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Ausgabe:

Dezember/2001

Spalte:

1221–1234

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Winkler, Eberhard

Titel/Untertitel:

Identität und Differenz

Diaspora als exemplarisches kybernetisches Thema

1. Identität - ein mehrdeutiger Begriff

"Der Begriff der Identität ist zu einem populären Schlüsselbegriff verschiedener Wissenschaftsdisziplinen geworden"1, aber er wird weder in der Psychologie noch in der Soziologie, weder in der Philosophie noch in der Theologie klar und einheitlich definiert. Seine Verwendung signalisiert immer, dass es um Wesentliches geht, sei es im individuellen oder sozialen Bereich. "Identität" bedeutet Übereinstimmung mit einer Idee oder einem Ideal und damit auch Differenz zum Anderen, Nicht-Identischen. So fragte zum Beispiel Ulrich Kühn angesichts der erbitterten Diskussion um die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre", ob in dieser Kontroverse eine Identitätskrise des deutschen Protestantismus zum Ausdruck komme.2 Jedenfalls zeigte die Auseinandersetzung, dass "Protestantische Identität heute"3 ein höchst aktuelles Thema ist.

Innerhalb der Praktischen Theologie wurde "Identität" im Sinne von zu gewinnender Ich-Identität besonders in der Religionspädagogik4 und in der Seelsorgetheorie5 zeitweise zu einem Leitbegriff, den jüngst Ulrike Wagner-Rau für die Theorie der Kasualien zur Geltung brachte.6 Isolde Karle reflektierte in ihrer Auseinandersetzung mit der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre Identitätsprobleme in der Moderne und betonte die Zumutung, die die Konstruktion von Identität für das Individuum bedeutet.7 Von einem systemtheoretischen Rahmen aus kritisiert sie nicht nur Scharfenbergs psychoanalytischen Ansatz, sondern auch Henning Luthers Identitätsbegriff, den sie als "eine idealisierte Subjektivitätsvorstellung mit einem moralisch kaum überbietbaren Anspruch und Appell" beurteilt.8 Gegen die moderne Individuumzentrierung der Poimenik plädiert sie für deren funktionale Zuordnung zur Kirche.9

Damit ist die Brücke von der Poimenik zur Kybernetik geschlagen. Neben dem primär am Individuum orientierten Iden- titätsbegriff kennt die neuere Praktische Theologie auch dessen Anwendung auf Kirchen und Gemeinden. So spricht Herbert Lindner von "überregionale[r] Identität" und "Identitätsarbeit", die der Integration einer profilierten Einzelgemeinde in den größeren kirchlichen Zusammenhang dient.10 Lindner erörtert die "Kirchliche Identität von Angeboten",11 das heißt die Frage, was eine kirchliche Veranstaltung als solche erkennbar macht. Identität entspricht hier dem in der Poimenik oft als "Proprium" bezeichneten spezifisch Christlichen. Unter ekklesiologischem Aspekt kommt der Identitätsfrage eine kriteriologische Funktion zu wie den notae ecclesiae: Sie gilt den Erkennungs- und Unterscheidungsmerkmalen der Kirche.12 Identität wird im sozialen wie im individuellen Bereich durch positive Merkmale, aber auch durch Differenzen zum Anderen konstituiert. Der Protestantismus steht ständig vor der Aufgabe, seine Identität positiv, also nicht nur durch Abgrenzung und Differenzbewusstsein, zu begründen. Wolfhart Pannenberg lässt allein das Schriftprinzip als Grundlage evangelischer Theologie gelten und findet im Sinne der Reformation "nicht protestantische Besonderheiten, sondern einzig und allein die christliche Identität der Christenheit"13 erneuerungsbedürftig.

Mit der Betonung des Schriftprinzips erinnert Pannenberg an ein in der gegenwärtigen evangelischen Praktischen Theologie auffällig vernachlässigtes Identitätskriterium: Die Übereinstimmung mit der und Begründung in der Heiligen Schrift. "Protestantische Identität läßt sich nur wahrnehmen, wenn es gelingt, in den historischen Brüchen die Kontinuität, in der Fülle der sich individuell aussprechenden religiösen Anschauungen die orientierende Mitte und in der Vielfalt der theologischen Konzeptionen das innere bewegende Prinzip freizulegen."14 Dafür genügt der wissenschaftliche Diskurs nicht, so unentbehrlich er ist. Ihre Mitte findet jede Kirche im Gottesdienst, und für protestantische Identität ist entscheidend, dass in ihm "das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden".15 Im Gottesdienst wird kollektive und individuelle religiöse und konfessionelle Identität erfahren, wird die Mitte in der Vielfalt gefunden. Nicht weniger wichtig ist, dass damit auch die Kontinuität mit den Ursprüngen immer neu hergestellt wird. Für die Reformatoren war diese Kontinuität entscheidend wichtig.16 Identität erweist sich in der Übereinstimmung mit den Ursprüngen, die in der ecclesia semper reformanda eine ständige kritische Selbstprüfung erfordert, in der jeweils auch die Differenzen zu den biblischen Leitmotiven erkannt werden.

Christian Grethlein setzte sich kürzlich in einer Standortbestimmung der Praktischen Theologie mit neuen praktisch-theologischen Ansätzen auseinander, die diese Disziplin als Religions- oder Kulturwissenschaft verstehen und die kirchliche Realität nur in geringem Maß berücksichtigen.17 Dass die Betonung des Ranges kirchlicher Praxis für die Praktische Theologie keine binnenkirchliche Horizontverengung bedeutet, ist heute schon eine banale Feststellung. Die Praktische Theologie kann aber auch ihr Aufgabenfeld so ausweiten, dass sie darüber ihr konkret gestellte Themen und Probleme übersieht. Grethlein wies darauf hin, "dass offensichtlich auch im kirchlich-institutionell gebundenen Terrain noch Gebiete auf ,Neuvermessung' durch die Praktische Theologie" warten.18 Ein solches Terrain ist das der Diaspora. "Gelebte Religion", ein in der gegenwärtigen Praktischen Theologie beliebtes Leitmotiv,19 geschieht in Europa nicht nur in Volkskirchen und in der durch ihre Kultur geprägten Gesellschaft, sondern auch in den verschiedenen Formen von Diaspora.

2. Evangelische Diaspora in Europa

Während die katholischen Diözesen und die evangelischen Landeskirchen in Deutschland ungefähr gleiche Mitgliederzahlen verzeichnen, wird der evangelische Anteil in der erweiterten Europäischen Union noch geringer sein als gegenwärtig.

