls weitergedacht, nicht aber Kindern weitererzählt werden. Luckmanns Verflüchtigungsthese betrifft deshalb grundsätzlich die Möglichkeit religiöser Überlieferung und damit einen Grundvollzug des christlichen Lebens.

Seine Diagnose unterschätzt aber die Bedeutung der Familie für die religiöse Sozialisation. Das Haus und die Familie, nicht die Kirche, ist der primäre soziale Ort, an dem sich die Gottesbeziehung formiert und Glaube und Leben in elementarer Weise verwoben werden. Die Popularität, der Variantenreichtum und die altersspezifische Vielfalt der Kinderbibeln interpretiere ich als Hinweis auf ein Bedürfnis nach zeitgemäßen, individuellen Ausdrucksformen einer gewandelten Familienreligiosität- nicht aber als Indiz für die Verflüchtigung des religiösen Symbolsystems in der Dimension alltäglicher Daseinsführung. Angemessener scheint es mir deshalb, die Traditionsbrüche, die Luckmann diagnostiziert, als "Traditions-Auf-Brüche"44 einer religiösen Überlieferung zu begreifen, die sich, wie im Falle des Protestantismus, immer schon über riskante Prozesse von Auf- und Abbrüchen ihrer Formen hinweg entwickelt haben.

Das Wahrheitsmoment der Luckmannschen These könnte umgekehrt darin liegen, dass die familiäre Religiosität heute selten genug Anschluss findet an kirchliche Artikulationsformen45 und private und institutionelle Formen der Frömmigkeit nur noch schwer zu integrieren sind. Blickt man allerdings auf die religiöse Sozialisation, die heute in Familien geleistet wird, so fällt der Befund differenzierter aus. Neben Anzeichen der Abnahme46 kirchlicher Bindung finden sich in Familien auch Anzeichen von Kontinuität: die hohe Zahl von Kindertaufen, die große Zustimmung zu kirchlichen Kindergärten, zu Familiengottesdiensten, zum Religions- und Konfirmandenunterricht.47 Was sich trotzdem ändert, ist die Funktion, die Kirche für die Familien heute hat. Denn Familien hören auf, "wie selbstverständlich ein kirchlicher Sozialisationsagent zu sein"48. Sie sind in der Regel darauf aus, eine kindgemäße Artikulation religiöser Inhalte zu ermöglichen. Sie leisten primär eine religiöse und erst sekundär eine kirchliche Sozialisation.49 Die Kirche wird deshalb wahrgenommen "hinsichtlich ihrer Relevanz für die individuelle Gestaltung des Glaubens"50, also im Blick darauf, wie Kirche die Familien in der Taufe, im Kindergarten, im Kindergottesdienst, in Kinderbibelwochen und Familiengottesdiensten bei der individuellen Artikulation des Glaubens kontinuierlich begleitet und verlässlich unterstützt.51

Schon Wölber macht in seiner Studie "Religion ohne Entscheidung" auf den engen Zusammenhang von Familienbindung und religiöser Einstellung, von "Familientreuen und Religionstreuen"52 aufmerksam. Die Bedeutung der Familie als Ort religiöser Überlieferung hat seitdem eher zugenommen und zwar in dem Maße wie "familientreu" zwar "religionstreu" bedeuten kann, nicht aber zwingend mehr "kirchentreu". Ulrich Schwab kommt deshalb in seiner materialreichen Studie über Familienreligiosität zu dem Ergebnis, dass zwar "die religiöse Sozialisation in den Familien durchweg funktioniert"53, aber zugleich die familiäre Weitergabe des Glaubens von der Glaubensvermittlung in Kirche und Gemeinde unterschieden wird. Eben dies, dass der eigene Glaube an Gott nicht mit den kirchlichen Traditionen und Aussagen über Gott zusammenfällt, sollen auch Kinder begreifen. Man kann diesen Befund einer Individualisierung der religiösen Überlieferung als Zunahme an "Entscheidungsfreiheit"54 werten, die Eltern ihren Kindern einräumen. Momente des Zwanghaften, die das Institutionellen assoziiert, werden so von der religiösen Sozialisation der Kinder ferngehalten.



Interessanterweise bleiben familiäre und kirchliche Überlieferung gleichwohl aufeinander bezogen. Denn die individuelle Artikulation religiöser Gehalte in der familiären Situation ist eine "bedingte Entwicklung"55. Die Familie muss auf bestimmte Traditionen rekurrieren, die sie weder erzeugen noch beliebig frei wählen kann. Offenbar wird aber die Überlieferung von religiösen Erzählungen und Bildern, welche Familienreligiosität inhaltlich bestimmen und einfärben, von Familien zunehmend als Leistung einer kulturellen Erinnerung gesehen, nicht mehr als Aufgabe der Kirche.56 Die Kinderbibel tritt zunehmend neben die "Heilige Schrift"57 der Kirche58 als Sammlung religiöser Geschichten, die sich einer privaten Religiosität zu ihrer Artikulation und zur Ausbildung einer Familienreligiosität anbietet.59

6. Die Kinderbibel als Medium religiöser Erinnerung

Es ist mitnichten trivial, sich klar zu machen, dass Erwachsene in Kinderbibeln eine bestimmte Form der Erinnerung von Kindern organisieren. Johann Hübner formuliert 1714 in der Vorrede zu seinen Biblischen Historien das Erinnerungsanliegen der Erwachsenen in Form eines Gebetes, welches das lernende Kind selber spricht: "Schärffe doch mein Gedächtnis, daß ich dein Wort recht fassen und begreifen könne"60.

Als Werkbearbeitung - als Erwachsenenliteratur, die für Kinder bearbeitet wird - zielt die Kinderbibel auf eine generationsübergreifende Kontinuität. Solche Kontinuierungsprozesse bilden sich aus als Reproduktion und Einprägung religiöser Bilder und Geschichten in Herz und Gedächtnis nachfolgender Generationen, und insofern über eine "konnektive Struktur", die eine Vernetzung unterschiedlicher Erfahrungs- und Erwartungshorizonte leistet. Jan Assmann hat diese zeit- und generationsübergreifende Kontinuität, die in jeder Gesellschaftsform ausgebildet werden muss, das kulturelle Gedächtnis genannt und Gedächtnis und Erinnerung als einen Grundvollzug der jüdisch-christlichen Religiosität namhaft gemacht.61



Das Stichwort "Erinnerung"62 wird in Bezug auf Kinderbibeln häufig im Zusammenhang mit der Funktion von Bildern genannt. Martin Luther betont im Vorwort seines Passionals die Bedeutung der Bilder für die Memoria der göttlichen Dinge: "Umb der kinder und einfeltigen willen, welche durch bildnis und gleichnis besser bewegt werden die Göttlichen geschicht zu behalten, denn durch blosse wort odder lere"63. In diesem Sinn äußert sich auch 450 Jahre später der Bischof der schaumburg-lippischen Landeskirche Heubach im Vorwort zu einer Bibel für russlanddeutsche Kinder mit Bildern von Schnorr von Carolsfeld, dass die Bilder "das Gehörte oder Gelesene gewiss veranschaulichen und behaltbar machen"64. Und Jörg Erb verinnerlicht in seinem Schild des Glaubens den Vorgang der Erinnerung. Nicht zufällig greift er eine Formulierung aus dem Deuteronomium (Dtn 6,6+7; 11,18) auf, um eine Erinnerungsart zu charakterisieren, die im Herzen ist und ins Gemüt geschrieben steht: "Das Wort wird in diesem Buch durch Bilder ergänzt. Sie wollen eine Hilfe sein zum Einprägen der Geschichten nicht nur ins Gedächtnis, sondern auch ins Herz und Gemüt"65.

Die Bedeutung der Bilder in einer Kinderbibel für das kindliche Erinnern wird deshalb unterschätzt, wenn die Bilder nur in einem äußerlichen Sinn als Gedächtnisstütze gesehen werden. In einem viel grundlegenderen Sinn ist Erinnerung auf Bilder bezogen, insofern Erinnerung selbst "szenischen Charakter"66 hat. Es ist deshalb kein Zufall, dass es Bilder in Kinderbibeln gibt. Sie sind nicht nur Memorierhilfe, sondern Indikatoren eines Erinnerungsprozesses, in dem Bild und Wort das innere Empfinden67 lebensbedeutsamer Szenen bewirken wollen.

Nun gilt aber für die familiären Überlieferungsformen, die um die modernen Kinderbibeln herum entstanden sind, dass der für Luther, aber selbst noch für Heubach und Erb fraglose Konnex von häuslicher Erinnerungskultur und öffentlichen Formen der Erinnerungspraxis im Gottesdienst einer Gemeinde nicht mehr selbstverständlich ist.68 Die Überlieferung, die Grundvollzug eines familiär-privaten Gedächtnisses ist, und die Überlieferung im öffentlichen Gottesdienst, also der Kirche als Erinnerungsgemeinschaft, treten nebeneinander. Im Zentrum moderner Kinderbibeln steht nicht primär die "geschuldete Erinnerung"69, die Satzungen und Verordnungen, die ein Kind kennen muss, um sich in eine religiöse Tradition einzugliedern, sondern die biographische Erinnerung an diejenigen biblischen Texte und Überlieferungen, die "für Kinder verständlich und interessant"70 sind. Nicht in erster Linie die Kontinuität einer Tradition oder die Identität einer religiösen Gemeinschaft, sondern das Kind in seiner Welt, seine biographische Kontinuität ist Adressat und Kriterium für Textauswahl, Gestaltung und Konzeption moderner Kinderbibeln: "Tatsächlich scheint die Hauptfrage der Kinderbibeln [...] die primäre Sorge zu sein, [...] ob die Bibelworte oder der Bibelinhalt für die Adressaten von Bedeutung ist"71.

In einer solchen prinzipiellen Ausrichtung am kindlichen Rezipienten72 folgen moderne Kinderbibeln dem Bedürfnis der Eltern, ihren Kindern einen individuellen Zugang zu religiösen Themen zu ermöglichen. So tritt die Weitergabe religiöser Inhalte in einer familiären Erinnerung73, zwar nicht beziehungslos, aber doch als eigenständiger Ort und eigene Sozialform, um Glauben und Leben ineinander zu verweben, neben die zentrale Vergegenwärtigung der religiösen Tradition im Leben einer Gemeinde: also neben den Gottesdienst als "vergemeinschaftende Öffentlichkeit und auftragsgemäße, traditionsgeleitete Gestaltung"74 der Verkündigung des Evangeliums.

Was aber könnte dann das Integrationsmoment sein? Worin gründet der Konnex von Familie und Kirche unter den gewandelten Bedingungen christlicher Überlieferung? Ich möchte deshalb in einem abschließenden Gedankengang die Vermittlung der spezifisch kirchlichen Erinnerungskultur mit Formen der familiären Erinnerung skizzieren, um dann an einigen Texten aus Kinderbibeln zu zeigen, welche Chancen sich daraus für die Kirche wie für die Familien ergeben.

7. Die Kinderbibel zwischen privater Erinnerungskultur und kirchlichem Gedächtnis

Anders als dies die Wahrnehmung aus religionssoziologischer Sicht nahe legt, ist die Kirche nicht nur heiliger Kosmos und öffentlicher Sinnhorizont, aus dem die Formen der Daseinsführung75 in die Privatheit von Familie und Alltag ausgewandert sind. Kirche war immer auch eine Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft, die kontinuierlich und sachlich auf private Artikulationsformen von Religion bezogen ist, wie sie sich etwa als (primäre) religiöse Sozialisation in Familien neben der Kirche entwickeln. In dieser Funktion als institutionelle Erinnerungsgemeinschaft markiert die Kirche genau den Ort, an dem eine private Familienüberlieferung immer wieder verflüssigt und variiert wird, um nicht in Gegensatz zur "fortschreitenden Gegenwart"76 zu geraten.

Erinnerung, die nicht nur im äußerlichen Sinn Traditionsbestände in Form des Wissens bewahren, sondern einer lebensbedeutsamen Aneignung zuführen will, hat variierenden Charakter.77 Solche Varianten von Lebens- und Zeitumständen sind keine äußerlichen Einkleidungen im Sinn einer modischen Anpassung an den Zeitgeist, sondern die Art und Weise, wie sich ein eigenes Verhältnis zur Tradition, wie sich der Geist als subjektiver Geist aufbaut. Das gilt nun besonders für die christliche Traditionsbildung, die davon ausgeht, dass zwar das Heil in Christus extra nos konstituiert ist, aber angeeignet wird, insofern der Geist in nobis wirkt. Christliche Überlieferung vollzieht sich daher nicht in einer bloßen Wiederholung78, einem nur äußerlichen Empfang des Wortes, sondern vor allem als innerliche Aneignung, als individuelle Variation angesichts gewandelter Zeitumstände. In der christlichen Erinnerungsgemeinschaft wird deshalb nicht einfach "wiedererinnert", sondern es wird "weitererinnert"79. Beides, einerseits auf konkrete Ausdrucksgestalten des Heils angesichts veränderter Zeitumstände hinzuarbeiten und sie andererseits in ein und demselben geistigen Akt80 als notwendige, aber prinzipiell korrekturbedürftige Vereinseitigungen zu begreifen, charakterisiert die Eigenart der christlichen Erinnerung als Werk des Heiligen Geistes.

Zu dieser Form der Erinnerung gehört aber nun, dass jede individuelle Artikulation, weil immer auch eine korrekturbedürftige Verstellung, auf andere Artikulationen, fremde Sichtweisen und praktische Vollzüge angewiesen ist - also auf eine Erinnerungsgemeinschaft in wechselseitiger Kommunikation.81 Damit sich der Glaube nicht abschließt und in eine private "Erlebnisgesellschaft"82 abgleitet, muss er sich dem "Abenteuer der intersubjektiven Artikulation individueller Erinnerung"83 öffnen.

Die Erinnerungsgemeinschaft Kirche, die der privaten Erinnerung das Abenteuer intersubjektiver Kommunikation anbietet, könnte so der Ort sein, um die vielfältigen Horizonte, in denen wir leben, zu vernetzen, zu verstetigen und immer wieder zu überschreiten. Wahrgenommen wird aber vor allem der große Abstand der Kirche zu den modernen Lebensgeschichten. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es nicht immer gelingt, die wechselseitige Bezogenheit von Familie und Gemeinde als Subsysteme einer sich selbst regulierenden84 Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft deutlich zu machen.

8. Der Konnex von kirchlicher und privater Erinnerungskultur

Das Auseinandertreten kirchlicher und privat-religiöser Überlieferungsformen, wie es sich an der Bedeutung der Kinderbibel für die religiöse Sozialisation in Familien zeigt, ist Ausdruck der Ausdifferenzierung des neuzeitlichen Christentums. Ausdifferenzierung schließt aber eine Beziehung der verschiedenen Formen nicht aus, in denen sich das Christentum überliefert und vergegenwärtigt. Aber das Nebeneinander ist mit dem Hinweis auf die nur bedingte Lebensfähigkeit der einzelnen Überlieferungsgestalten85 nicht zu beheben. Erst wenn sich zeigen lässt, wie die Beziehung der religiösen Überlieferung in Familien zu kirchlichen Formen eine für die private Religion unverzichtbare Erweiterung und Bereicherung ihrer eigenen Gestalt darstellt, besteht die Chance, dass das Moment der Integration mehr ist als nur eine Behauptung oder ein frommer Wunsch.

Fragt man sich, worin die Leistung der kirchlichen Erinnerungsgemeinschaft für private Formen der religiösen Erinnerung liegen könnte, wie sie mit Kinderbibeln vorstellig werden, dann hilft der Hinweis, dass lebendige Erinnerung, die nicht einfach Wiedererinnerung, sondern Weitererinnerung sein will, immer vorbereitete Traditionen aufnimmt und sie zugleich überschreitet. Das Wissen um die Bedeutung der Regelmäßigkeit und Stetigkeit der Erinnerung wie um die Bedeutung variierender Vergegenwärtigung, und zwar das eine im anderen, also "Kontinuität durch Variation"86 oder Fortschritt im Selben, ist innerhalb der kirchlichen Erinnerungsgemeinschaft prägnant ausgebildet - und zwar als Konsequenz ihres christlichen (trinitarischen) Gottesbewusstseins.

Man kann sich diesen Zugewinn an Deutlichkeit klar machen im Blick auf die Fehlformen, Willkür einerseits und Trivialität andererseits, die idealtypisch bei Kinderbibeln möglich sind. Kinderbibeln können, wie jede andere Artikulation des Glaubens, misslingen, weil sie im Extrem entweder Variationen sind, ohne signifikante Beziehung zum Thema (Noah als Seeräubergeschichte), oder Wiederholungen, ohne signifikante Beziehung zur fortschreitenden Gegenwart.

9. Qualitätssicherung

Das bedeutet nun, dass für die Kinderbibeln und die mit ihnen verbundene Familienreligiosität die in der Kirche ausgebildete Form der Erinnerungskultur, die "Kontinuität durch Variation" vermittelt, eine Art von Qualitätssicherung darstellt. Ich möchte das an zwei Versionen der biblischen Geschichte verdeutlichen, die erstaunlicherweise in der Hitliste der beliebtesten Texte für Kinder den ersten Rang einnimmt: Noah und die Arche.

Ich beginne mit einem Textbeispiel aus einer der Kinderbibeln für die Allerkleinsten. Allererste Kinderbibeln für die Zielgruppe der 2 bis 4-Jährigen sind ein Phänomen der jüngeren Verlagsgeschichte. Die meisten Kinderbuchverlage haben neben einer Kindervollbibel eine Auswahl von biblischen Geschichten im Programm mit minimalem Text- und maximalem Bildanteil. Gedacht als Einstieg in die Welt biblischer Geschichten verbindet sich mit dieser Kleinstkinderbibel die Absicht, die Kinder an die Kindervollbibeln im eigenen Verlagsprogramm heranzuführen. Kinderbuchverlage partizipieren auf ihre Weise an der entwicklungspsychologischen Ausdifferenzierung des Kinder- und Jugendalters.

Im Pattloch-Verlag erschien 1996 eine so genannte "Baby-Bibel"87. Der Text der Baby-Bibel von Barbara Cratzius bietet die Noahgeschichte in exakt fünf Hauptsätzen. Interessant ist an diesem Text, was er nicht mehr sagt. Es fehlen die irritierenden Momente, die Verderbtheit der Menschen (Gen 6,5), aber auch die Grenzerfahrungen mit Gott, sein Vernichtungsbeschluss (Gen 5,7) und die Schilderung der erfolgten Vernichtung alles Lebens auf Erden, ausgenommen Noah und dem, was in der Arche lebt (Gen 7,23). Nur angedeutet wird die Bundesverheißung im Bild mit einem Regenbogen. Die Harmlosigkeit der Szene spiegelt sich in den freundlichen, hellen Farben und den lachenden Gesichtern der Tiere wider.