In Polen gehören nur etwa 0,2 % der Bevölkerung zur Evangelisch-Augsburgischen Kirche.20 1 % der Bevölkerung Sloweniens ist protestantisch.21 Die größte evangelische Kirche in Tschechien, die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder, umfasst etwa 2 % der Bevölkerung.22 In Ungarn machen die Protestanten bei 19 % Reformierten zusammen rund ein Viertel der Bevölkerung aus.23 Sehr unterschiedlich sind die Proportionen in den Baltischen Ländern. Während in Litauen nur ca. 1 % Protestanten und 2 % Orthodoxe unter einer katholischen Mehrheit leben, betrachten sich in Lettland etwa 39 % der Einwohner als lutherisch.24 Die Angaben differieren hier stark, was noch mehr für Estland gilt. Eine Information des Kirchenamtes der EKD von 1999 gibt für die Estnische Evangelisch-Lutherische Kirche eine Mitgliederzahl von 185.000 an, was 12,4 % bedeuten würde. Nach einer Schätzung von 1995 sollen dagegen mehr als 60 % der Bevölkerung zur Evangelisch-Lutherischen Kirche gehören.25

Die erheblichen Differenzen erklären sich daher, dass die Kirchenmitgliedschaft in mehreren europäischen Ländern nicht klar definiert ist und die Zahlen auf Schätzungen beruhen. Eindeutig ergibt sich für das künftige Europa eine weitere Verschiebung der konfessionellen Proportionen zu Ungunsten des Protestantismus. Seit der Europäischen Evangelischen Versammlung vom März 1992 in Budapest wächst die Einsicht, dass die evangelischen Kirchen eine Konzeption und eine angemessene Struktur für ihre Existenz in Europa brauchen.26 Für diese Überlegungen ist die Perspektive der Diasporakirchen unverzichtbar. In der deutschen evangelischen Praktischen Theologie kommt sie jedoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht vor. Die Kybernetik setzt auf evangelischer Seite die Volkskirche voraus, während die katholische Praktische Theologie auch die Diaspora im Blick hat.27 Diese Lücke fällt umso mehr auf, als die Praktische Theologie seit Carl Immanuel Nitzsch ein großes Interesse an der Diasporahilfe bekundete, das freilich zur Gegenwart hin fast völlig verschwand.

Die europäische Perspektive bedeutet keinen Verzicht auf den globalen Horizont. Sie ist beim Diasporathema berechtigt, weil sich das Gegenüber von Mehrheits- und Minderheitskirchen in keinem anderen Kontinent so entwickelte wie in Europa. In den skandinavischen Ländern sind jeweils gut 90 % der Bevölkerung Mitglieder der Evangelisch-Lutherischen Kirche, so dass die katholische Kirche sich dort in der Diaspora befindet wie die evangelische in den meisten anderen europäischen Ländern. Transformations- und Migrationsprozesse führten dazu, dass die Diasporasituation sich innerhalb mancher Länder extrem unterschiedlich darstellt. In Frankreich, wo etwa 1,4 % der Bevölkerung den evangelischen Kirchen zugerechnet werden, leben 95 % der Lutheraner in Ost-Frankreich, besonders in Elsass-Lothringen.28 Die Lutherische Kirche trägt hier volks
kirchliche Züge, während sie sich im übrigen Land in einer extremen Diasporasituation befindet. Ähnlich ungleich sind die Lutheraner in Polen verteilt, wo eine Konzentration im Teschener Gebiet erfolgte.

Kompliziert wird die Diasporasituation in mehreren Ländern dadurch, dass konfessionelle Minderheiten sich zugleich als nationale Minoritäten vorfinden. Zum Beispiel leben in Rumänien ungarischsprachige Reformierte und Lutheraner sowie deutschsprachige Lutheraner in einem Land mit orthodoxer Mehrheit. Solche Formen einer doppelten Diaspora entstanden meist infolge politischer Grenzveränderungen, die von den Betroffenen als Eingriffe in ihre Menschenrechte empfunden werden. Nationale, kulturelle und konfessionelle Motive, die einerseits identitätsbildend und andererseits abgrenzend wirken, vermischen sich und bedürfen theologischer Klärung.29

Eine Besonderheit der Diaspora in den Grenzen der jetzigen Europäischen Union liegt darin, dass es bisher keine christlichen Minderheiten in Ländern mit einer mehrheitlich andersreligiösen Bevölkerung gibt. Allein in Europa existiert ferner, wenn auch nur in wenigen Ländern, die sogenannte säkulare Diaspora, das heißt eine durch die Säkularisierung entstandene christliche Minderheit inmitten einer nichtchristlichen und areligiösen Mehrheit.30 Am ausgeprägtesten besteht diese Diasporasituation in großstädtischen Neubaugebieten, die in der DDR entstanden, wo der Anteil der evangelischen Kirchenmitglieder bis auf ca. 3 % gesunken ist und etwa 95 % als konfessionslos gelten. Andererseits haben die Landeskirchen in der DDR volkskirchliche Organisationsformen behalten31, und die Mehrheit der Mitglieder bewahrte typisch volkskirchliche Partizipationsweisen.32 Es blieben auch volkskirchliche Oasen erhalten. In der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche von Thüringen, die am 31.12.1996 mit 32 % den höchsten Anteil evangelischer Mitglieder unter den ostdeutschen Gliedkirchen aufwies,33 bestehen in der Rhön intakte volkskirchliche Dorf-
gemeinden, in denen nahezu alle Einwohner einer Kirche angehören, während in und um Altenburg etwa 90 % der Bevölkerung konfessionslos sind.

Ähnlich entkirchlichte Gebiete finden sich in Tschechien, wo die katholische Kirche einem Schrumpfungsprozess unterlag, der dem der evangelischen Kirche in der DDR vergleichbar ist. In anderer, aber doch auch einschneidender Weise, vollziehen sich kirchliche Minorisierungsprozesse in Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich. Die anglikanische Kirche entwickelte als Antwort darauf unter exponierter Mitwirkung des Erzbischofs George Carey das Programm der Gemeindegründung (Church planting), d. h. die ",Verpflanzung' von Christen in eine Gegend, in der Christen nur schwach vertreten sind".34 Der Minorisierung wird also aktiv begegnet, sie motiviert dazu, neue Konzepte zu entwickeln. Die Praktische Theologie bleibt hinter der Entwicklung zurück, wenn sie sich nicht daran beteiligt.

3. Die evangelische Diaspora in der Praktischen Theologie

Als Carl Immanuel Nitzsch 1847 den ersten Band seiner Praktischen Theologie publizierte, der die "Allgemeine Theorie des kirchlichen Lebens" enthielt, befand das 1832 gegründete Hilfswerk der Gustav-Adolf-Stiftung sich in einer Krise, die Dr. Julius Rupp aus Königsberg ausgelöst hatte. Er war aus der Landeskirche ausgetreten und hatte eine freie liberale Gemeinde gegründet. Daraufhin wurde ihm im September 1846 sein Mandat als Mitglied der Delegiertenversammlung aberkannt. Damit trennte sich der auf Überwindung der innerprotestantischen Grenzen bedachte Gustav-Adolf-Verein vom linksliberalen Flügel, dem Nitzsch unterstellte, dass er "eher einen Sieg der Aufklärung, eine Emancipation vom bestehenden Kirchenregiment, eine Propaganda des Rationalismus oder doch einen ganz äußerlichen Triumph des Protestantismus, als die Evangelische Kirchengemeinschaft im Auge" hatte.35 Positiv sah Nitzsch zwei Ziele für "den großen Evangelischen Hülfsverein": Erstens habe er "die in ihrer Existenz gefährdeten oder im Zustandekommen gehinderten Gemeinen zu unterstützen", und zweitens "das kirchliche Gemeingefühl der Evangelischen zu bauen".36 Beide Ziele gehören für Nitzsch eng zusammen. Ihm hat sich in der Krise des Vereins bestätigt, was generell für Diasporadienste gilt: Materielle Hilfen für hilfsbedürftige Gemeinden setzen als Motivation das "kirchliche Gemeingefühl" voraus, und die Erfahrung des Miteinanderteilens stärkt dieses. Kirchliches Gemeingefühl erweist sich als ein praktisch wirksames Identitätsbewußtsein: Diasporahilfe geschieht, weil die der Hilfe Bedürftigen und die dazu Fähigen in ihrer protestantischen Identität verbunden sind. Die Differenzen zwischen Lutheranern, Reformierten und Unierten treten gegenüber diesem Gemeingefühl zurück, während die Differenz zum mächtigen Katholizismus die Existenzfähigkeit der Diasporagemeinden gefährdet, so dass deren Unterstützung ihnen hilft, ihre Identität zu bewahren. Solche Hilfe zur Identität erfordert allerdings auf Seiten der Helfenden Klarheit über die eigene protestantische Identität, wie der Fall Rupp zeigte. Nitzsch, der leidenschaftlich für die Union eintrat, bejahte im Gegensatz zu Hengstenberg die Kooperation der protestantischen Konfessionen im Gustav-Adolf-Verein, sah jedoch im radikalen Liberalismus eine unüberbrückbare Differenz, die das "kirchliche Gemeingefühl" verletzt und Kooperation unmöglich macht.

Am ausführlichsten von allen Standardwerken der Praktischen Theologie widmet sich Ernst Christian Achelis dem Diasporathema. Er ordnet es in die Koinonik ein, die im 1. Buch die Innere Mission und im 2. Buch den Gustav-Adolf-Verein und die deutsche evangelische Diaspora des Auslands darstellt.37 Wie Nitzsch betont er den Aspekt des Ausdrucks von evangelischen Identität und der Hilfe zur ihr: "Der Gustav-Adolf-Verein ist in der Tat ein Werk evangelischer Bruderliebe, das die innere Zusammengehörigkeit der Glieder der evangelischen Kirche daheim und in der Diaspora diesen zum Bewußtsein bringt".38 Achelis nimmt den Gustav-Adolf-Verein gegen den Vorwurf in Schutz, dass "der Verein auf die allmähliche Beseitigung der Sonderbekenntnisse hinarbeite".39 Angesichts der Differenz zwischen Katholizismus und Protestantismus wird der innerprotestantische Konsens zur Überlebensfrage: "In römischer Umgebung tut sich eben alles zusammen, was evangelisch ist." Entweder "Bildung einer Konsensus-Gemeinde oder Untergang durch Rom".40

Kritisch äußert sich Achelis in anderer Hinsicht: Er fordert, dass die Aufgaben des Vereins von den Landeskirchen nicht nur unterstützt, sondern übernommen werden. Wie für die Diakonie insgesamt sieht er es auch für den Gustav-Adolf-Verein als Aufgabe an, "an seiner Selbstauflösung zu arbeiten".41 Damit nimmt er einen Gedanken vorweg, der im Laufe des 20. Jh.s wesentlich dazu beitrug, die Bedeutung der kirchlichen Vereine und damit der dezentralen, subsidiären Aktivitäten zu mindern und die Kirche als bürokratische Organisation zu stärken. Achelis meinte, "das Bewußtsein der Einheitlichkeit der Kirche" sei besser auf der Basis der Landeskirchen als der Vereine zu gewinnen.42 Ekklesiologisch stand dahinter der Gedanke, das Motiv der Einheitlichkeit müsse mit dem der Heiligkeit der Kirche verbunden werden, und in der Liebesgemeinschaft, von der die Koinonik handelt, betätigt sich die Heiligkeit der Kirche. Die Kirche braucht also um ihrer eigenen Identität willen jene Betätigung, die quasi vertretungsweise von Vereinen übernommen wurde. Da die Kirche konkret als Landeskirche gedacht ist, erscheint der Verein als eine dieser gegenüber minderwertige Form von Kirche. Diese ekklesiologische Abwertung der Vereine wirkte sich in der kirchlichen Praxis und in der Praktischen Theologie problematisch aus.

Friedrich Niebergall vergleicht den Gustav-Adolf-Verein mit der Äußeren Mission.43 Er stellt den Verein als einen Sammelverein dar, der sich großer Beliebtheit erfreut, der aber nicht so begeistern kann wie die Mission: "es ist doch alles weniger aufregend". Zwar wissen besonders diejenigen, die einmal in katholischer Umgebung gelebt haben, den Wert dieser Arbeit zu schätzen, aber es ist doch eine "etwas eintönige" Aufgabe, immer wieder zu Opfern dafür zu motivieren. Niebergall, der früh die Bedeutung der Medien für die Kirche erkannte, sah die Wirkung werbewirksamer Themen und der Imagepflege. Die von Niebergall noch beobachtete große Beliebtheit ist heute zwar immer noch in den ausländischen Partnerkirchen, nicht aber in den deutschen Landeskirchen und ihren Gemeinden zu erkennen. Den Diasporawerken, also neben dem Gustav-Adolf-Werk dem Martin-Luther-Bund, gelang es nicht, das bei Niebergall sich andeutende Negativimage zu korrigieren.