Von anderer Qualität ist mein zweites Textbeispiel. Es stammt aus der in der Ars Edition erschienenen Bilderbibel mit allerersten Geschichten aus dem Alten Testament.88 Der Text von Reinhold Meier ist in diesem Fall größer, die Geschichte wird ausführlicher erzählt. Auch diese Variante verzichtet auf den Vernichtungsbeschluss Gottes, auf die Erwähnung der Verderbtheit der Menschen, verzichtet auf die Schilderung des Untergangs der Welt mitsamt den Tieren und Menschen außerhalb der Arche. Deutlicher, auch vom Bild her, wird die Erfahrung der Bedrohung durch den langen Regen, ohne dass man Gründe für diese Katastrophe erfährt. Im Vordergrund steht die Arche als Symbol der Geborgenheit. Gott hält die Menschen in der Arche geborgen wie in seinen Händen. Die ganze Erzählung der Noahgeschichte ist um dieses Bild gruppiert. Auch eine Anwendung auf den kindlichen Rezipienten wird mitgeliefert: So wie Gott Noah und seine Familie geborgen hält, so hält er auch dich geborgen. Schließlich mündet, in Anklang an Röm8, die Geborgenheitszusage Gottes in eine allen Katastrophen überlegene Gewissheit, dass nichts das Kind aus Gottes Hand reißen kann.

Barbara Cratzius' Baby-Bibel scheint mir eindeutig ein Beispiel für die Trivialisierung einer biblischen Geschichte zu sein. Bei Reinhold Meier dagegen kann man fragen, ob nicht sein Ausweg, die Noah-Geschichte um die Arche als Symbol der Geborgenheit zu zentrieren, gerade für sehr kleine Kinder erschließend ist. Was beide Textbeispiele verbindet - und das hat durchaus mit dem Problem der Trivialisierung zu tun - ist der Hang zum idealisierten guten Gott. Die neue Sanftheit Gottes, die sich im Zuge der Aufklärung in den Kinderbibeln formiert, ist laut Ruth Bottigheimer der Ausdruck der Arbeit an einem permanenten Zwiespalt zwischen dem "idealen Gott und dem Handeln Gottes im Alten Testament". Dieser Zwiespalt nötigt "jede Generation [ihn] zu überbrücken, indem sie den biblischen Text für Kinder [...] bearbeitet"89. Ich lasse dahingestellt, ob Bottigheimers Zuordnung, der ideale Gott einerseits und sein wenig ideales Handeln im Alten Testament andererseits, die Spannung zwischen kindgerecht und schriftgemäß angemessen charakterisiert.

Deutlich ist jedenfalls, dass die Bearbeitung der Bibel für Kinder manche Stoffe überhaupt ausscheidet, andere dagegen nur aufnimmt, wenn sie, wie im Fall der Noahgeschichte, gekürzt oder abgemildert werden. Es sind vermeintliche oder berechtigte Rücksichten auf die Kinder und die Entwicklung des frühkindlichen Urvertrauens,90 der solche Idealisierungen Gottes und der Verzicht, ihn noch länger bildlich darzustellen,91 geschuldet sind - auch wenn die Entwicklung des kindlichen Gottesbildes aus pädagogischer und psychologischer Sicht92 viel komplexer und widersprüchlicher ist, als solche meist intuitiven Hintergrundannahmen suggerieren.

Es lassen sich aber auch gute theologische Gründe dafür aufbieten, warum von dem Idealbild eines guten Gottes93 in den Bearbeitungen der Bibel für Kinder die irritierenden und abgründigen Seiten ferngehalten werden. Religionspädagogisch einschlägig ist hier der kategorische Imperativ christlicher Erzählkunst. Die "Einzigartigkeit, Definitivität und das ein für allemal der Menschlichkeit Gottes, die am strengsten zum Ausdruck kommt in der Konfession Gott ist Liebe" impliziert nach Eberhard Jüngel die erzählerische Grundregel, dass "der Satz Gott ist Liebe alle Rede von Gott - auch die vom Zorn und vom Gericht Gottes! - begleiten können muss"94.

Dieser Imperativ christlicher Erzählkunst ist allerdings keine Lizenz zur Trivialität.95 Wenn der Satz "Gott ist Liebe" zur Plattheit eines "Märchenbuchliebergott"96 herabsinkt, dann ist das Ideal im Sinne Ricurs97 erstarrt zum Idol, der Sinnüberschuss reduziert. Die Geschichten von Gott sind nicht mehr im "Hofe ihrer Möglichkeiten" gesehen. Und nur im Horizont vergangener und zukünftiger Möglichkeiten sind diese Geschichten, was sie sind: Andeutungen eines Reichtums, der in keiner Geschichte von Gott eingeholt werden kann.98 Das könnte ein Grund sein, warum es überhaupt der Geschichten, Bilder und Metaphern bedarf, um Gott zur Sprache zu bringen - um immer mitzuerzählen, dass von Gott noch mehr zu erzählen ist, als das, was gerade erzählt werden kann.

Hängt aber die Gefahr in manchen Kinderbibeln, den Satz "Gott ist Liebe" zu trivialisieren, nicht ursächlich mit dem Ausblenden aller irritierender Momente, dem Zorn, dem Gericht, dem Strafhandeln Gottes zusammen? Nicht nur die Bilder eines strafenden Gottes, auch der Kinderglaube an den lieben Gott kann zum Problem werden, wenn es darum geht, mit seinen Gottesbildern zu reifen und sich von frühen Geborgenheitserfahrungen abzulösen. Es geht nicht nur um einen Wandel der religiösen Symbole im Rahmen der eigenen Lebensgeschichte. Es geht auch um eine "Entwicklung der Symbolfähigkeit und des Symbolverständnisses"99 und dazu muss der "Verweisungscharakter und die Uneigentlichkeit religiöser Symbole", also der symbolische, nicht der idiolisierende Gebrauch religiöser Symbole, erkannt und erlernt werden können.

Wäre also an diesem Punkt, der die erzählerische Grundhaltung betrifft, und sich in der Auswahl der Texte und der Grundintention ihrer Bearbeitung auswirkt, doch die Linie Luther - Kierkegaard - Elert100 zu verfolgen, statt in der Linie Luther - Karl Barth auf die Widerspruchsfreiheit Gottes als die Liebe zu dringen? Steht nicht gerade die Irritation der Grenze, der Riss in der Darstellung Gottes, also das, was mit der Rede vom deus absconditus gemeint sein dürfte, dafür ein, dass "immer noch mehr" von Gottes Liebe zu sagen bleibt, oder gilt dies auch und gerade von einer gut erzählten Idealfigur, auf die kein Schatten fällt? Ich kann diese Frage hier nicht lösen, sondern nur darauf hinweisen, dass sich systematisch-theologische Grundfragen am Ort religionspädagogischer Praxis neu stellen und für diese hoch bedeutsam sind.

10. Schlussüberlegung

Kirche als Erinnerungsgemeinschaft ist auf die Familie angewiesen.101 Nicht nur in ihrem äußeren Bestand hängt sie ab von der Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder taufen zu lassen, sie christlich zu erziehen im Kindergottesdienst, Kindergarten, Religionsunterricht, Konfirmandenunterricht. Sie ist auch auf die private Erinnerung der Familien im Sinn einer vorbereiteten Religionskultur angewiesen. Und umgekehrt gilt, dass die private Erinnerungskultur der Familie angewiesen ist auf die Erinnerungsgemeinschaft Kirche,102 will sie nicht ihre individuellen Deutungsvarianten isolieren. Die Kinderbibel wird jedenfalls dann zur Brücke zwischen familiärer Sozialisation und kirchlicher Erinnerungsarbeit, wenn bei Taufen, Bibelwochen und Familiengottesdiensten die vertrauten Geschichten der Bibel wiederholt werden, aber so variiert, dass für Kinder wie Erwachsene das Gewohnte überraschend neu und lebensbedeutsam werden kann. Wenn in der Kirche so gekonnt103 an Gott erinnert und die Geschichten von ihm so lebendig weitererzählt werden, dann kommt gegen diese Qualität von "Kontinuität durch Variation" keine Trivialisierung des Evangeliums auf. Dazu müsste allerdings auch in der Kirche das Bewusstsein deutlicher ausgebildet werden, als Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft auf die religiöse Überlieferung der Familie bezogen zu sein.104 Die Kirche würde dann ihrem nach Schleiermacher eigentümlichen Charakter gerecht, "nichts anderes als eine Gemeinschaft in Beziehung auf Frömmigkeit"105 zu sein.

Summary

How will the Christian faith be handed down to coming generations? In modern society as in earlier times this happens in and through families with the help of illustrated children's Bibles, though modern families naturally do not understand themselves as agents of institutional church socialization. They are primarily interested in the needs of their children and less in integration with the religious community. Modern children's Bibles reflect this interest in their articulation of Christian tradition in a language addressed to the individual child. However, children's Bibles can also provide a bridge between family and church socialization. In order to achieve this goal, churches must become aware that the forms of their tradition can enrich and intensify family religious practice.