Innerhalb der Praktischen Theologie fällt die Negativbilanz am krassesten im Gütersloher Handbuch der Praktischen Theologie aus. In drei stattlichen Bänden ist für das Diasporathema kein Platz. Im Abschnitt über ökumenische Diakonie erscheinen die Stichworte "Gustav-Adolf-Werk" und "Martin-Luther-Bund" in einer Aufzählung von Organisationen der Zwischenkirchlichen Hilfe,44 aber die Studentin oder der Examenskandidat erfahren nichts über diese Werke oder über die Situation von Diasporagemeinden. Auch in den Literaturangaben erscheint nichts Weiterführendes. Ebenso fehlt der Diasporaaspekt im 2. Band, der die Gemeinde thematisiert. Der Horizont ist auf die Volkskirche beschränkt, obwohl es auch in ihrem Rahmen Diasporagemeinden in katholischem Umfeld gibt.45

Das Desinteresse an der Diaspora ist aus den bei Achelis und Niebergall sich andeutenden zarten Vorbehalten nicht erklärbar.46 Am ehesten ist es als Folge einer Interessenverlagerung zu verstehen. Die dem Gustav-Adolf-Verein von Niebergall noch testierte Beliebtheit gehört seit Jahrzehnten "Brot für die Welt". Im Unterschied zu den Namen von Gustav Adolf und Martin Luther motiviert diese griffige Formel zur tätigen Solidarisierung. Hier gilt immer noch, was Niebergall zur Attraktivität von Äußerer Mission und Diasporawerk schrieb. Bilder von einem Landwirtschaftsprogramm für hungernde Kinder in Tansania beeindrucken stärker als der Bau eines Gemeindehauses in Kasachstan. Dieser Unterschied erklärt die hohen Abstände beim Spendenaufkommen, nicht aber das Desinteresse am Diasporathema. Die Interessenverlagerung fand noch auf der Ebene des Konfessionsbewusstseins und damit im Spannungsfeld von Identität und Differenz statt.

Der in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s sich vollziehende ökumenische Aufbruch ließ das Interesse an konfessioneller Identität zurücktreten. Gegenüber zwei antichristlichen Diktaturen verlor die Differenz zwischen den Konfessionen an Gewicht und gewann die gemeinsame christliche Identität an Bedeutung. Nach dem Zusammenbruch der Diktaturen sehen die Kirchen sich vor gewaltigen Aufgaben, die nicht gegeneinander, sondern nur miteinander sinnvoll angegangen werden können.
Angesichts des sich ausbreitenden Säkularismus und neuer ethischer Herausforderungen mit unabsehbaren Folgen erscheint es
als kleinkariert, historisch entstandene Differenzen zwischen den Kirchen zu konservieren. Andererseits zeigte der Einspruch zahlreicher evangelischer Theologieprofessoren und -professorinnen gegen die römisch-katholisch/evangelisch-lutherische Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, dass Kernfragen der konfessionellen Identität im akademischen Bereich nach wie vor von hohem Rang sind.47 In der mit ebensoviel Scharfsinn wie Emotionalität geführten innerprotestantischen Diskussion spielte die Frage nach den Diasporakirchen keine Rolle. Wenn sich ein großer Teil der Hochschullehrer kontroverstheologisch und konfessionspolitisch engagiert, ist zu erwarten, dass auch reges Interesse für die Schwesterkirchen besteht, die nicht abstrakt um ihre Identität diskutieren, sondern im Spannungsfeld von Identität und Differenz um ihre Existenz kämpfen.

Weltweit sind Diasporakirchen eher das Normale als die Ausnahme. Peter C. Bloth hat in seiner sehr konzentrierten, kybernetisch orientierten Praktischen Theologie den kybernetischen Beitrag der Ökumene gewürdigt und dabei auf das Diasporaverständnis von Ernst Lange zurückgegriffen.48 Lange füllte den Diasporabegriff neu, indem er "Ekklesia" und "Diaspora" als die "Phasen" der Gemeinde unterschied.49 In der Ekklesia-Phase, der Versammlung der Gemeinde, "hat der Glaubende die Bürgschaft der Anderen. In der Zerstreuung muß er ohne Bürgen glauben".50 Die Versammlung dient dazu, dass der oder die Glaubende in der Diaspora den Glauben selbständig leben kann. In der Diaspora befindet sich die einzelne glaubende Person in statu confessionis. Bloth weist darauf hin, dass diesen beiden "Phasen" die "missio" vorgeordnet ist.51 Ekklesia und Diaspora sind Funktionen der "Missio Dei". Hier ist nicht der Ort zur Auseinandersetzung mit Langes Verständnis des Gottesdienstes. Unabhängig davon hilft sein Diasporabegriff dazu, das Spannungsfeld von Identität und Differenz zu beleuchten. In der Ekklesia gewinnt und stärkt die glaubende Person gemeinsam mit den Mitglaubenden die eigene und die kollektive evangelische Identität. In der Zerstreuung erfährt sie die Differenz: Am Arbeitsplatz, in der Schule, im Freundeskreis wird die evangelische oder schlechthin die christliche Identität in Frage gestellt und muss sich bewähren.

4. Das Spannungsfeld von Identität und Differenz als kybernetische Aufgabe

An die Stelle des Identitätskonzeptes von Erik H. Erikson52 trat in der praktisch-theologischen Rezeption der Identitätsbegriff des Sozialpsychologen Heiner Keupp, der durch das Stichwort "Patchwork-Identität" bekannt wurde.53 Patchwork-Identität wird mitunter als ein beliebiges Basteln des Individuums an sei-
ner Identität missverstanden. Gemeint ist vielmehr ein individueller Prozess, der in Interaktion mit der differenzierten sozialen Umwelt geschieht, um angemessen auf deren Komplexität zu reagieren. In der praktisch-theologischen Rezeption wird die Ambivalenz des Phänomens gesehen: Einerseits genießt das
Individuum in der modernen Gesellschaft ein viel größeres Maß
an Freiheit als frühere Generationen und - was oft übersehen wird - als die Masse der in Armut lebenden Menschen. Andererseits werden viele durch das Übermaß an Entscheidungsmöglichkeiten und -zwängen überfordert. Die Individuen brauchen Entlastung "von der Anstrengung zur permanenten Selbstkonstitution von Identität".54 Der katholische Autor He-ribert Wahl erklärt: "Selbstwerden einzelner ist ohne eine sie tragende Gemeinschaft ... so wenig möglich wie Ekklesiogenese ohne Subjekte des Glaubens, die sich ihrer Identität gewiß sind".55

Identität ist hier im Sinne bewusster Zugehörigkeit zu einer Kirche zu verstehen. Seiner katholischen Identität ist jemand gewiss, der sich mit der katholischen Kirche identifiziert. "Patchworkidentität" bedeutet, dass diese Identifikation subjektiv variabel und different erfolgt, und das gilt für die Mehrzahl der Kirchenmitglieder im Protestantismus ähnlich wie im Katholizismus. So kann sich jemand als gute Katholikin verstehen und den Papst als geistliches Oberhaupt anerkennen, ohne seine Willensäußerungen zur Empfängnisverhütung zu beachten. Die Zugehörigkeit zur Kirche durch die Taufe, die mehr oder weniger regelmäßige Beteiligung an den Sakramenten konstituieren katholische Identität, die sich in sehr unterschiedlichen Formen der Identifikation mit der Kirche äußern kann. "Kirchendistanzierung" ist deshalb ein auf katholischer wie evangelischer Seite zu reflektierendes Phänomen.56 In der evangelischen Kirche wurde dieses Thema besonders durch die EKD-Erhebungen über Kirchenmitgliedschaft empirisch untersucht und auf Konsequenzen hin durchdacht.57 Als Kriterien für evangelische Identität ergeben sich vor allem die Fragen nach der Verbundenheit mit der evangelischen Kirche und die Antworten auf die Frage, was unbedingt zum Evangelisch-Sein gehört. Bei der Verbundenheit liegen die positiven Werte im östlichen Bereich deutlich über denen im westlichen,58 worin eine Folge des Minorisierungsprozesses im Osten zu sehen ist. Bei der Frage, was unbedingt zum Evangelisch-Sein gehört, werden die institutionellen Kriterien im Osten etwas geringer, die moralischen etwas höher veranschlagt als im Westen.59 Auch Handlungen der persönlichen Spiritualität wie Kirchgang und Bibellese werden im Osten höher bewertet.60