Fussnoten:

1) J. W. von Goethe, Dichtung und Wahrheit I/1, Hamburger Ausgabe Bd. 9, 35. Erstaunlicherweise führt diese Betrachtung der Merianschen Kupfer bei Goethe nicht zu einer genaueren Vorstellung des Schöpfergottes: "Der Knabe hatte sich überhaupt an den ersten Glaubensartikel gehalten [...] Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht verleihen" (a.a. O. 43).

2) Auch die prägende Kraft gemeinsamer Bilder, nicht nur gemeinsamer Worte, ist ein starkes Element der Gemeindebildung. M. Brecht, Christian Gottlob Barths "Zweimal zweiundfünfzig biblische Geschichten" - ein weltweiter Bestseller unter den Schulbüchern der Erweckungsbewegung, in: Pietismus und Neuzeit (= PuN) Bd. 11, 1985, 138: "Was es für eine ökumenische Sozialisation bedeutete, daß die christlichen Vorstellungen durch die weithin gleichen Illustrationen geprägt wurden, läßt sich kaum abschätzen und bedürfte fachkundiger Würdigung."

3) Vgl. C. Reents, Art. Kinderbibel, TRE 18, 1989, 180. Die von Gustave Doré illustrierte katholische Bilderbibel mit Text von Allioli (franz. 1866, dt. 1867/70) war nicht für Kinder konzipiert.

4) M. Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Frankfurt a. M. 1987, 235. Kundera beschreibt, anders als Goethe, das einsame Kind vor seiner Kinderbibel. C. Reents (Die Bibel als Schul- und Hausbuch für Kinder. Johann Hübner, Zweymal zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien, der Jugend zum Besten abgefasset [...] [= Hübner], 1984, 38) vertritt die These, Hübners pädagogisches Konzept habe das Ziel gehabt, das Kind unabhängig von der religiösen Erziehung durch die Hausgemeinschaft zu machen, weil diese ihren erzieherischen Pflichten nicht mehr nachkam. Hübners Haus- und Schulbuch sei ein erster Schritt auf dem Weg zum Kind als unabhängigem Leser seiner Bücher.

5) Für die empirische Erforschung kindlicher Religiosität könnte nach F. Schweitzer die Auswertung autobiographischen Materials "ein lohnendes Unterfangen sein" (F. Schweizer, Lebensgeschichte und Religion. Die religiöse Entwicklung im Kindes- und Jugendalter [= LuR], 41999, 58). Material gibt es offenbar genug, folgt man G. Adam (in: G. Adam/R. Lachmann, Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung [= KuSch], 1999, 64), der bei Älteren auf Erinnerungen an den starken Eindruck der Bilder von Ernst Veits "Gottbüchlein" stieß, oder C. Reents (KuSch, 14), die von "vielen älteren Zeitgenossen" berichtet, die sich wie die Pfarrerstocher Ruth Rehmann an die Bilder von Schnorr von Carolsfeld erinnern.

6) F. Schweitzer (LuR, 55) nennt: 1. Befragungen (Starbuck, Shell-Studie); 2. Psychoanalytische Auswertung einer Lebensgeschichte als Fallgeschichte (Freud, Erikson); 3. Klinische Interviews (Piaget lenkt das Kind, das sich selbst lenkt); und 4. Offenes Interview (Qualitative Befragung). Außerdem als phänomenologische Zugänge: A) Sammlung von Alltagsbeobachtungen religiöser Äußerungen; B) Kinderzeichnungen; C) Autobiographische Berichte.

7) G. Adam/R. Lachmann, Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung, Göttingen [= KuSch], 1999, 8.

8) C. Reents (Art. Kinder- und Schulbibeln, LexRP Bd. 1, 2001, 1008) spricht von schätzungsweise 500 Kinder- und Schulbibeln, die in den letzten 200 Jahren in deutscher Sprache erschienen sind. Eine Bibliographie fehlt. 250 verschiedene Kinderbibeln aus der laufenden Produktion deutscher Verlage, ohne Schulbibeln, waren während der Schwerter Kinderbuchtage 1990 ausgestellt worden (vgl. R. Cordes [Hrsg.], Die Bibel als Kinderbuch, 1991, 9). R. Schindler (Neuere Kinderbibeln. Beschreibung- Kritik - Empfehlungen, Zürich, 41987) bespricht eine Auswahl von ca. 70 deutschsprachigen Voll- und Teilbibeln für Kinder, dazu eine Fülle von biblischen Kinderbüchern. G. Rosenberger (Das große Buch für kleine Leute, Essen, 1997, 11) nennt für 1996 allein 60 Vollbibeln für Kinder im Angebot der Buchhandel-Grossisten.

9) C. Reents, Die Bibel als Schul- und Hausbuch für Kinder. Johann Hübner, Zweymal zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien, der Jugend zum Besten abgefasset [...] [= Hübner], 1984.

10) Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien Aus dem Alten und Neuen Testamente, Der Jugend zum Besten abgefasset (1714), hrsg. von. C. Reents u. R. Lachmann, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1731, Zürich 1986.

11) M. Brecht, Christian Gottlob Barths "Zweimal zweiundfünfzig biblische Geschichten" - ein weltweiter Bestseller unter den Schulbüchern der Erweckungsbewegung, in: Pietismus und Neuzeit (= PuN) Bd. 11, 1985, 127-136. Brecht erklärt Barths "ökumenischen" Erfolg (87 Übersetzungen, Auflage über 1,5 Mill.) mit dessen gegen den Rationalismus gerichteten Biblizismus und vermutet darin eine Wurzel der Ökumene: "Ihr schlichter Biblizismus dürfte sowohl zu den Wurzeln einer europäischen konservativen Gemeindetheologie wie der werdenden jungen Kirchen gehören und bilden in dieser Hinsicht ein einigendes Band" (a. a. O., 138).

12) C. G. Barth, Zweimal zweiundfünfzig biblische Geschichten für Schulen und Familien (1832-4831945). Es gibt nur wenig Zusätze im Text. Der Erzählton ist direkt an die Kinder gewandt: "Nicht wahr, liebe Kinder, nun möchtet ihr auch gern etwas von den Kinderjahren Jesu erzählen hören." (ebd. 121). C. G. Barth (1799-1862) war Pfarrer in Möttlingen. Er vereinigt nach M. Mezger "Reichtum gedanklichen Tiefsinns mit weltweiter Organisationsgabe". Er wird freier Schriftsteller und Verleger, gründet den Calwer Verlag und macht Württemberg zum "Kernland missionarisch-biblischen Christentums" (M. Mezger, RGG3, 893 f.).

13) R. Tschirch, Biblische Geschichten erzählen, Stuttgart 1997; Bibel für Kinder: die Kinderbibel in Kirche, Gemeinde, Schule und Familie, Stuttgart 1995.

14) R. Schindler/F. Jehle/E. Külling/R. Fassbind-Eigenheer, Neuere Kinderbibeln. Beschreibung - Kritik - Empfehlungen, Zürich 51989. Außerdem: R. Schindler, Zur Hoffnung erziehen. Gott im Kinderalltag, Lahr 1999.

15) G. Rosenberger, Das große Buch für kleine Leute. Kriterien und Beurteilung ausgewählter Kinderbibeln, Essen 1997.

16) G. Adam/R. Lachmann [Hrsg.]: Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung, Göttingen 1999. Außerdem ist im Rahmen der Veröffentlichungen der katholischen Akademie Schwerte ein Band zu Kinderbibeln erschienen: Die Bibel als Kinderbuch, hrsg. von. R. Cordes, Schwerte 1991.

17) Der Begriff "Kinderbibel" ist nach C. Reents zum ersten Mal im Reformationsjahrhundert nachweisbar bei dem Lutherschüler Johannes Mathesius (1562) und bezeichnet einen Katechismus für Bergleute "Nun hat ein Christlicher Bergmann in seinem Catechismo und kinderbibel auch die zehn gebot [...]" (C. Reents, Art. Kinderbibel, TRE 18, 1989, 176; und Art. Kinder- und Schulbibeln, LexRP Bd. 1, 2001, 1009).

18) Ich folge damit einem Vorschlag von J. Braun (KuSCH, 243). Historisch umfassender geht C. Reents von der Gebrauchsituation aus: "Allen [Kinderbibeln] ist gemeinsam, dass sie von ihrer Gebrauchsituation her definiert werden" (C. Reents, Art. Kinder- und Schulbibel, LexRP Bd.1, 2001, 1009).

19) Vgl. J. Braun, KuSch, 243. Zu diesem Literaturtyp gehören Werke wie Gustav Schwabs Bearbeitung der antiken Heldensagen, Gullivers Reisen von Jonathan Swift oder Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Kinder als altersspezifische Zielgruppe ist eine "Erfindung" der Neuzeit. Elementarbibeln im sechzehnten Jahrhundert orientierten sich nicht am Alter, sondern am Wissensstand. M. Luther schreibt seine kleine Bilderbibel, das Passionalbüchlein von 1529 "umb der kinder und einfeltigen willen." Im NT (vgl. 1Kor 3; 1Kor 13,11; Eph 4,12-14) wie für Luther steht das Kind für den noch nicht gebildeten Menschen, stellvertretend auch für ungebildete Erwachsene. Erst Mitte des 19. Jh.s spielte die altersspezifische Erlebniswelt der Adressaten eine Rolle. Kinderbibeln orientieren sich seitdem am Alter der Kinder (vgl. R. Bottigheimer, Kinderbibel als Gattung, in: KuSch, 230 f.).

20) G. v. Wilpert, Art. Bearbeitung, in: ders., Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1989, 85.