Die Kehrseite der Identität vermittelnden Verbundenheit ist das Differenzbewusstsein. Zwei in der DDR aufgewachsene Interviewpartner ließen bei der EKD-Befragung das "Bewußtsein einer positiven Selbstunterscheidung" erkennen.61 Ein sol-
ches Differenzbewusstsein darf nicht vorschnell als elitäre Überheblichkeit abgetan werden. Vielmehr gehört ein Differenzbewusstsein zur konfessionellen Identität. So wenig damit ein hinreichendes Identitätskriterium gegeben ist, so unentbehrlich ist es doch. Für protestantische Identität genügt es nicht, sich von anderen Konfessionen oder vom Säkularismus abzugrenzen, aber ohne Abgrenzungen würde die Identität zerfließen.

In der Diaspora ist das Identitäts- wie das Differenzbewusstsein ausgeprägter als in der Volkskirche. Diasporakirchen stehen strukturell den Freikirchen näher als den Volks- oder Mehrheitskirchen. Die Mitglieder der ersteren finden sich stärker herausgefordert, ihre Zugehörigkeit zu begründen als die der letzteren.

Ein wesentlich höherer Plausibilitätsbedarf ergibt sich schon aus den größeren Anforderungen, die Diasporakirchen an ihre Mitglieder stellen müssen. Eine stärkere Bereitschaft zu Opfern an Geld und Zeit wird durch die schwächere Infrastruktur, die geringe Mitgliederzahl, die weiten Entfernungen notwendig. Was für die Freikirchen in Deutschland gilt, trifft für die Diasporakirchen im Ausland zu: Sie können nur existieren, weil und sofern ihre Mitglieder sich in stärkerem Maß mit ihrer Kirche identifizieren, als das für die Mehrzahl der volkskirchlichen Mitglieder zutrifft. Die Diaspora-Hilfswerke können und wollen nur Hilfe zur Selbsthilfe geben, sie setzen in ihren Partnerkirchen ein hohes Maß an Opferbereitschaft voraus. Ebenso wie die Freikirchen sind die Diasporakirchen darauf angewiesen und weithin auch dazu fähig, den subsidiären Gemeindeaufbau zu praktizieren.62

Exemplarisch lässt sich an der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland und anderen Staaten (ELKRAS) studieren, wie Kirche in der Diaspora sich aus den Gemeinden aufbaut.63 Als evangelische Gemeinden sich bei nachlassender Unterdrückung in der Sowjetunion wieder neu bilden konnten, verfügten sie über keinerlei hauptamtliches und ausgebildetes Personal und keine Organisationsform. Gemeindegründungen erfolgten als Früchte des Allgemeinen Priestertums. Familien, in denen evangelische Identität durch alle Verfolgungen hindurch erhalten blieb, waren meist die Keimzellen der neuen Gemeinden, die sich allmählich aus eigenen Kräften ihre Bethäuser schufen. In den zerstreuten Gemeinden wuchs das Bedürfnis nach geistlicher Gemeinschaft mit anderen Gemeinden und nach einer verbesserten Ausstattung.64 Der in Riga ansässige Superintendent Harald Kalnins begann damit, Verbindungen zwischen den in riesigen Entfernungen verstreuten Gemeinden herzustellen und eine Kirche zu gründen, deren erster Bischof er am 13.11.1988 wurde.65 Dass der theologische Leiter der Kirche, Prof. Georg Kretschmar, den Titel "Erzbischof" erhielt, ergab sich aus der Absicht, ein autorisiertes (nicht autoritäres!) Gegenüber zur orthodoxen Hierarchie zu etablieren. Auch soll der
Zusammenhang der weit verstreuten Gemeinden und Teilkirchen personell sichtbar werden. Eine zentralistische Leitung ist weder angesichts der Entfernungen praktikabel noch theologisch wünschenswert.

Trotz zahlreicher Mitgliederverluste durch die Auswanderung nach Deutschland wächst die ELKRAS dank des missionarischen Engagements ihrer Mitglieder, aus denen zunehmend hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hervorgehen, die mit den aus Deutschland kommenden Kräften gemeinsam Gemeinde bauen. Diasporakirchen müssen missionarisch leben, sie rekrutieren sich nicht in dem Maß wie Volkskirchen auf biologischem Weg. Der katholische Bischof von Erfurt, Joachim Wanke, schrieb einen "Brief eines Bischofs aus den neuen Bundesländern über den Missionsauftrag der Kirche für Deutschland", in dem er zuerst negativ feststellt: "Unserer katholischen Kirche in Deutschland fehlt die Überzeugung, neue Christen gewinnen zu können", um die positive Vision einer Kirche in Deutschland dagegen zu setzen, "die sich darauf einstellt, wieder neue Christen willkommen zu heißen"66. Diese missionarische Intention kommt in zahlreichen Voten kirchenleitender Instanzen auf katholischer und evangelischer Seite zum Ausdruck.67 Der Systematiker Eberhard Jüngel hielt auf der EKD-Synode 1999 einen vielbeachteten Vortrag über Mission,68 während die evangelische Praktische Theologie bis auf wenige Ausnahmen dieses Thema immer noch ignoriert oder tabuisiert.