21) M. Luther, Ein betbüchlein mit eym Calender und Passional hübsch zu gericht, Kassel 1982 (Wittemberg 1529), WA 10/II, 458-470 (nur Text); Reprint Kassel. 50 Holzschnitte aus der Werkstatt Lukas Cranach d. Ä. mit knappen, wörtlichen Kernsätzen aus biblischen Historien.

22) Die Bibel in Bildern. 240 Darstellungen erfunden und auf Holz gezeichnet von Julius Schnorr von Carolsfeld. Mit kurzen Bibeltexten nach der revidierten luth. Bibel, Leipzig 1860. Der Text ist den Bildern vorangestellt. Es entsteht dadurch tatsächlich eine Bibel in Bildern. Nach der Schnorrschen Bilderbibel gibt es 1879 eine Ausgabe mit 42 Illustrationen, für kleine Kinder erzählt.

23) Vgl. T. Erne, Art. Rezeption, TRE 29, 1998, 152. Rezeption charakterisiert auch in der katholischen Tradition, wenn auch mit wesentlicher anderer Betonung, den Vorgang religiöser Überlieferung.

24) Zum medialen Charakter der Überlieferung äußert sich Wendebourg/Brandt [Hrsg.]: Traditionsaufbruch. Die Bedeutung der Pflege christlicher Institutionen für Gewißheit, Freiheit und Orientierung in der pluralistischen Gesellschaft, Hannover 2001, 24 u. 25: "Es ist die Würde der Überlieferung, Instrument zu sein, dessen sich das Evangelium bedient." Glaube richtet sich deshalb auch "nicht auf die Überlieferung, sondern auf das sich selbst durch die Überlieferung vergegenwärtigende Wort."

25) Vgl. D. Wendebourg/R. Brandt [Hrsg.]: Traditionsaufbruch, 2001, 10: "Schon das Neue Testament zeigt die Bedeutung des christlichen Hauses". Im Blick ist hier vor allem die missionarische Bedeutung des Hauses. Das Haus war Stützpunkt für die Ausbreitung des Evangeliums (vgl. K.-H. Bieritz/C. Kähler, Art. "Haus III", TRE 14, 1985, 478-492). Doch wird auch die Ambivalenz Jesu zum Haus erwähnt, in das er vielfältig eingeladen wird und das er durch seine eigene Unbehaustheit zugleich relativiert. Die Entwicklung fassen Bieritz und Kähler mit der These von der Auflösung des "Ganzen Hauses" zusammen, das die antike Ökonomik bestimmt und dann sukzessive - retardierendes Moment ist die Reformation, die sich gegen die Enthäuslichung stellt - in der modernen ausdifferenzierten Gesellschaft unter den Druck der funktionalen Anforderungen an Wirtschaft und Gesellschaft gerät. Für Luther ist das ganze Haus das Abbild der Kirche. Die kirchlichen Verhältnisse bilden sich in den häuslichen ab. Der Hausvater ist Hausbischof und Prediger, versammelt die Hausgemeinde, betet, und unterrichtet den Katechismus. Familie hat unterstützende Funktion. Gottesdienst, exklusiv in der Kirche, und Kirchgang werden nicht in Frage gestellt. Anders im Pietismus. Das Haus wird aufgewertet und hat ergänzende Bedeutung, weil Kirche ihre Aufgabe, die Pflege des religiösen Lebens, nur unzureichend erfüllt. Die abbildhafte Beziehung von Familie und Kirche wird daher bereits im Pietismus - nicht erst in der Moderne - aus religiösen Motiven gelockert.

26) Deutlich wird dies im Kommentar von Peter Höhmann zur 3.EKD-Studie "Fremde Heimat Kirche": "Schaut man sich die Merkmale [für die Kirchenbindung] im einzelnen an, so ist auffällig, daß die stärksten Einflüsse weiterhin als Sozialisationsresultat zu verstehen sind. Charakteristisch ist hier der private, den kirchlichen Interventionen weitgehend entzogene, Charakter dieses Merkmals [der familialen religiösen Sozialisation]. Eine konsistente religiöse Sozialisation erfolgt ganz dominierend über die Familie" (Peter Höhmann, Kirchliche Bindung und Schließungsprozesse, in: Fremde Heimat Kirche. Erkundungsgänge, hrsg. von. J. Matthes, 2000, 161).

27) Nur in Ausnahmefällen wird heute eine Kinderbibel ausdrücklich und programmatisch in Verbindung mit der Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft Kirche gebracht: "Wie bei allen Kinderbibeln mußte auch hier aus der Fülle biblischer Überlieferungen eine Auswahl getroffen werden. Entscheidend war dabei zweierlei: Die Texte sollten in der Tradition der Kirche und des Glaubens einen wichtigen Platz einnehmen. Und sie sollten für Kinder verständlich und interessant sein." (W. Laubi/A. Fuchshuber, Kinderbibel, Lahr 1992, 271-272). "Auf eine freie Bearbeitung wurde weitgehend verzichtet. Dagegen sind die vertrauten Formulierungen der Lutherbibel oder der "Guten Nachricht" in die Nacherzählung einbezogen. Die Kinder sollen ihre biblischen Geschichten wiedererkennen in den Lesungen an Weihnachten, bei Hochzeiten oder Taufen und im sonntäglichen Gottesdienst" (U. Wensell/T. Erne, Ravensburger Kinderbibel, Ravensburg 1995, 156).

28) Nach F. Werner ist diese Trennung im Judentum unvorstellbar. Dort sind Haus und Synagoge, die Feier in der Familie und im Gottesdienst untrennbare Bestandteile des jüdischen Kultus: "Der jüdische Gottesdienst lässt sich in einen synagogalen und einen häuslichen aufteilen. Viele synagogale Gottesdienste werden zu Hause im Kreis der Familie fortgesetzt." (F. Werner, Art "Haus I" TRE 14, 477). Gottesdienst ist beides, in der Synagoge öffentlich, im Haus der private Gottesdienst des Herzens (vgl. Dtn 6,5).

29) V. Drehsen (Art. Sozialisation, LexRp, 2001, 2009) definiert Sozialisation "als gelingende, motivträchtige Übermittlung gesellschafts- bzw. gruppenspezifischer Wert- und Normvorstellungen an solche Personen, die eben dadurch zu partizipationsfähigen Gliedern der Gesellschaft bzw. Gruppe werden." Adressat sind in der Regel die "nachwachsende Generation" und das Ziel der Primär-Sozialisation ist erreicht, wenn "die wesentlichen Ähnlichkeiten, die ein kollektives Leben verlangt, im Geist des Kindes fixiert" (ebd.) sind. Es geht dabei um eine reziproke Aktualisierung eines kulturellen Erbes in der heranwachsenden Person. Trotz des mitunter "autoritären Charakters" der Sozialisation handelt es sich bei der individuell-familiären und institutionell-kirchlichen Erinnerungsarbeit nur um unterschiedliche Aspekte eines Überlieferungsgeschehens. Dafür spricht das Bedürfnis der Eltern ihre privaten Artikulationen in den Horizont kollektiver Erinnerung zu stellen, etwa im Familiengottesdienst.

30) Das muss kein dramatischer Befund sein. "Jeder Institution der Überlieferung entspricht eine bestimmte Gestalt der Überlieferung" und zwar immer die dem jeweiligen Ort entsprechende: "Das Zeugnis des christlichen Glaubens hat in den Institutionen des christlichen Familienlebens nicht dieselbe Gestalt wie im Gottesdienst der ganzen Gemeinde - und braucht dies auch nicht zu haben" (Wendebourg/Brandt [Hrsg.], Traditionsaufbruch, 2001, 96).

31) Nach D. Rössler (Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin 1986, 469) gab es Sokratik als Lehrart in der Aufklärung. Selbstständigkeit und eigenes Denken stehen im Mittelpunkt dieser Lehrform. C. Reents (Hübner, 50) zeigt, dass auch Hübners zergliedernde Fragen das Ziel hatten, das Kind zum selbstständigen Lernen anzuregen.

32) Als Ausdifferenzierung der Sozialformen Kirche und Familie, um Glauben zu lernen, interpretiert D. Korsch Luthers Vorschlag, den Katechismusunterricht durch den Hausvater zu erteilen: "In dem Maße, wie die Reformation darauf setzt, daß Glauben im Leben als eigene Deutungsaktivität verankert wird, reicht die verallgemeinernde Sozialform der Kirche nicht aus, um Glauben und Leben ineinander zu verweben" (D. Korsch, Dogmatik im Grundriß, Tübingen 2000, 25). Korsch schließt die kritische Anmerkung an, ob die Familie heute diese Rolle noch übernehmen kann.

33) H.-J. Fraas, Art. Katechismus, TRE 17, 1988, 717. Fraas bringt diese Erstarrung mit der Aufnahme des Katechismus ins Konkordienbuch in Zusammenhang. Der Katechismus wird mit der Aufnahme ins Bekenntnisbuch auch im Wortlaut kanonisiert und ist nun kirchenrechtlichen und kirchenpolitischen Interessen unterworfen.

34) Zum Wandel des Konfirmandenunterrichts vgl. EKD - Glauben entdecken. Konfirmandenarbeit und Konfirmation im Wandel. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 1997; Evangelische Landeskirche in Württemberg. Mit Kindern und Jugendlichen auf dem Weg des Glaubens. Rahmenordnung für Konfirmandenarbeit, Stuttgart 2000. Zwar ist der Katechismus nach wie vor inhaltlicher Leitfaden der Konfirmandenarbeit, aber "die Inhalte der Konfirmandenarbeit müssen von den Lebenswirklichkeiten, den Erfahrungswelten sowie den Entwicklungsaufgaben der Kinder und Jugendlichen her gedacht werden." (Rahmenordnung 9)

35) M. Kiessig/L. Stemphin/H. Echternach/H. Jetter [Hrsg.]: Evangelischer Erwachsenkatechismus, glauben - erkennen - leben, Gütersloh 62000; Th. Gundlach/L. Stemprin/H. Tolkmitt, Himmel überm Asphalt. Von der Alltäglichkeit des Glaubens, Gütersloh 2000; Arbeitsgruppe Kinderkatechismus/S. Gerke, Erzähl mir vom Glauben. Ein Katechismus für Kinder, Gütersloh 2000.

36) Mit Verkaufszahlen halten sich die Verlage sehr zurück. Eine der am meisten verbreiteten Kinderbibeln, die von Anne de Vries (1955), erreichte bis 1988 eine Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren.

37) Beispiel für eine Jugendbibel, die sich einem religionspädagogischen, theologischen und ästhetischen Konzept verdankt: "Die Nacht leuchtet wie der Tag." Bibel für junge Leute. Konzeption: H. Heller und H. Biesebach, Frankfurt a. M. 1992. Nicht zufällig erscheint diese Jugendbibel in einem Schulbuchverlag und wird im Bereich der EKHN als Konfirmandenbibel benutzt.

38) Th. Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991 (1967); vgl. V. Drehsen, Das Jenseits der Gesellschaft. Die Reprivatisierung des heiligen Kosmos, 1975, 267. Drehsen kritisiert Luckmanns Geschichtstypologie, stimmt aber seiner Kirchenkritik zu: "Kirchen stiften nicht mehr ausschließlich allgemeinverbindlichen Sinn [...] Religiosität ist nicht länger exklusiv an den Bestand der Kirchen gebunden, sondern vielschichtig über die gesamte Gesellschaft verstreut." (ebd.)

39) R. Preul modifiziert deshalb Luckmanns These und diagnostiziert eine Transformation herkömmlicher Kirchlichkeit, die sich auf die Pflege der privaten Existenz, eines "regen Lebens in den von institutionellen Handlungszusammenhängen ausgesparten Nischen" (R. Preul, Art. Religion III, TRE 28, 1997, 546-599, 552 f.) konzentriert.

40) Offenbar bildet auch die "unsichtbare" Religion neue Symbole für Sozialformen aus. Und zwar solche, die nicht mehr als religiös (unsichtbar!) identifiziert werden, etwa die Sakralisierung des Subjekts in Familien, in Partnerschaften, im Köperkult, vgl. Th. Luckmann, Die unsichtbare Religion, 1991, 181.

41) F. Wittekind, Kirche oder Kultur? Überlegungen zu Möglichkeit und Rahmen religiöser Interpretation moderner Kunst anhand des Films "Grüne Tomaten", IJPT 1999, 160.

42) D. Rössler, Die Vernunft der Religion, München 1976, 13.

43) H. Knoblauch, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse, in: T. Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 1991, 7-41.

44) Wendebourg/Brandt [Hrsg.]: Traditionsaufbruch, 2001. Vgl. Anm. 24.

45) Artikulation meint, dass die Bestimmtheit des Heils in Jesus Christus in den symbolischen Formen ausgedrückt, nicht erzeugt wird, vgl. Wendebourg/Brandt [Hrsg.], Traditionsaufbruch, 2001, 25. Erkenntnistheoretisch heißt das, dass Sinn in der symbolischen Übersetzung nicht geschaffen, sondern fixiert wird. Die "Grundfunktion des Bedeutens ist selbst schon vor der Setzung der einzelnen Zeichen vorhanden." (M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 1998, 96).

46) H. Barz (Religion ohne Institution? Jugend und Religion I, 1992, 61) bietet ein Schaubild aus der Studie von Schmidtchen von 1979. Eine kontinuierliche Abnahme der Bindung an Kirche bei Jugendlichen diagnostiziert auch die Shell-Studie (Opladen 2000, Bd. 1, 180): "Gottesdienstbesuch, Beten und Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod sind seit Mitte der 1980er Jahre bei deutschen Jugendlichen in den alten Bundesländern deutlich zurückgegangen." Ebenso sieht H. Knoblauch eine generelle Abnahme der Kirchenverbundenheit: "Ein guter Teil selbst der konventionellen Forschung bestätigt eine anhaltende Tendenz der Loslösung von der institutionellen Religion. Der Kirchenbesuch nimmt ebenso kontinuierlich ab wie das Interesse an kirchlichen Fragen. Nur die Kirchenaustritte nehmen zu." (H. Knoblauch, in: Th. Luckmann, Die Unsichtbarkeit der Religion, Frankfurt am Main 1991, 23).

47) Vgl. F. Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh 41999, 181-185.

48) U. Schwab, Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozess der Generationen, Stuttgart 1995, 280.

49) Man könnte mit V. Drehsen (vgl. Art. Sozialisation, LexRP, 2001, 2009) von einem Auseinandertreten von Primär-Sozialisation (weil in Primärgruppen wie Familie, Clique) und Sekundär-Sozialisation reden.

50) U. Schwab, Familienreligiosität, 1995, 279.

51) Die Studie der VELKD, "Traditionsaufbruch" (hrsg. v. D. Wendebourg u. R. Brandt, 2001, 10) erwähnt kontinuierliche Strukturen, welche die "familiäre Sozialisation stützen" sollten, wie Kinderbibelwochen, Kindergottesdienste, Tauferinnerungsgottesdienste. Diese Gottesdienstformen werden nach P. Höhmann allerdings zunehmend als Familien- nicht als Gemeindefeiern verstanden (vgl. P. Höhmann, Kirchliche Bindung und Schließungsprozesse, in: Fremde Heimat Kirche, Beiträge und Kommentare, hrsg. von J. Matthes, Gütersloh 2000, 174).

52) H.-O. Wölber, Religion ohne Entscheidung. Volkskirche am Beispiel der jungen Generation, Göttingen 1959, 198.

53) U. Schwab, Familienreligiosität, 1995, 279.

54) F. Schweitzer, LuR, 182.

55) F. Schweitzer (LuR, 1999, 183) greift eine Formulierung M. J. Langevelds auf. Zu Langevelds Religions-Pädadgogik "Kind und Religion", vgl. R. Lachmann, Art. Kind, TRE 18, 1989, 156-176, 166.

56) Biblische Geschichten haben sich, wie etwa die klassischen Heldensagen des Altertums, tief ins Gedächtnis der Menschheit eingegraben. Sie sind Teil eines kulturellen Erbes, das Kindern nicht vorenthalten werden darf. Die Bibel als Kulturgut, dieses Motiv notiert auch Reinmar Tschirch in der ehemaligen DDR: "An einem heißen Sommertag am Strand der Insel Rügen im Strandkorb gegenüber - dort liest ein Schulmädchen. Und sie liest in einer Kinderbibel. Mir sind ja nicht in der Kirche, sagt mir die Mutter, aber die Bibel ist ja Kulturgut. Und sie gesteht, daß auch sie, der die Geschichten in der Bibel nicht vertraut sind, gern in der Kinderbibel ihrer Tochter liest." (R. Tschirch, Biblische Geschichten erzählen, Stuttgart, 1997, 15). Welche Kinderbibel das Kind in der DDR liest, wird von Tschirch nicht erwähnt. Die Christenlehre in der DDR knüpfte an katechetische Kinderbibeln der Bekennenden Kirche an und entwickelte sie weiter, vgl. C. Reents, Art. Kinderbibel, TRE 18, 1989, 176-182, 178.

57) So der Frontispiz der Kinderbibel von Anne de Vries: "Die Worte der Heiligen Schrift von Anne de Vries für Kinder erzählt." (Konstanz, 1964, 2).

58) J. Hübner, Haus- und Schulbibel (1714), stellt in seinem Vorwort das Einverständnis zwischen dem Autor und dem Hamburger geistlichen Ministerium dar. Die Kinderbibel gehört in den Zusammenhang des ordentlichen Katechismusunterrichts in Haus und Schule und will den Katechismus nur durch Exempel aus den Biblischen Historien ergänzen. Hübners Moralische Zusätze werden ausdrücklich als schriftgemäß verteidigt.

59) Diese Tendenz zeigt sich bereits bei Schnorr von Carolsfeld, der seine Aufgabe in der "religiösen Menschenerziehung" sah, und zwar "im Kleinen und außer dem Gotteshause", vgl. C. Reents, Die Bibel in Bildern, in: KuSCH, 19.

60) J. Hübner, 2mal 52 Biblische Historien, Leipzig 1714, Vorrede.

61) J. Assmann (Das kulturelle Gedächtnis, 1997, 15) zeigt die Bedeutung der konnektiven, generationsübergreifenden und identitätstiftenden Erinnerung am Beispiel der Liturgie des Sedermahls, dieser Belehrung jüdischer Kinder über den Auszug aus Ägypten (vgl. Dt 6,20; Ex 12,26; Ex 13,14; Ex 13,8). Assmann bezeichnet das Deuteronomium insgesamt als ein Paradigma kultureller Mnemotechnik.