Mission gehört zur Identität christlicher Kirchen. Sie geschieht unterschiedlich, aber keine Kirche kann darauf verzichten, die ihr anvertraute Wahrheit weiterzugeben, auch an Menschen, die sie noch nicht teilen. Mission ist unverzichtbar, weil die Differenz zwischen Glauben und Unglauben, Identität und Nicht-Identität die Kommunikation des Evangeliums erfordert, die diese Differenz aufhebt. Mag das noch so fragmentarisch geschehen und die volle Aufhebung nur als eschatologische Hoffnung möglich sein, mindert das die Aufgabe nicht. Manfred Josuttis erklärte, dass die Kirche nicht dazu da ist, die in der Gesellschaft gefährdete personale Identität zu stabilisieren und so Religion zu funktionalisieren, sondern: "Im Neuen Testament wird ,neue Identität' konstituiert durch Konversion".69 "Wer vom Geist Gottes erfaßt und in die Geschichte Jesu verwickelt ist, dessen fragmentarische Identität partizipiert an der Vollendung des Auferstandenen".70

Soll "gelebte Religion" vorurteilslos untersucht werden, gehört das ganze Spektrum der Spiritualität dazu, auch die verschiedenen Formen von Minderheiten innerhalb der Kirchen und Konfessionen. Dazu gehört als eine spezifische Art von Diaspora auch die viel gescholtene ecclesiola in ecclesia. Ihre Mitglieder wollen eine klar biblisch begründete Identität erlangen und bewahren, und sie erfahren dabei die Differenz zu der sie umgebenden Mehrheit. Als ecclesiola in ecclesia möchten sie
in diese Kirche hineinwirken und die Differenz soweit möglich durch Innere Mission überwinden. Das Differenzbewusstsein
ist also positiv motiviert, aber es wird doch gern als Abwertung
der "distanzierten Christen" oder "treuen Kirchenfernen" kritisiert, sicher nicht immer ohne Grund. Wer Menschen gewinnen will, darf sie nicht abwerten.

Ebenso falsch ist es aber, die "distanzierte Kirchlichkeit" zur Normalform evangelischer Religiosität zu erheben. Wenn die Identität einer Kirche sich im Gottesdienst darstellt und in ihm immer neu für die Gemeinschaft und ihre einzelnen Mitglieder gewonnen wird, ist es nicht zur Normalität zu erklären und damit theologisch zu legitimieren, dass die Mehrzahl der Mitglieder keinen Anlass sieht, an dieser konstitutiven Veranstaltung überhaupt oder gar oft teilzunehmen. Sollte sich in der Praktischen Theologie der Trend verstärken, konkrete kirchliche Themen und Aufgaben zugunsten einer diffusen Religions- oder Kulturforschung zu vernachlässigen, riskiert sie einen Relevanzverlust, und ihre vermeintliche Überwindung traditioneller Verengungen gefährdet ihre eigene Identität als Theologie.

Summary

Modern Practical Theology reflected identity especially in its meaning for religious education and pastoral care, that means in its importance for individuals. The ecclesial dimension studied by protestant Practical Theology in Germany focussed on the Volkskirche, in which the majority of the population belongs to a certain church or denomination. The fact, that most of the Protestant churches in Europe are minority-churches (diaspora) has to be considered. Former Practical Theology (C. I. Nitzsch, E. Ch. Achelis et al.) has paid attention not only to the Volkskirche, but also to the diaspora. The current Protestant Practical Theology in Germany shows little interest in this theme, in spite of the situation in East Germany, where Protestant and Catholic churches have become a minority. The question of ecclesial identity is more urgent in a minority church than in Volkskirche. Being a Christian in a minority-church requires a decision and awareness of ecclesial identity and differences in the relationship to other denominations or non believers. Some Protestant practical theologians tend to define its subject matter this science so, that it changes into religious science and loses its character as a theological enterprise relevant for churches.

Fussnoten:

1) Michael Klessmann, TRE 16, 28, 47 f.

2) Ulrich Kühn, Identitätskrise des deutschen Protestantismus?, in: MdKI 48, 1997, 101 f.

3) Vgl. Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Tanner (Hrsg.), Protestantische Identität heute, Gütersloh 1992.

4) Nach Hans Jürgen Fraas, Glaube und Identität, Göttingen 1983, 45 hat sich der Identitätsbegriff "in den letzten 10 Jahren zum interdisziplinären Schlüsselbegriff entwickelt" und ist ein "Grundbegriff der Religionspädagogik" geworden.

5) Vgl. Michael Klessmann, Identität und Glaube, München 1980. Große Resonanz fanden - mehr in der Theorie der Seelsorge und Kasualien als in der Religionspädagogik - die Arbeiten von Henning Luther, der den fragmentarischen Charakter der Identitätsbildung betonte, vgl. ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, darin bes.: Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, 160-182.

6) Vgl. dies., Segensraum. Kasualpraxis in der modernen Gesellschaft, Stuttgart u. a. 2000, bes. 88-114.

7) Vgl. dies., Seelsorge in der Moderne, Neukirchen-Vluyn 1996, bes. 49-61; 127-165.

8) A. a. O., 226. Sie begründet diese Kritik damit, dass Luther die Vorstellung "Ich ist ein Anderer" übernimmt.

9) Vgl. a. a. O., 228.

10) Vgl. H. Lindner, Kirche am Ort. Eine Gemeindetheorie, Stuttgart u. a. 1994, 124.

11) A. a. O., 213 f.

12) Vgl. E. Winkler, Gemeinde zwischen Volkskirche und Diaspora. Eine Einführung in die praktisch-theologische Kybernetik, Neukirchen-Vluyn 1998, 5-9; Reiner Preul, Kirchentheorie, Berlin-New York 1997, 56.75-77.

13) W. Pannenberg, Gibt es Prinzipien des Protestantismus, die im ökumenischen Dialog nicht zur Disposition gestellt werden dürfen?, in: Protestantische Identität heute (wie Anm. 3), 79-86, Zit. 81.

14) Hermann Fischer, TRE 27, 550, 22-26.

15) CA VII, BSLK 61, 5-7.

16) Luther betonte die Kontinuität besonders in "Von den Konziliis und Kirchen" 1539, StA 5, 456-617 = WA 50, 509-653.

17) Vgl. ders., Praktische Theologie - eine Standortbestimmung, in: ThLZ 125, 2000, 127-142. Grethlein kritisiert u. a. die Ausblendung katholischer Religionspraxis in den von ihm untersuchten Konzepten.

18) A. a. O., 142. Einer der von Grethlein kritisch gewürdigten Autoren, Hans-Günter Heimbrock, erklärte in seinem Forschungsbericht zur Phänomenologie in der neueren Praktischen Theologie "Öffnung zum Leben" (IJPT 2, 2000, 253-283) 272, es solle "versucht werden, übersehene Phänomene in den institutionalisierten Formen des kirchlichen Lebens auszumachen".

19) Vgl. Heimbrock a. a. O., 260-264; Wilhelm Gräb, Lebensgeschichten - Lebensentwürfe - Sinndeutungen. Eine praktische Theologie gelebter Religion, Gütersloh 1998.

20) EKL3 III 1254 (1992) gibt für diese Kirche 90.000 Mitglieder an, für die Ev.-Reformierte Kirche 4.500. Damit haben diese Kirchen zusammen weniger Mitglieder als die Zeugen Jehovas mit 100.000. Nach Martin Schuck, MdKI 51, 2000, 11 zählt die Ev.-Augsburg. Kirche 80.000 Mitglieder.

21) Laut "Länderinformation Gebiet ehemaliges Jugoslawien" des Kirchenamtes der EKD, Stand: Juni 2000.

22) Nach EKL3 IV 989 (1996).

23) EKL3 IV 1027 gibt 19 % Reformierte und 4,1 % Lutheraner an, die "Länderinformation Ungarn" des Kirchenamtes der EKD nennt 25 % der Bevölkerung protestantisch, wobei von 2 Millionen Reformierten ausgegangen wird. Martin Schuck geht im MdKI 50, 1999, 75 von ca. 1,8 Mill. Reformierten aus.

24) Vgl. Juris Rubenis, Kirchen in Nachbarschaft. Zum Stand der ökumenischen Beziehungen im Baltikum, in: JMLB 47, 2000, 103-11, bes. 104, wo R. auf fehlende genaue Statistiken verweist, aber erklärt, es bestehe "allgemein der Standpunkt, dass den beiden größten Konfessionen", nämlich Lutheranern und Katholiken, "jeweils 300.000 Menschen angehören". Die 39 % ergaben sich bei einer soziologischen Befragung 1996. EKL3 V 983 (1997) rechnet mit je 20 % Lutheranern und Katholiken sowie 15 % Orthodoxen. Wie in Litauen existiert übrigens in vielen europäischen Ländern einschließlich Deutschland eine Diaspora orthodoxer Kirchen, die ebenfalls nicht nur Konfessionskundler interessieren sollte.

25) Laut EKL3 V 814.

26) Vgl. Beatus Brenner [Hrsg.], Europa und der Protestantismus, Göttingen 1993 = Bensheimer Hefte 73. Reinhard Frieling fordert dort eine Stärkung der Leuenberger Kirchengemeinschaft, deren Vollversammlung eine juridische Autorität etwa wie die EKD-Synode erhalten solle (a. a. O., 33). Martin Honecker, Europa - Herausforderung an die evangelische Theologie?, in: Ingolf U. Dalferth, Hans Jürgen Luibl, Hans Weder [Hrsg.], Europa verstehen, Zürich 1997, 3-18. Eine europäische Struktur und Organisation der Kirchen hält H. für kein realistisches Ziel (a.a.O. 17). Vgl. ferner Ralf Hoburg, Protestantismus in Europa. Erwägungen für eine Kirche der Konfessionen, Berlin 1999; Hans-Jürgen Luibl, Christine-Ruth Müller u. Helmut Zeddies (Hrsg.), Unterwegs nach Europa, Frankfurt/M. 2001; Wilhelm Richebächer, Die Christen in Europa und die Intergration der Völker, in: EvDia 70, 2001, 51-62; Maria Brun, Christliches Fundament und friedliche Globalisierung. Europa und die Kirchen, in: ThRv 96, 2000, 443-456. Zum religionspädagogischen Aspekt vgl. Jörg Ohlemacher, Religiöse Bildung in Europa und europäische Bildungspolitik, in: BThZ 17, 2000, 238-261.

27) Die gründlichste Arbeit zur evangelischen Diasporatheologie publizierte der katholische Autor Hermann-Josef Röhrig: Diaspora - Kirche in der Minderheit. Eine Untersuchung zum Wandel des Diasporaproblems in der evangelischen Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Zeitschrift "Die evangelische Diaspora", Leipzig 1991; vgl. auch Rolf Zerfaß, Volk Gottes unterwegs: in der Fremde, unter den Völkern, in: Herbert Haslinger [Hrsg.], Praktische Theologie Bd.1, Mainz 1999, 167-177; Franz-Peter Tebartz van Elst, Gemeinde in mobiler Gesellschaft, Würzburg 1999, 656-661, wo verschiedene Formen von Diaspora erläutert werden.

28) EKL3 I 1319 f. Zur Situation dieser Kirche vgl. André Birmelé, Evangelische Diaspora im Elsaß: Identität und Einheit, in: EvDia 67, 1998, 42-57.

29) Christoph Klein, Bischof der Evangelischen Kirche A. B. in Rumänien, denkt deshalb über ",Protestantismus und Kultur' aus der Sicht der kirchlichen Diasporasituation" nach, in: EvDia 69, 2000, 50-57. Vgl. ferner Joachim Track, Nation in christlicher Perspektive, in: Dietrich Stollberg u. a. [Hgg.], Identität im Wandel in Kirche und Gesellschaft, Göttingen 1998, 65-76. Zum Beispiel Estlands vgl. Toomas Paul, Nationale und kirchliche Identität im Estland der Gegenwart, in: JMLB 38, 1991, 119-131.

30) Areligiös heißt hier, dass die Bevölkerungsmehrheit keiner Religionsgemeinschaft angehört. Zum Säkularisierungsprozess in der DDR vgl. Detlef Pollack, Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart u. a. 1994.

31) Vgl. Richard Schröder, Die Kirchen in der DDR, in: ThRv 88, 1993, 9. "Wir waren eine Volkskirche ohne Volk und eine Diasporakirche, die das noch nicht gewohnt ist" (zit. bei Andreas Leipold, Volkskirche, Göttingen 1997; kursiv bei Leipold, nicht im Original).

32) Die drastische Schrumpfung von 80 % im Jahre 1949 auf gegenwärtig ca. 20 % führte nicht zu einer deutlichen Aktivierung der Mitgliedschaft und wirkte sich weder in einer höheren prozentualen Beteiligung beim Kirchgang (mit Ausnahme von Heiligabend!) noch in mehr ehrenamtlichem Engagement aus. Michael Beintker hat einige in den ostdeutschen Landeskirchen erhalten gebliebene volkskirchentypische Indikatoren aufgelistet und erläutert, um auf die damit gegebenen Chancen hinzuweisen. "Kann eine Minderheitskirche Volkskirche sein? Reflexionen zu ostdeutschen Erfahrungen und Perspektiven", in: Udo Schnelle [Hrsg.], Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin-New York 1994, 303-323.

33) Statistische Beilage Nr. 92 zum Amtsblatt der EKD, Heft 11 vom 15. Nov. 1998, 4. Die übrigen Daten der ostdeutschen Gliedkirchen zu diesem Zeitpunkt: Anhalt 19,8 %, Berlin-Brandenburg 24,3 % (hier hebt West-Berlin den Durchschnitt etwas an), Mecklenburg 19,5 %, Pommern 24 %, Kirchenprovinz Sachsen 18 %, Sachsen 25,3 %, Schlesische Oberlausitz 25,9 %. Infolge der ungünstigen Altersstruktur müssen die Daten inzwischen deutlich niedriger angesetzt werden.

34) George Carey, Gemeindegründung in der anglikanischen Kirche, in: Jörg Knobloch, Klaus Eickhoff, Friedrich Aschoff [Hgg.], Gemeinde gründen in der Volkskirche - Modelle der Hoffnung, Moers 1992, 68.

35) C. I. Nitzsch, Prakt. Theol. Bd. 1, Bonn 18592, 469. Nitzsch änderte den Passus in der 2. Aufl. nicht, obwohl die Rupp-Krise inzwischen überstanden war.

36) A. a. O., 467.

37) E. Chr. Achelis, Lehrbuch der Praktischen Theologie, 3. Bd., Leipzig 19113, 265-328.

38) A. a. O., 275. Vgl. 276: "er hat für die evangelische Kirche die schöne Bedeutung erlangt, dass er das Gemeinschaftsbewusstsein gepflegt und, wo es fehlte, wachgerufen hat und fort und fort wachruft".

39) A. a. O., 272. Dieser Vorwurf hatte 1853 zur Gründung des "Gotteskastens" als eines lutherischen Diasporahilfswerks geführt, aus dem 1932 der "Martin-Luther-Bund" hervorging.

40) Ebd.

41) A. a. O., 277.

42) A. a. O., 280.

43) Friedrich Niebergall, Praktische Theologie, 2. Bd., Tübingen 1919, 483 f.

44) HPT (Gütersloh 1987) IV, 371.

45) Auch in der Gemeindetheorie von Herbert Lindner, Kirche am Ort, Stuttgart u. a. 1994, kommt Diaspora nicht vor, obwohl er in Bayern lebt und arbeitet.

46) Rolf Schäfer, Die Bedeutung eines evangelischen Diasporawerks im heutigen Europa (EvDia 65, 1996, 33-41) nennt unter mehreren Gründen auch den, dass "das Gustav-Adolf-Werk so erfolgreich war" (35) und seine Aufgaben teilweise von anderen Instanzen übernommen wurden. In der Tat geschieht Diasporahilfe heute nicht nur durch zahlreiche Initiativen von Landeskirchen, sondern auch in vielen von Gemeinden und Gruppen getragenen Projekten.

47) Vgl. die "epd-Dokumentation" Nr. 52a/99 (6.12.1999) mit den Texten der Dokumente sowie einer Inhaltsübersicht der 24 (!) Ausgaben der epd-Dokumentation von 1997-1999, die Texte der Diskussion enthalten.

48) P. C. Bloth, Prakt. Theol., Stuttgart u. a. 1994, 162-166.

49) E. Lange, Chancen des Alltags, Stuttgart-Gelnhausen 1965, 141-154; vgl. Kurt Liedtke, Wirklichkeit im Licht der Verheißung. Der Beitrag Ernst Langes zu einer Theorie kirchlichen Handelns, Würzburg 1987, 119-122.

50) Lange a. a. O., 142.

51) Bloth, a. a. O., 165.

52) E. H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/M. 1966.

53) Vgl. Heiner Keupp, Auf der Suche nach der verlorenen Identität, in: ders., Riskante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokultur und Selbstorganisation, Heidelberg 1988, 131-151; ders., Psychologisches Handeln in der Risikogesellschaft; München 1994, 126; I. Karle (wie Anm. 7), 148-151; U. Wagner-Rau (wie Anm. 6), 92-95; K. Tanner (wie Anm. 3), 102.

54) Michael Klessmann, Identität und die Symbole des Glaubens, in: Dietrich Stollberg u. a. [Hgg.], Identität im Wandel in Kirche und Gesellschaft, Göttingen 1998, 128-137, Zit. 135.

55) H. Wahl, Individualität und Identität, in: Herbert Haslinger [Hrsg.], Handbuch Praktische Theologie, Mainz 2000, 206-217, Zit. 215.

56) Für die katholische Seite vgl. Ottmar Fuchs, Kirchendistanzierung- ein zwiespältiges Phänomen mit Konsequenzen, in: Leo Karrer [Hrsg.], Handbuch der praktischen Gemeindearbeit, Freiburg i. Br. u. a. 1990, 88-111, wo ausdrücklich die Frage der kirchlichen Identität behandelt wird.

57) Vgl. Klaus Engelhardt/Hermann von Loewenich/Peter Steinacker [Hgg.], Fremde Heimat Kirche, Gütersloh 1997, wo die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungen einbezogen werden.

58) Vgl. a. a. O., 378: sehr oder ziemlich verbunden 39 % West, 46 % Ost, kaum oder überhaupt nicht verbunden 26 % West, 21 % Ost.

59) Vgl. a. a. O., 369: Dass man getauft ist, nennen 91 % West, 86 % Ost; die Konfirmation 84 % West, 78 % Ost; Kirchenmitgliedschaft 83% West, 75 % Ost; dass man seinem Gewissen folgt 76 % West, 79 % Ost; sich bemüht, ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu sein 77 % West, 80 % Ost.

60) Kirchgang nennen 36 % West, 42 % Ost; Bibellese 21 % West, 32% Ost.

61) Vgl. a. a. O., 259; Jan Hermelink, Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft, Göttingen 2000, 309.332, beobachtet eine "tendenziell stärkere Bewußtheit und Entschiedenheit, die die kirchliche Bindung in Ostdeutschland auszeichnet" und erklärt sie als Reaktion auf ein Umfeld, das Kirchenmitgliedschaft als begründungspflichtig wahrnimmt.

62) Zur kybernetischen Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips vgl. E. Winkler, Gemeinde zwischen Volkskirche und Diaspora, Neukirchen-Vluyn 1998, bes. 228-233.

63) Vgl. Georg Kretschmar/Heinrich Rathke, Evangelisch-Lutherische Kirche in Rußland, der Ukraine, Kasachstan und Mittelasien, St. Petersburg 1995.

64) Anfangs dienten z. B. aus dem Gedächtnis rekonstruierte handgeschriebene Formulare als Agenden und Gesangbücher. Es fehlte praktisch alles, was eine Gemeinde an Material benötigt.

65) Vgl. Hans-Christian Diedrich, Erzbischof? Bischof? Bischöflicher Visitator? Über die leitenden Dienste in der "Evangelisch-Lutherischen Kirche in Rußland und anderen Staaten", in: IMLB 48, 2001, 159-190.

66) In: "Zeit zur Aussaat". Missionarisch Kirche sein, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 26.11.2000.

67) Z. B. sagte schon Paul VI. in "Evangelii nuntiandi" 1975: "Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität" (zit. bei O. Fuchs, wie Anm. 56, 88 f.; Hervorhebung E. W.). Auf evangelischer Seite vgl. das Votum des Theologischen Ausschusses der Arnoldshainer Konferenz "Evangelisation und Mission", Neukirchen-Vluyn 1999 sowie das Material der EKD-Synode in Leipzig 1999.

68) Vgl. E. Jüngel, Referat zur Einführung in das Schwerpunktthema der Synodentagung, in: epd-Dokumentation 49/99 (15.11.99), 1-12.

69) M. Josuttis, Identität und Konversion, in: Stollberg u. a. [Hgg.], wie Anm. 54, 118-127, Zit. 123.

70) A. a. O., 126.