62) J. Hübner, Biblische Historien, Vorrede, "Ein jedwedes Kind hat von seinem Schöpfer empfangen erstlich ein Gedächtnis, daß es etwas auswendig lernen kann [...]". Es folgen noch Verstand und Wille.

63) M. Luther, Passional 1529, Vorwort. Worte und Werke Gottes kann man synästhetisch vor Augen und Ohren halten: "davon singet und saget, klinget und predigt, schreibet und lieset, malet und zeichnet." Luther verteidigt sich dann gegen Einwände der "Bilderstürmer" mit dem Hinweis, er habe immer "Misbrauch und falsche Zuversicht an bilden" verdampt, aber "zu nützlichem und seligem brauch" die Bilder stehen lassen.

64) Bibel für Kinder in deutscher und russischer Sprache, Erlangen (1990), 31993.

65) Jörg Erb. Schild des Glaubens, Lahr 601993. J. Erb will die Lehre zum inneren Erleben werden lassen. Davon zu unterscheiden ist die Gattung der Biblischen Spruchbücher "als Ergänzungen zum Kleinen Katechismus, um die Kenntnis des christlichen Glaubens durch Merkworte und Beweise zu festigen" (C. Reents, Art. Kinderbibel, TRE 18, 1989, 177). Biblische Erzählungen dagegen verbinden beides, Lehre und Erlebnis, Kenntnis (notitia) und Erbauung (fiducia). Sie sind "Zur Belehrung und Unterhaltung (!) gedacht" (a. a. O. 178). Allerdings sind die Erzählungen kein Zweck an sich, sondern unter der Regie der Moral (Lavater, Hebel, Anne de Vries) oder der Lehre (katechetische Kinderbibel, Erb) oder beidem (Hübner).

66) E. Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Worts, in: Die Kunst und die Kirchen, München 1984, 242-259.

67) Das Überlieferungsgeschehen wäre missverstanden, "wenn man annähme, es ginge dabei nur um einen kognitiven Vorgang" (Wendebourg/ Brandt [Hrsg.]: Traditionsaufbruch, 35). Das innere Erleben wird a) als Befreiung von Schuld und b) als Ermutigung und Orientierung verstanden. Christliche Orientierung ist "Innenleitung des Handelns" bzw. "Ausbildung innerer Gewissheit" (a. a. O. 90), welche den Herausforderungen posttraditionaler und pluralistischer Gesellschaften gewachsen ist. Innerlichkeit steht also für Überlieferung qua Aneignung, in der die Beziehung zum Glauben nicht mehr nur qua Tradition, aber auch nicht nur qua Authentizität hergestellt wird.

68) Hübners Verbindung von Katechismus und Biblischem Exempel mit Merksatz geht zum Beispiel davon aus, dass nach lutherischer Kirchenordnung die religiöse Erziehung, und das heißt, die memoria der göttlichen Dinge, die Pflicht der Eltern ist (vgl. C. Reents, Hübner 33).

69) J. Assmann, Gedächtnis, München 1997, 18.

70) W. Laubi/A. Fuchshuber, Kinderbibel, Lahr 1992, 272.

71) R. Bottigheimer, Kinderbibeln als Gattung. Historische und forschungspraktische Bemerkungen zu Gestalt und Wandel einer literarischen Gattung, in: Adam/Lachmann [Hrsg.]: Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung, Göttingen 1999, 231.

72) D. Rössler bezeichnet es als eine der Grundfragen der Religionspädagogik "das Problem der Wendung vom vorgegebenen und objektiven Stoff zur Orientierung des Unterrichts an der Person des Schülers und dessen Religiosität" (D. Rössler, Grundriss der Praktischen Theologie, Berlin 1986, 484).

73) Medien dieser privaten und familiären Erinnerungskultur sind neben der Bibel und der Kinderbibel die quasi agendarische Ordnung privater Familienfeste, die Gedenktage der privaten Familiengeschichte wie Ehe- und Familienjubiläen und Geburtstagsfeiern und die fotografischen Erinnerungsstücke aus verschiedenen Stadien der Familiengeschichte. Und umgekehrt beeinflusst eine eigenständige private Religionspraxis und ihre biographienahe, an der Individualität der einzelnen Subjekte orientierte Erinnerungskultur die öffentlichen Formen der kirchlichen Erinnerungspraxis. So ist "der protestantische Predigtgottesdienst in hohem Maße individualisiert." Die Predigt hat selten noch die Form eines an "die öffentliche Allgemeinheit gerichteten Kanzelvortrags. Sie ist vielmehr als persönliche Anrede an Einzelne gehalten" und kommt erst in subjektiver Aneignung, in der "Predigtarbeit des Zuhörers [...] an ihr Ziel" (Wolfgang Steck, Praktische Theologie, Stuttgart 2000, 316).

74) D. Korsch, Religion mit Stil, Tübingen 1997, 49.

75) Vgl. V. Drehsen, Reprivatisierung des heiligen Kosmos, München 1975, 266: "Sind nicht seit jeher gerade solche Funktionen primär in die Kompetenz der Religion gefallen, die Luckmann mit Stichworten wie Identitätsfindung, [...] soziale Gestaltung von Lebensplan und Daseinsführung anzeigt?"

76) Vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 21997, 222.

77) Variation ist Fortschritt im Selben und entspricht einem weiten Begriff des Institutionellen, der Kontinuität ohne Uniformität ermöglicht; vgl. Wendebourg/Brandt [Hrsg.]: Traditionsaufbruch, 2001, 91. Identisches in Form der Variation bricht den Identitätszwang und bedeutet ein Moment von Freiheit, das dem Erzählerischen diesseits bloßer Beschreibung und jenseits einer Konstitution von Wirklichkeit zu eigen ist.

78) D. Wendebourg/R. Brandt können auch dem Wiederholen, der bloßen Repetition der Überlieferung einen positiven Zug abgewinnen: "Dies [Überlieferung] geschieht in unterschiedlicher Weise: Einerseits muß das Zeugnis stets in seiner biblischen (kanonischen) Gestalt wiederholt werden, durch Lesen der biblischen Schriften, durch Vorlesen und Rezitieren [...] Andererseits erschöpft sich das Überliefern nicht in solcher Wiederholung" (Wendebourg/Brandt [Hrsg.]: Traditionsaufbruch, 2001, 17).

79) Um die Unterscheidung von E. Jüngel (Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1978, 426) zwischen Wiedererzählen und Weitererzählen auf den Prozess der Erinnerung anzuwenden.

80) Vgl. E. Cassirer (Nachgelassene Manuskripte und Texte, 1995, 19), der das spezifisch Religiöse der jüdisch-christlichen Tradition darin sieht, dass der Glaube in einem geistigen Akt eine Form eingeht und überwindet.

81) Kommunikation ist geradezu Inbegriff von Kirche, die "das Kommunikationsgeschehen [ist], das sich im Rahmen der verschiedenen Organisationsformen der verfaßten und gestalteten Kirche zwischen ihren Mitgliedern abspielt, [und] hat wesentlich den Charakter eines allumfassenden Erinnerungsprozesses" (K. Stock, Protestantische Tugendlehre, Gütersloh 1995, 142).

82) G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1992. Die Gemeinde ist die Öffentlichkeit privat-religiöser Expressionen, so die These von Wendebourg/Brandt [Hrsg.]: Traditionsaufbruch, 2001, 104: "Diese [die Ortsgemeinde] stellt den Kontext dar, in dem sie [die christlichen Familien] zur christlichen Überlieferung beitragen. Nur in diesem Horizont sind die Gestaltung und die Institutionen des christlichen Lebens im familialen Bereich vor einer Privatheit und Beliebigkeit bewahrt, die sie in der Öffentlichkeit irrelevant machen würde."

83) E. Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes, in: Die Kunst und die Kirchen, 1984, 256. Abenteuer meint nicht subjektives Belieben, sondern "to put at risk one's present self-understanding", D. Tracy, Plurality und Ambiguity. Hermeneutics, Religion, Hope, San Francisco 1987, 16.

84) Vgl. Wendebourg/Brandt [Hrsg.]: Traditionsaufbruch, 2001, 200: "Dieser Zusammenhang der Ebenen und Orte der Überlieferung bildet keine zusätzliche Größe zu den unterschiedenen Ebenen und institutionellen Orten, keine eigene Klammer, die sie äußerlich zusammenhält."

85) Vgl. W. Lück/F. Schweitzer, Religiöse Bildung Erwachsener. Grundlagen und Impulse für die Praxis, Stuttgart 1999, 77: "Kirchliches Christentum ohne Bezug auf Individuum und Gesellschaft wird steril - individuelles Christentum ohne Bezug zu Kirche und Gesellschaft wird privatistisch."

86) M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, Tübingen 2000, 406. Auf die Formel der "Permanenten Variation" bringen es Wendebourg/Brandt [Hrsg.]: Traditionsaufbruch, 2001, 91.

87) Barbara Cratzius, Colin u. Moira Maclean, Die Baby-Bibel, Augsburg 1996. Der Text lautet: "Bau ein großes Schiff, sagte Gott zu Noah. Noah gehorchte ihm. Nimm deine Familie und von allen Tieren ein Paar mit hinein, sagte Gott. Der Regen rauschte herab, vierzig Tage und vierzig Nächte. Gott aber beschützte alle Menschen und Tiere in der Arche."

88) D. Henze/R. Meier, Du schützt das Leben. Die Geschichte von Noah, in: dies.: Ich bin für dich da. Allererste Geschichten aus dem Alten Testament, München 2000.

89) R. Bottigheimer, Gott in Kinderbibeln. Der veränderliche Charakter Gottes, in: G. Adam u. R. Lachmann [Hrsg.]: Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung, Göttingen 1999, 90-102, 102. Die in modernen Kinderbibeln vorherrschende "neue Sanftheit" Gottes formiert sich im 19. Jh. und blendet alles Irritierende wie Zorn und Strafe aus der Darstellung Gottes aus. Programmatisch äußert sich in diesem Sinne Albert Ludwig Grimm (Geschichten der Heiligen Schrift für Knaben und Mädchen erzählt, Heidelberg 1817), der die Bibel für "das merkwürdigste Buch" hält, das wir haben und das für Kinder, ohne eine Auswahl der für sie geeigneten Geschichten unverständlich sein muss. Unverständlich ist für Kinder nach Grimms Meinung alles "Grausame und Ungerechte". Grimms Auswahl von Geschichten aus der Heiligen Schrift für Knaben und Mädchen von 1817 lässt deshalb alles Unnötige und Unverständliche, also Zorn und Strafe Gottes weg, um so die Kinder "von der Güte Gottes" zu überzeugen. Die Tendenz zur idealisierenden Besetzung der Gottesposition greift nach Bottigheimer Motive auf, die schon Comenius verfolgte: der liebe Gott als Erzieher der Menschen und göttlicher Pädagoge (vgl. R. Lachmann, Art. Kind, TRE 18, 1989, 163). Comenius eröffnet der Erziehbarkeit des Kindes Raum, indem er Schöpfung und Gottes Ebenbildlichkeit zu den pädagogisch maßgeblichen theologischen Loci erklärt. Die "neue Sanftheit Gottes" setzt sich in modernen Kinderbibeln durch. Zum Kanon der Kinderbibel gehört heute die Geschichte vom verlorenen Sohn, nicht aber Abraham und Isaak auf dem Berg Morija. Und wenn doch, dann nur in einer Fassung, die, wie bei Anne de Vries, keinen Zweifel an der Güte Gottes lässt. "Gott hat alles gut gemacht", so ihr abschließender Kommentar (Anne de Vries, Die Kinderbibel, Konstanz 1964, 34).

90) E. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1998, 75: "Wer also behauptet, religiös zu sein, muß aus seiner Religion einen Glauben ableiten können, den er dem Kleinkind in Gestalt des Urvertrauens weitergeben kann." Hinweise auf Eriksons Konzept von basic trust gibt R. Lachmann (Art. Kind, TRE 18, 1989, 169).

91) Der Typ des pater aeternus als machtvoller Greis in antikem Gewand, wie ihn Schnorr von Carolsfeld in der Nachfolge Rafaels geprägt hat und der noch im "Gottbüchlein" von Ernst Veit (München, 21935) als alter Mann mit langem Bart auf einer Wolke eine eher bedenkliche Wirkung auf kindliche Gemüter ausübte, sucht man in modernen Kinderbibeln vergebens.

92) F. Schweitzer, LuR 216: "Frühe Erfahrungen stehen in einer nicht aufzulösenden Spannung - zwischen Grundvertrauen und Grundmisstrauen, Geborgenheit und Verlassenwerden [...] Psychologisch gesehen geht beides in das Gottesbild ein, das Gefühl der Geborgenheit wie das des Verlassenwerdens [...]". So auch Erikson, der von einem relativen Gleichgewicht zwischen Urvertrauen und Urmisstrauen spricht, wobei ein Mehr an Vertrauen günstigere Aussichten für die Bewältigung von unvermeidlichen Lebenskrisen bedeutet, vgl. E. Erikson, Identität und Lebenszyklus, 1973, 69. Bei den für die Entwicklung des Gottesbildes kritischen vier Zeiten (frühkindliches, ödipales, privat-offizielles und adoleszentes Gottesbild) bestehen die beiden Gefahren darin, "daß ein lähmendes und bedrohliches Gottesbild entsteht oder daß die religiöse Erziehung an den Erfahrungen [...] der Kinder und Jugendlichen vorbeigeht" (F. Schweitzer, LuR, 232).

93) So das zweifache Umarmen (enankalizomai) der Kinder durch Jesus in Mk 9,36 u. Mk 10,16.

94) E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1978, 429. Die Liebe als theologisches Kriterium betont auch K.-E. Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 1990, 300: "In dieser Spannung gilt unverrückbar ein Maßstab: Gelingt es, die Liebe Gottes, den Inhalt des Evangeliums, auf pädagogischem Wege so zu verdeutlichen, daß dieser Sinn in befreiender Klarheit als wahr erfaßt wird."

95) Das Stichwort fällt schon bei J. W. von Goethe, Dichtung und Wahrheit I/1, Hamburger Ausgabe Bd. 9, 34: "das allzu leichte, und durch Predigten und Religionsunterricht sogar trivial gewordene Neue Testament [...] konnte uns [Kindern] kein Interesse geben." K.-E. Nipkow sieht das Problem weniger in der Trivialisierung: "Kinder wachsen immer noch mehr oder weniger mit der Rede vom lieben Gott auf, in wie verblaßter Form hierbei auch das Evangelium aufscheinen mag", sondern in der Theodizee: "Gott ist Liebe [...] scheint das Leben zu widerlegen" (K.-E. Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 1990, 298).

96) Anneli Baum-Resch, KuSch, 265. Baum-Resch sieht als Alternative zum "Märchenbuchliebergott", dass auch die schmerzlichen Erfahrungen, die Menschen mit Gott machen, hervorgehoben werden.

97) Vgl. P. Ricur, Versuch über Freud, Frankfurt am Main 1974, 556.

98) Gott geht nicht auf im subjektiven Erleben. Er ist daher in Geschichten von Gott nur angedeutet, aber nicht eingeholt "Gottes Sein als Geschichte läßt sich zwar durch Geschichten andeuten, aber doch nicht einholen" (E. Jüngel, Gott als Geheimnis, 1978, 428).

99) F. Schweitzer, LuR 213. Auch E. Erikson spricht aus psychologischer Sicht von Reifung und Entwicklung, weil die Balance von Urvertrauen und Urmisstrauen kein stabiler Zustand ist, der "für neue Konflikte von innen und Änderungen von außen unangreifbar sei." (E. Erikson, Identität und Lebenszyklus, 1973, 69). Es ist die Entwicklung einer als grundlegend gedachten Struktur. Deshalb kann W. Härle (Dogmatik, Berlin 1995, 514) Eriksons Urvertrauen bei allen Unterschieden als Interpretament für die grundlegende Erfahrung des Glaubens als Vertrauen auf Gott ansetzen. Zum Problem des transzendentalen Charakters quasi apriorischer anthropologischer Grundbegriffe, vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, Tübingen 2000, 386 f.

100) Im Blick auf W. Elert warnt M. Roth, Evidenz und Gewißheit. Thesen zur Bestimmung von Offenbarung und Glaube (ZThK 98, 2001, 209-230), 229: "mit Hilfe des Offenbarungsbegriffs die Irreduzibilitäten der unterschiedlichen Weisen der Gegenwart Gottes zu überspielen." Und er empfiehlt von "Gottes Gegenwart in der Schöpfung, im Gesetz und in seinem Handeln in Jesus als dem Christus diejenigen Widerfahrnisse zu unterscheiden, in denen Gott schlechthin verborgen ist, die völlig bezuglos (!) zu der Erfahrung des vergebenden Handelns Gottes in Christus stehen." E. Jüngel dagegen will die Unterscheidung von deus absconditus und revelatus nicht als eine, Gottes Offenbarung problematisierende verstehen. Absconditus ist Gott "als bei sich selbst seiend" in seiner "allmächtigen Freiheit", revelatus als "zum Menschen kommend" in "überströmender Liebe", beides aber ist im dreieinigen Gott "ursprünglich beieinander" (E. Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos, in: Ders., Entsprechungen [BhEvTh 88], München 1980, 227).

101) Vgl. K. E. Nipkow, Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh 21992, 271.

102) Die religiöse Subjektivität ist nach E. Troeltsch bei allem Recht, ihre eigene religiöse Anschauung zu bilden, gleichwohl keine Form der "organisationslosen Selbstdurchsetzung" (E. Troeltsch, Soziallehren, Aalen 1977, 980), sondern zu ihrer Realisierung immer schon auf eine Institution verwiesen.

103) Nach E. Herms (Die Sprache der Bilder, 1984, 253) ist das Qualitätskriterium jeglicher Darstellung "die Entschiedenheit [...] durch signifikante Variation von Gewohntem eine individuelle Darstellungsintention der intersubjektiven Teilhabe zugänglich zu machen".

104) Das schließt die Aufmerksamkeit auf neue Sozialformen für die religiöse Überlieferung im privaten Bereich nicht aus: "Einerseits versammelt sie [die Kirche] ein Relikt der traditionellen Religion [...] Andererseits zeichnen sich immer deutlicher in den Kirchengemeinden Konturen neuer Sozialformen von Religiosität ab. [...] Das Augenmerk ist dabei radikal auf den privaten Lebensbereich gerichtet", V. Drehsen, Die Reprivatisierung des heiligen Kosmos: Peter L. Berger und Thomas Luckmann, in: Karl Wilhelm Dahm/Volker Drehsen/Günter Kehrer [Hrsg.]: Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik, München 1975, 235-268, 268.

105) F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, 3.1. (21830) Berlin 1960, 15: "Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins."