Recherche – Detailansicht
Ausgabe: | Oktober/2001 |
Spalte: | 993–1006 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Reichert, Angelika |
Titel/Untertitel: | Offene Fragen zur Auslegung neutestamentlicher Texte im Spiegel neuerer Methodenbücher* |
Zu Beginn letzten Jahres bemerkte Andreas Lindemann: "In der neutestamentlichen Exegese spielen gegenwärtig Methodenfragen eine erhebliche Rolle ..."1. Ein Blick allein auf die deutschsprachige Literatur nur in den letzten vier Jahren kann diese Feststellung voll bestätigen: vier neu erschienene Methodenbücher2 und zwei neu aufgelegte3; zwei neu erschienene Arbeitsbücher4 und zwei neu aufgelegte5 mit je einem Methodenkapitel, von Aufsätzen zu Teilbereichen neutestamentlicher Methodologie ganz abgesehen.6
Mit der Feststellung des starken Gewichts von Methodenfragen in der gegenwärtigen exegetischen Diskussion verbindet sich bei Lindemann eine Bewertung, die diesen Sachverhalt als ein mögliches Krisensymptom einstuft. Das ausgeprägte Interesse an den Methodenfragen lege - so Lindemann - den Eindruck nahe, "das Bemühen um das Verstehen der Inhalte der auszulegenden Texte trete dahinter zurück"7. Diese skeptische Diagnose mag auf Anhieb vielleicht plausibel erscheinen, bei näherem Hinsehen zeigt sich aber die Gegenüberstellung von Methodenfragen einerseits und Verstehen der Textinhalte andererseits als äußerst problematisch. Im Bereich wissenschaftlicher Exegese sind Textinhalte nun einmal nicht abseits von methodisch regulierten Verfahrensweisen zugänglich. Das heißt: Wer Methodenfragen hintanstellt, kann nicht sicher sein, überhaupt zu Textinhalten vorzustoßen; er oder sie kann es zumindest nicht plausibel machen.
Lässt sich folglich die Schwergewichtung von Methodenfragen nicht unbesehen zum Krisensymptom erklären, bleibt zu
erwägen, ob die entsprechende Literaturfülle möglicherweise aus einem Nachholbedarf resultiert. Dafür spricht manches. Ausgerechnet historisch-kritische Exegese mit ihrem Anspruch auf intersubjektive Nachprüfbarkeit und dem daraus erwachsenden hohen Kommunikationspotential scheint derzeit außerhalb des wissenschaftlichen Fachbetriebs, also im Bereich kirchlicher Verkündigung, kaum gefragt zu sein. Die fehlende Nachfrage hat vermutlich viele Gründe, u. a. aber wohl den folgenden: Die Verfahrensweise historisch-kritischer Exegese ist unübersichtlich geworden. Zum einen werden konstitutive Bestandteile dieser Verfahrensweise von einer wachsenden Zahl von Exegetinnen und Exegeten als korrekturbedürftig empfunden. Zum anderen haben sich Impulse aus anderen Wissenschaften - Sprach- und Literaturwissenschaft, Psychologie, Soziologie - ausgewirkt. Solche Unübersichtlichkeit steht in Gefahr, zum wenig anziehenden Eindruck von Beliebigkeit beizutragen. In dieser Situation besteht Bedarf an Arbeiten, die den ganzen Problemkomplex der Auslegungsmethodik aufgreifen und Orientierungshilfe bieten. Diese positive Einschätzung der Literaturfülle zum Methodenthema provoziert eine kritische Rückfrage: Wird in den neueren Methodenbüchern Orientierungshilfe nicht nur angestrebt, sondern auch geboten?
Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf die Methodenbücher von Thomas Söding8, Wolfgang Fenske9, Wilhelm Egger10 und Martin Meiser11. Diese Bücher sind nach Voraussetzungen, Inhalt und Funktion vergleichbar. Sie alle behandeln die traditionellen Verfahrensweisen historisch-kritischer Exegese und beziehen - in unterschiedlichem Ausmaß - neuere Verfahrensweisen ein. Sie alle sind didaktisch aufbereitet und - mehr oder weniger - zugeschnitten auf die Vermittlungsaufgabe des neutestamentlichen Proseminars, das in der Regel dazu befähigen soll, einen neutestamentlichen Teiltext von Perikopenlänge auszulegen. Bei der folgenden Auseinandersetzung mit diesen vier Büchern, die in den letzten vier Jahren erschienen oder, im Fall von Egger, neu aufgelegt worden sind, geht es nicht um das individuelle Profil und die kritische Würdigung jedes einzelnen Beitrags. Vielmehr sollen drei neuralgische Punkte der Methodendiskussion herausgearbeitet werden, die m. E. weiter bedacht werden müssten, als es in den herangezogenen Arbeiten geschieht.
I. Ziel und Zusammenhang des Auslegungsverfahrens
Vorangestellt sei die von der Literaturwissenschaftlerin Manon Maren-Grisebach vorgeschlagene Definition des Ausdrucks Methode: "Methode ist der Weg zu einem Ziel, ... Als Weg ist der Methode Ausgangspunkt und Ziel inhärent, das heißt aber Zusammenhang"12.
Unter Voraussetzung dieser Definition lässt sich jenes gängige, in der Aufklärung wurzelnde Verfahren, das biblische Texte mit den Mitteln der menschlichen Vernunft und im Bewusstsein des historischen Abstandes zu ihnen auslegt, wohl als "historisch-kritische Exegese", nicht aber als "historisch-kritische Methode" bezeichnen. Tatsächlich stellt ja die historisch-kritische Exegese eine gewachsene Ansammlung unterschiedlicher Verfahrensweisen wie z. B. Formgeschichte, Literarkritik, Redaktionsgeschichte dar. Diese Arbeitsweisen haben je eigene Fragestellungen und Ziele, und daraus ergibt sich eine doppelte Konsequenz: 1. lassen sich nicht alle Arbeitsweisen unmittelbar und ungezwungen anwenden auf die Auslegung neutestamentlicher Teiltexte, und 2. fügen sich die verschiedenen Arbeitsweisen nicht von sich aus ohne weiteres zusammen.
Beide Sachverhalte seien am Beispiel der Formgeschichte verdeutlicht. Die klassische Formgeschichte versuchte, primär aus den synoptischen Evangelien ursprünglich selbständig überlieferte, mündliche Traditionsstücke zu erschließen, daraus dann Gattungen zu abstrahieren und über die soziale Funktion dieser Gattungen ein genaueres Bild vom Glauben und Leben der sie überliefernden Gemeinde zu gewinnen. Das bedeutet zum einen: Von sich aus zielt die klassische Formgeschichte gar nicht auf die Auslegung neutestamentlicher Teiltexte; ihr Interesse gilt vielmehr der Fülle der vorausliegenden mündlichen Einzeltraditionen und den daraus abstrahierbaren Gattungen. Zum andern wird deutlich: Mit dem für sie spezifischen Anliegen unterscheidet sich die Formgeschichte von anderen Arbeitsweisen, z.B. von der zuvor entwickelten Literarkritik, die in eine ganz andere Leitfrage eingebunden ist.
Die Schwierigkeit, aus Verfahrensweisen mit je eigenen Fragestellungen und Zielen Arbeitsschritte für einen Weg der Textauslegung zu gewinnen, zeigt sich nun aber nicht nur im Blick auf die klassisch-exegetischen Verfahrensweisen, sondern auch im Blick auf "neuere", aus anderen Wissenschaften stammende. Am Beispiel der Textlinguistik: Die Leitfrage der Textlinguistik ist theoretischer Art. Sie gilt der Textualität von Texten, also den für Texte konstitutiven Bedingungsfaktoren.13 Natürlich geraten bei dieser theoretischen Frage viele Sachverhalte in den Blick, die auch für die Praxis der Textauslegung wichtig sind. Nur: Textlinguistik ist wegen der ihr eigenen Leitfrage eben kein fertiger Baustein, der sich unbesehen und direkt bei der Textauslegung einsetzen ließe.
Festzuhalten ist also: Die in der neutestamentlichen Forschungsgeschichte bereitgestellten und die neueren Verfahrensweisen ergeben nicht ohne weiteres eine auf neutestamentliche Teiltexte anwendbare Auslegungsmethode. Dieses Problem wird in keinem der vier Methodenbücher eigens thematisiert. Es wirkt sich aber in allen vier Büchern aus. In keinem der vier Konzepte ergibt sich nämlich ein linearer Zusammenhang zwischen den vorgestellten Arbeitsweisen; der Gesamtduktus des vorgeschlagenen Auslegungsverfahrens bleibt jeweils undeutlich. Das eigentlich Verblüffende ist nun aber nicht diese Schwierigkeit, sondern die unverhohlene Bereitschaft, die Schwierigkeit hinzunehmen und aus der Not eine Tugend zu machen. So spricht z. B. Söding von einem "Methoden-Verbund"14, der die Textanalyse ausmache. Konkret ist bei diesem "Methoden-Verbund" gedacht an: Textkritik, Situationsanalyse, Kontextanalyse, Formanalyse, Gattungsanalyse, Motivanalyse, Traditionsanalyse und Redaktionsanalyse.15 Das Verhältnis dieser Verfahrensweisen zueinander symbolisiert Söding durch einen zum Kreis aufgeklappten Fächer.16 Jedes Verfahren könne unter einem bestimmten Aspekt Licht auf den Text werfen, und darum sei es entscheidend, möglichst viele anzuwenden.17 Nötig sei darüber hinaus ihre "enge Vernetzung", weil dadurch "höchst erfreuliche Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekte entstehen [können], die zur Leistungssteigerung jeder einzelnen Methode beitragen" und damit zugleich "zur wissenschaftlichen Reputation der Exegese und damit der ganzen Theologie"18. Zuversichtlich äußert sich auch Fenske: "Die Arbeitsschritte ... bilden ... kein aufeinander aufbauendes Schritt-für-Schritt-Verfahren"19. Sie "korrigieren einander - der erste den letzten, der letzte den ersten - und so werden sie miteinander verwoben und unsere Arbeit wird einem sinnvollen Ergebnis zugeführt"20. Nach Fenske braucht sich eine mit Textauslegung befasste Proseminararbeit um einen roten Faden denn auch nicht unbedingt zu bemühen.21 Egger nähert sich dem Problem mit einem fast schon poetischen Vergleich: "Um eine Landschaft mit ihrer Eigenart und ihren Schönheiten zu erfassen, gibt es eine Reihe von Wegen. Jeder Weg enthüllt etwas von der Eigenart und Schönheit. Wer nur einen einzigen Weg benützt, übersieht vieles"22. Meiser schließlich zieht einen verblüffenden Schluss zur Anfertigung von Proseminararbeiten: Er nennt die Abfolge der in seinem Buch behandelten Arbeitsschritte als Gliederungsmöglichkeit, aber: "Wie Ihre Arbeit in Wirklichkeit gegliedert wird, richtet sich nach den Empfehlungen der Dozierenden"23.
Wenn man die Voten aus ihrer technokratischen, geisteswissenschaftlichen, poetischen und didaktischen Verpackung befreit, dann laufen sie etwa auf folgenden Punkt hinaus: Es gibt traditionelle und neuere Verfahrensweisen, die man bei der Textauslegung einsetzen kann, es gibt auch einige wenige, unmittelbar einleuchtende Konventionen über ihre Abfolge (z. B. die Vorordnung der Textkritik), aber darüber hinaus lässt sich zum Gesamtweg der Auslegung wenig sagen. Auf diese ernüchternde Quintessenz trifft die Kritik Maren-Grisebachs am sogenannten Methodenpluralismus in jeder Hinsicht zu: Es handelt sich um ein "Agglomerat von verschiedenen Techniken, die aus verschiedenen ... Zusammenhängen gelöst worden sind und nicht den Anspruch auf eine Methode erheben können. Einem solchen pluralistischen Eklektizismus fehlen Fundament und Richtung, fehlt damit das Moment des Zusammenhangs"24.
Nun könnte man einwenden, jede Methode habe sich am Gegenstand zu orientieren, neutestamentliche Exegese sei nun einmal mit Texten unterschiedlichster Art befasst und daraus ergebe sich mit Notwendigkeit ein Auslegungsverfahren, das den jeweiligen Text bzw. Teiltext gleichsam umkreist, ihn unter unterschiedlichen Fragestellungen abklopft und somit ausprobiert, unter welchen Fragestellungen Ergebnisse erreichbar sind und unter welchen nicht. So ernst der Hinweis auf die Anpassung des Verfahrens an den jeweiligen Gegenstand zu nehmen
ist, so deutlich ist doch andererseits festzuhalten: Auf gar keinen Fall entbindet die Anpassung der Auslegungsmethode an den auszulegenden Text von der Reflexion des Ziels, zu dem der Auslegungsvorgang eigentlich führen soll. Wer eine Methode zur Auslegung neutestamentlicher Texte vorschlagen will, muss auch ein Ziel des Auslegungsvorgangs benennen können.
Eine naheliegende, darum vielleicht trivial erscheinende, vermutlich aber immerhin konsensfähige Zielbestimmung könnte etwa in folgende Richtung gehen: Die Auslegung soll die ursprüngliche Mitteilungs- und Wirkabsicht des Textes bzw. Teiltextes erheben. Die Orientierung an dieser Zielbestimmung bietet einen entscheidenden Vorteil: Wenn man den gesamten Auslegungsvorgang nicht als ein Abarbeiten unterschiedlicher Perspektiven versteht, sondern als ein auf dieses Ziel hin angelegtes Verfahren, dann lässt sich nämlich zwischen weniger und mehr geeigneten ersten Schritten des Verfahrens unterscheiden. Im Hinblick auf dieses Ziel erscheint es z. B. wenig sinnvoll, die "außerexegetische Rezeption des Textes" zum Gegenstand eines der einleitenden Schritte zu machen, wie Meiser vorschlägt,25 schließlich ist das Ziel ein exegetisches. Ebenso wenig wird man wie Fenske die Literarkritik an den Beginn des Auslegungsvorgangs rücken,26 die Zielbestimmung richtet sich ja auf den Text in seiner vorliegenden Gestalt. Auch Södings Einstieg mit einer Situationsanalyse27 käme kaum in Frage; die Zielbestimmung richtet sich auf den Text selbst, ob und inwieweit die kommunikative Situation, der der Text entstammt, relevant wird, lässt sich nicht vorab entscheiden. Demgegenüber dürfte ein dem Ziel angemessener Einstieg - abgesehen von der zur Konstitution des Auslegungsgegenstandes beitragenden Textkritik - in der von Egger stark gewichteten "synchronen Analyse" liegen, die er als "systematische und umfassende Beobachtung der Textphänomene"28 definiert. Diese synchrone Analyse ist im Prinzip nach drei verschiedenen Beobachtungsperspektiven untergliedert:29 Unter sprachlich-syntaktischem Aspekt geht es um die Kombination der Teilzeichen, um ihre Verknüpfung, ihre Abfolge im gegebenen Text, unter semantischem Aspekt um die Bedeutung der miteinander kombinierten Teilzeichen, unter pragmatischem Aspekt um die kommunikative Funktion der miteinander kombinierten, bedeutungstragenden Teilzeichen. Der Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Zielbestimmung liegt auf der Hand: Die Erhebung der Mitteilungsabsicht beruht ja auf einer Auswertung der unter semantischem Aspekt angestellten Beobachtungen, und die Erhebung der Wirkabsicht beruht auf der Auswertung der unter pragmatischem Aspekt angestellten Beobachtungen. Das bedeutet: Wenn man die synchrone Analyse nur ein klein wenig weiter fasst als in Eggers Definition und darunter nicht nur die Beobachtung von Textphänomenen, sondern auch deren Auswertung versteht, dann führen semantische und pragmatische Analyse, die ihrerseits die syntaktische Analyse voraussetzen, bereits geradlinig hin zum Ziel der Auslegung, der Erhebung der ursprünglichen
Mitteilungs- und Wirkabsicht des Textes bzw. Teiltextes. Dabei versteht es sich von selbst, dass im Fall der Auslegung eines Teiltextes unter allen drei Aspekten der literarische Kontext einzubeziehen ist, und es versteht sich auch von selbst, dass der grob skizzierte Weg hin zum Auslegungsziel weiter ausdifferenziert werden müsste unter dem Gesichtspunkt unterschiedlicher Texttypen.30
Bei dieser Grobskizze von Auslegungsziel und -weg ist jedoch ein fundamentaler Sachverhalt noch nicht berücksichtigt: Die neutestamentlichen Texte setzen als Texte ihrer Zeit ein kulturelles Wissen voraus, das eine Vielzahl von Bereichen umfasst, z. B. Sprache und deren Verwendung (dazu wären besonders auch Gattungsmuster zu rechnen), Religion, Zeitgeschichte, Sozialformen usw. Zu diesem kulturellen Wissen hat der heutige Ausleger/die Auslegerin keinen unmittelbaren Zugang; es muss anhand einer Vielzahl von Texten rekonstruiert werden. Für diese Rekonstruktionsarbeit sieht z. B. Fenske mehrere eigenständige Arbeitsschritte vor, Traditionsgeschichte, Religionsgeschichte, Zeitgeschichte, Soziologie/Sozialgeschichte, Psychologie.31 Sie alle dienen der Erhebung dessen, was Fenske den "Hintergrund des Textes" nennt.32
Es wäre zu fragen, ob gegenüber solchen eigenständigen Arbeitsschritten nicht eine Einbettung in das eben skizzierte zielorientierte synchrone Verfahren vorteilhafter wäre.33 Nur im Vollzug der Textanalyse kann sich ja herausstellen, nach welchen Textvoraussetzungen es überhaupt zu fragen gilt. Erst im Vollzug wird ja deutlich, welche Textphänomene unverständlich, sinnlos, leer bleiben und darum zur Rückfrage nach einem gegebenenfalls vorausgesetzten Wissen auffordern. Nur so lassen sich ja aus der unendlichen Fülle des vom Text vorausgesetzten kulturellen Wissens die für die Auslegung wirklich relevanten Elemente ausfindig machen.34 Durch solche Einbettung der Frage nach dem kulturellen Wissen in die Textanalyse lässt sich die Plan- und Ertraglosigkeit jenes Verfahrens vermeiden, das ungezielt zum "Hintergrund" des Textes vordringen will und dabei allerlei Interessantes, aber nicht notwendig für die Textauslegung Nützliches ermittelt. Dass im Einzelfall auch die ungezielte Erhebung kulturellen Wissens auf Sachverhalte trifft, die bestimmte Textphänomene in anderes Licht rücken, kann und braucht darum nicht bestritten zu werden. Forschungsgeschichtlich gibt es dafür viele Beispiele. Nur kann die immer bestehende Möglichkeit glücklicher Zufälle kein Baustein für eine Methode der Textauslegung sein. Ebenso wenig zu bestreiten ist ein weiterer Punkt: Eine in die Textauslegung eingebettete Erhebung kulturellen Wissens ist angewiesen auf vorausliegende Forschungsarbeit, die jedenfalls nicht in dieser Weise gezielt vorgehen kann. Aber auch dieser - wohl selbstverständliche - Punkt hat mit dem Problem der Auslegungsmethodik direkt nichts zu tun.
Liegt es folglich nahe, alle Fragen zu dem im Text vorausgesetzten, infolge des historischen Abstands nicht unmittelbar verfügbaren kulturellen Wissen zu integrieren in die synchrone Textauslegung, und zwar je an den Stellen, die indirekt zur Rückfrage auffordern, dann bleibt folgender Punkt zu klären: Wie verhält es sich mit jener Rekonstruktionsarbeit, die sich auf eine mögliche mündliche oder schriftliche Vorgeschichte des auszulegenden Textes bezieht? Die Frage führt zum zweiten neuralgischen Punkt.
II. Synchronie und Diachronie
Die synchrone und die diachrone Betrachtungsweise haben unterschiedliche Gegenstände. Die synchrone Betrachtung richtet sich auf den Text in seiner vorliegenden Gestalt, also auf die Elemente des Textes und deren Beziehungen zueinander, einschließlich des vom Text vorausgesetzten und gegebenenfalls zu rekonstruierenden kulturellen Wissens. Die diachrone Betrachtung richtet sich auf die Entstehungsgeschichte des Textes, also auf mündliche oder schriftliche Vor-Texte, die im vorliegenden Text möglicherweise enthalten sind.
Bekanntlich war die klassische historisch-kritische Exegese primär diachron interessiert. Literarkritik, Formgeschichte und Redaktionsgeschichte bildeten gewissermaßen ihr Gerüst. Seit geraumer Zeit sind nun der klassischen Formgeschichte gegenüber begründete Zweifel geltend gemacht worden. Lässt sich überhaupt - so ein verbreiteter skeptischer Einwand - von schriftlichen Texten aus auf mündliche Texte in ihrem Wortbestand zurückschließen? Auch die literarkritische Vorgehensweise wurde jedenfalls im Fall der Briefteilungshypothesen und im Fall der Bestimmung literarischer Schichten im Johannesevangelium problematisiert: Besteht nicht die Gefahr - so die Tendenz einer verbreiteten Kritik -, dass sich der Exeget/die Exegetin den Bestand des auszulegenden Textes selbst zurechtbastelt, anstatt sich mit dem Widerstand des Textes in seiner vorliegenden Gestalt auseinanderzusetzen? Insgesamt ist die exegetische Großwetterlage jedenfalls von Skepsis bestimmt gegenüber den Möglichkeiten diachroner Textbetrachtung, also gegenüber den Möglichkeiten, die textuelle Vorgeschichte durch die Rekonstruktion vorausliegender Prae-Texte aufhellen zu können. Auf diese Skepsis gegenüber den Möglichkeiten diachroner Betrachtung reagieren die Bücher von Egger und Meiser in unterschiedlicher Weise.
Meiser nimmt gleichsam unter der Hand eine teilweise Neudefinition von Literarkritik und Formgeschichte vor. Die von ihm vorgeschlagene literarkritische Analyse richtet sich auf die Abgrenzung eines Teiltextes vom Kontext, auf seine Gliederung, auf die Benennung von Kohärenzfaktoren und schließlich auf "[m]ögliche Kriterien der inneren Uneinheitlichkeit".35 Diese Beobachtungen zur möglichen Uneinheitlichkeit sollen nach Meiser im Rahmen des literarkritischen Arbeitsschritts aber ausdrücklich nicht weitergeführt werden bis hin zu einer literarkritischen Entscheidung über eventuelle schriftliche Vorlagen oder spätere Ergänzungen.36 D. h.: Das diachrone Ziel der klassischen Literarkritik ist bei Meiser aus diesem Arbeitsschritt her-
ausgebrochen. Ähnlich verfährt Meiser bei der Formgeschichte: Seine Hinweise zur formgeschichtlichen Erarbeitung eines Teiltextes37 beschränken sich im Prinzip auf die Gattungsbestimmung,38 und dieser Gattungsbestimmung liegen nicht - wie klassisch formgeschichtlich - die rekonstruierten mündlichen Einzeltraditionen zu Grunde, sondern andere, mit dem auszulegenden Teiltext in bestimmten Hinsichten vergleichbare Teiltexte.39 Durch den Verzicht auf den problematischen Schritt zu den möglichen mündlichen Vor-Texten40 wird also auch die Formgeschichte in ein prinzipiell synchrones Verfahren umgewandelt. Solche Umwandlung führt dann allerdings zu Unstimmigkeiten in Meisers Gesamtkonzept: Der folgende Schritt "Redaktionskritik" zielt bei Meiser auf die "theologische Interpretation einer Überlieferungseinheit durch den Evangelisten"41. Wie aber soll redaktionsgeschichtliche Arbeit diese Aufgabe erfüllen, wenn doch kein vorangehender Schritt eindeutig darauf angelegt war, eine Hypothese zum Bestand der vorausliegenden Überlieferungseinheit zu entwickeln?
Eine klarere Reaktion auf die wachsende Skepsis gegenüber der diachronen Analyse bietet Egger. Egger stellt den klassisch diachronen Arbeitsschritten einen ausführlichen Teil über die Arbeitsschritte der synchronen Analyse voran. Auf diese Weise wird die diachrone Analyse deutlich relativiert. Mit Ausnahme der Gattungsbestimmung, die Egger ähnlich wie Meiser synchron vornimmt,42 werden die klassischen, diachronen Arbeitsschritte dann weithin so gehandhabt wie traditionell üblich. Bei Egger wird also ein klarer Schnitt gelegt zwischen die schwergewichtete synchrone Analyse einerseits und die diachrone Analyse andererseits.
Gerade der klare Schnitt bei Egger provoziert nun aber die Frage, wie denn eigentlich Synchronie und Diachronie zusammenzudenken sind. Noch pointierter wird man fragen, wenn man - wie oben vorgeschlagen - das Ziel der Auslegung in der Bestimmung der Mitteilungs- und Wirkabsicht des Textes sieht: Was nützt eigentlich die Erforschung der textuellen Vorgeschichte der Auslegung des Textes in seiner vorliegenden Gestalt? Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht in diesem Zusammenhang nicht um den Nutzen von diachroner Textbetrachtung für die neutestamentliche Wissenschaft als ganze. Dass etwa urchristliche Theologiegeschichte nicht ohne diachrone Textanalyse auskommt, steht ja völlig außer Diskussion. Die Frage ist vielmehr, was die Erhellung der textuellen Vorgeschichte im Rahmen der Textauslegung austragen kann. Darauf gibt Egger selbst eine eher schwebende Antwort: Durch die Einbeziehung diachroner Verfahrensweisen ergebe sich "ein vertieftes Verständnis des Textes, von dem der geschichtlich denkende Mensch nicht absehen kann"43. Ähnlich spricht Söding von der "diachronische[n] Tiefenschärfe"44 und formuliert an späterer Stelle eindeutig: "Sofern ein neutestamentlicher Text Traditions-Literatur ist, kann sein Sinn nicht ohne Verweis auf seine Vorgeschichte bestimmt werden ..."45.
Diese apodiktische Behauptung reizt zum Widerspruch, der sich am konkreten Beispiel erläutern lässt: So gut wie unbestrittenermaßen ist die Erzählung vom Zöllnergastmahl in Lk 5,27-32 Traditionsliteratur; sie setzt die markinische Erzählung (Mk 2,13-17) als Prae-Text voraus. Die Lk-Fassung verändert diesen Prae-Text in mehreren Punkten, z. B. im Schlusssatz. Statt "Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder" (Mk 2,17) steht in Lk 5,32: "Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Umkehr". Die diachrone Betrachtung des Lk-Textes macht auf das hinzugesetzte Textelement "zur Umkehr" (wie auf andere lukanische Veränderungen) aufmerksam. Nur: Einer angemessenen synchronen Analyse wäre das hinzugesetzte Textelement doch nicht entgangen, auch wenn es ihr natürlich nicht als hinzugesetztes Element erkennbar wäre! Das Beispiel zeigt: Die diachrone Betrachtung verändert nichts an den für die Textauslegung relevanten Textdaten, und sie verändert auch nichts an der Auswertung der Beobachtungen, sofern diese zur Bestimmung der Mitteilungs- und Wirkabsicht des Textes führen soll. Von hier aus legt sich zunächst einmal die Gegenthese zu Söding nahe: Die Analyse der textuellen Vorgeschichte eines Textes/Teiltextes hat für dessen Auslegung keine konstitutive Funktion.
Diese absichtlich vorsichtig formulierte Gegenbehauptung besagt nicht: Diachrone Analyse ist für die Textauslegung in jedem Fall unerheblich. Tatsächlich lässt sich nämlich nicht bestreiten, dass die Kenntnis der textuellen Vorgeschichte im Zuge des Auslegungsverfahrens sehr wohl als kritisches Korrektiv fungieren kann. Konkret ist folgender Sachverhalt gemeint: Jede Auslegung auf synchroner Ebene tendiert vom Ansatz her zur Auffassung des auszulegenden Textes/Teiltextes als eines einheitlichen Gebildes. Mit dieser Tendenz ist grundsätzlich die Gefahr gegeben, mögliche Brüche, Spannungen, Unstimmigkeiten im Text zu überspielen und solchen Inkohärenzen eine Bedeutung auf irgendeiner höheren Abstraktionsebene beizulegen, die dann möglicherweise gar nicht mehr abgedeckt ist durch Textbeobachtungen und vernünftige Schlussfolgerungen daraus.46 Vor solcher Eigendynamik kann die diachrone Betrachtung schützen, sofern sie in der Lage ist, Inkohärenzen aus der textuellen Vorgeschichte zu erklären und damit gerade nicht auszulöschen, sondern sie für die synchrone Textauslegung festzuhalten. Anders formuliert: Die Bestimmung der textuellen Vorgeschichte kann für die Auslegung des Textes in seiner vorliegenden Gestalt unmittelbar nichts austragen, weil sie dem vorliegenden Text nichts hinzufügt und nichts wegnimmt. Sie kann aber gegebenenfalls die synchrone Auslegung auf deren eigene Grenzen aufmerksam machen.
Gegen diese eingeschränkte Funktionsbestimmung diachroner Betrachtungsweise ist folgender Einwand denkbar: Kann denn nicht gerade die diachrone Betrachtung - jedenfalls in bestimmten Fällen - zu einem deutlicheren Bild von der Intention des Textautors verhelfen? So zeigt sich doch z. B. beim Ver-
gleich des eben erwähnten Lk-Textes mit seiner markinischen Quelle: Der Autor Lukas muss ein besonderes Interesse daran gehabt haben, dass Jesu Begegnung mit Sündern auf deren Umkehr zielt. Diese Einsicht in die Autorintention wäre rein synchroner Auslegung dieses Teiltextes so ohne weiteres kaum erreichbar.
Mit diesem denkbaren kritischen Hinweis auf die Autorintention ist der dritte neuralgische Punkt der Methodendiskussion erreicht.
III. Autor, Adressatinnen/Adressaten und Text
Der auszulegende Teiltext gehört zusammen mit seinem Kontext in eine bestimmte historisch zurückliegende Kommunikationssituation. Wie in jeder Kommunikationssituation sind darin die wichtigsten Faktoren: der Autor, also der Erzeuger des Textes, und die Adressatenschaft, an die er sich wandte. Unter methodischem Gesichtspunkt stellt sich die Frage: Welche Rolle spielen Autor und Adressatenschaft im Auslegungsverfahren?
Die Bücher von Meiser und Fenske bieten dazu keine direkte Stellungnahme.47 Anders findet sich bei Egger eine deutliche Antwort: "... nur wenn der Ausleger sich ein Gesamtbild der verschiedenen Faktoren bildet, die an der Textwerdung beteiligt sind, ist eine angemessene Auslegung möglich"48. So sehr diese Auskunft auf den ersten Blick einleuchtet, so problematisch wird sie doch auf den zweiten Blick. Es gibt neutestamentliche Texte, bei denen nur ein sehr verschwommenes Bild von Autor und Adressatenschaft als den wichtigsten Entstehungsfaktoren erreichbar ist, z. B. das MkEv, und es gibt neutestamentliche Texte, bei denen das erheblich besser zu gelingen scheint, z. B. die Korintherbriefe.49 Nach Eggers These wäre zu schließen: Die Auslegung des MkEv kann immer nur schlechter, unangemessener gelingen als die der Korintherbriefe. Die Schlussfolgerung legt den Eindruck nahe, dass es sich mit der These nicht ganz richtig verhalten kann, und dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man weiterfragt: Wie lässt sich überhaupt ein begründetes Bild von Autor und Adressatenschaft als den wichtigsten Faktoren der ursprünglichen Kommunikationssituation gewinnen? Zu diesem Problem bietet nicht nur das Buch von Egger, sondern ausführlicher noch das von Söding Anregungen. Wenn man die Fülle dieser Impulse50 zusammensieht, dann treten vor allem folgende Gesichtspunkte hervor. Zunächst zur Autorseite: Aufschluss über den Autor und seine Intention ergibt sich besonders dann, wenn andere Texte desselben Autors zur Verfügung stehen oder wenn sein Umgang mit vorgegebener Tradi-
tion - also mit vorausliegenden Texten oder literarischen Konventionen - feststellbar ist und Einblick in seine Arbeitsweise erlaubt. Aufschluss über den Autor ergibt sich aber auch dann, wenn man beobachtet, wie sich dieser Autor im Text selbst präsentiert, welche Rolle er als Subjekt der Erzählung oder der Argumentation spielt, welche Strategie er dabei einschlägt. Für Letzteres führt Söding den in der Literaturwissenschaft gebräuchlichen Begriff des "impliziten Autors" ein, der vom empirischen Autor als dem Texterzeuger zu unterscheiden ist.51 Auf der Adressatenseite fallen die Anregungen spärlicher aus, im Prinzip wird in beiden Büchern vorgeschlagen, unter Berücksichtigung des rekonstruierbaren Wissens über die politische, religiöse und soziale Adressatensituation aus der für die Adressaten im Text vorgesehenen Rezeptions-Rolle, also von den "impliziten" Adressaten aus, vorsichtig zurückzuschließen auf die empirischen Adressaten.
Die nur von Söding, und auch von ihm nur sehr knapp angedeutete Skepsis hinsichtlich der Rückschlussmöglichkeit vom "impliziten" auf den empirischen Autor52 bedarf m. E. dringend der Verstärkung. Dazu ein konkretes Beispiel, bei dem auf den ersten Blick ganz hervorragende Bedingungen für den Rückschluss vom "impliziten" auf den empirischen Autor vorzuliegen scheinen, nämlich Röm 15,23-33, der Ausblick auf die weiteren Pläne des Apostels Paulus: Der "implizite" Autor kommt hier nicht nur indirekt als Subjekt der Textstrategie vor, sondern ganz direkt als "ich", und es besteht kein Grund zu bezweifeln, dass dieses "ich" auf den empirischen Autor Paulus verweist. Der "implizite" Autor, das "ich", legt in Röm 15,23 ff. seine näheren und weiteren Zukunftspläne - Jerusalem, Rom, Spanien - dar und ist zuversichtlich, diese Pläne bis hin zur Spanienreise realisieren zu können. Jedenfalls müssen Leserinnen und Leser, die sich auf die Textstrategie einlassen, diesen Eindruck gewinnen. Zwar gibt der "implizite" Autor in 15,31a zu erkennen, dass er sich bei seinem nächstliegenden Projekt in Jerusalem für persönlich gefährdet hält, aber eine Konsequenz aus dieser gedachten negativen Möglichkeit wird nicht zur Sprache gebracht. Vielmehr ist die Textstrategie darauf angelegt, der Adressatenschaft darzulegen, was im Fall eines positiven Ausgangs des Jerusalem-Besuchs geschehen soll, nämlich der Rombesuch (15,23b.24b.28 f.32) und die Spanienreise (15,24.28). Nun wäre es aber zweifellos naiv, vom "impliziten" Autor aus direkt auf den empirischen Autor zurückzuschließen und etwa anzunehmen, Paulus sei sich zur Zeit der Abfassung des Röm bei allem Risikobewusstsein über den positiven Ausgang des
nächstliegenden Projekts eben doch relativ sicher gewesen, so dass er tatsächlich nur von dieser positiven Möglichkeit aus weitergedacht habe. Es könnte sich so verhalten haben, aber der empirische Autor Paulus könnte auch ganz andere Gründe gehabt haben, seine Textstrategie in Röm 15,23 ff. so zu konzipieren, dass sie den Blick der Adressatenschaft gerade nicht auf die Konsequenzen eines möglichen Scheiterns in Jerusalem lenkt. Das Beispiel soll zeigen: Selbst dann, wenn hervorragende Bedingungen für den Rückschluss auf den empirischen Autor vorliegen - und in der Mehrzahl neutestamentlicher Texte ist das nicht der Fall -, selbst dann ist Vorsicht angesagt. Der implizite Autor ist nun einmal kein Spiegelbild des empirischen Autors, und die Textstrategie steht nicht einfach im 1:1-Verhältnis zur Autorintention. Analoges gilt natürlich in gesteigerter Form für die Adressatenseite.
Unabhängig von den Möglichkeiten eines Rückschlusses auf empirischen Autor/empirische Adressaten stellt sich nun aber die Frage nach der Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung im Auslegungsverfahren. Die Antwort auf diese Frage scheint mir tendenziell negativ ausfallen zu müssen. Eggers bereits zitierte Behauptung, angemessene Textauslegung sei nur möglich unter Voraussetzung eines Bildes von den an der Textentstehung beteiligten Faktoren, wäre nämlich problematisch selbst in jenem für neutestamentliche Texte rein fiktiven Fall, in dem der empirische Autor/die empirischen Adressaten mit völliger Gewissheit erkennbar sind. Dieser Sachverhalt lässt sich nur am fingierten Beispiel erläutern. Angenommen, der Auslegung des Gal stünde eine authentische Erklärung des Autors Paulus zur Verfügung. Weiterhin angenommen, Paulus versicherte in dieser Erklärung, er habe den galatischen Adressaten nur geschrieben, weil er ihnen über eine ethische Krise, über eine Verwirrung in den Maßstäben christlicher Lebensführung, habe hinweghelfen wollen. Die in diesem fiktiven Fall völlig sichere Kenntnis der Intention des empirischen Autors würde der Textauslegung des Gal nichts nützen, weil sie den Gal als Ganzen nicht aus dieser Intention heraus erklären könnte. Der "implizite" Autor, die Textstrategie des Gal, fügt sich eben nicht zu der in diesem fingierten Beispiel mit Gewissheit bekannten Intention des empirischen Autors. Von ihren Beobachtungen zum "impliziten" Autor, zur Textstrategie, aber könnte die Textauslegung nicht absehen, selbst wenn diese Beobachtungen zu einem Ergebnis führen, das sich zur tatsächlichen Intention des empirischen Autors kontaktlos oder widersprüchlich verhält. Gegen Beobachtungen zum Text und deren Auswertung lässt sich nicht einmal die gewisse Erkenntnis des Autors und seiner Intention ausspielen. Analoges gilt natürlich erst recht für die Adressatenseite: Selbst wenn sich etwa auf Grund von anderen Paulustexten mit absoluter Gewissheit erschließen ließe, dass sich die empirischen Adressaten des Gal dem Anliegen des Briefs gegenüber verschlossen haben, dann könnte dieses Wissen der Textauslegung nichts helfen bei der ihr eigenen Aufgabe, die im Text für die Adressaten vorgesehene Rolle zu erheben.
Damit ist deutlich: Weder der empirische Autor mit seiner Intention noch die empirischen Adressaten mit ihrer Rezeption können im Verfahren der Textauslegung eine notwendige, eine konstitutive Rolle spielen.
Auch unter diesem Gesichtspunkt ist wieder Missverständnissen vorzubeugen. Wenn empirischem Autor bzw. empirischer Adressatenschaft im Zusammenhang der Textauslegung keine notwendige Rolle eingeräumt wird, dann sind sie damit noch nicht zur Belanglosigkeit erklärt. Das gilt nicht nur im Hinblick auf andere Bereiche neutestamentlicher Wissenschaft wie Einleitungswissenschaft und urchristliche Theologiegeschichte. Auch im Auslegungsverfahren selbst können begründete Bilder vom empirischen Autor/von den empirischen Adressaten Relevanz bekommen, nämlich dann, wenn sie eine heuristische Funktion erfüllen, wenn sie also etwa bestimmte Textelemente oder Beziehungen zwischen Textelementen deutlicher erkennen lassen.
Die Auseinandersetzung mit den vier neueren Methodenbüchern dürfte gezeigt haben, dass der Nachholbedarf an methodologischer Reflexion des Auslegungsverfahrens jedenfalls hinsichtlich der drei erwähnten neuralgischen Punkte noch nicht gedeckt ist. Mehr oder weniger kennzeichnend für alle vier Bücher erscheint die Tendenz, möglichst viele Weisen des Umgangs mit Texten nebeneinander stehen zu lassen. Solches Nebeneinander-stehen-Lassen von Untersuchungsperspektiven, die- wie Söding formuliert - jeweils "faszinierende Einsichten"53 vermitteln können, trägt zweifellos zur Horizonterweiterung bei, riskiert aber andererseits auch Konzentrationsmangel. Über die Gründe für solchen in Kauf genommenen Konzentrationsmangel kann man nur spekulieren: Bestenfalls liegt wirklich das unbefangene Interesse an neuen, faszinierenden Einsichten zu Grunde; schlimmstenfalls schlägt sich darin ein Erwartungsschwund gegenüber den Texten nieder, die doch selbst etwas zu besagen und zu bewirken haben.
Den Weg eines auf den Text konzentrierten Auslegungsverfahrens habe ich anzudeuten versucht: eine sich der eigenen Grenzen bewusste, auf die ursprüngliche Mitteilungs- und Wirkabsicht des Textes hin zielorientierte synchrone Analyse, in der den Fragen nach Textentstehung und nach empirischem Autor/empirischer Adressatenschaft eine mögliche und definierte, nämlich eine kritisch-korrektive bzw. eine heuristische, Funktion zukommt.
Summary
The essay considers four selected works that are designed to provide orientation in the confusing discussion of method in NT exegesis. Three critical questions are put to these works: 1) the question of goal and coherence of the procedure(s), 2) the question of the relationship between synchrony and diachrony, and 3) the question of the significance of the empirical author/ the empirical addressees for the interpretation of a text. The author argues for a methodological concept that can roughly be summarized as follows: The method does not consist in employing a variety of traditional and new exegetical approaches each with its own aims and presuppositions, but rather it is totally orientated toward determining the meaning and intention of the text in question. The main path toward this goal is the analysis of the text as a complex linguistic sign with regard to its three semiotic dimensions, and this path must be interrupted whenever it is necessary to reconstruct cultural knowledge presupposed by the text in order to continue the analysis. Within this goal-orientated synchronic methodological approach the diachronic question about the text's prehistory can acquire a critical-corrective function and the question about the empirical author/the empirical addressees can acquire a heuristic function.
Fussnoten:
* Geringfügig überarbeitete Fassung der am 2.11.2000 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster gehaltenen Antrittsvorlesung. Der Stil des mündlichen Vortrags wurde beibehalten.
1) Rez.: S. Alkier/R. Brucker [Hrsg.], Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen, Basel 1998, ThLZ 125, 2000, 60-62, 60.
2) T. Söding, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament. Unter Mitarb. v. C. Münch, Freiburg, Basel, Wien 1998; W. Fenske, Arbeitsbuch zur Exegese des Neuen Testaments. Ein Proseminar, Gütersloh 1999; H.-W. Neudorfer/E. J. Schnabel [Hrsg.], Das Studium des Neuen Testaments. Bd. 1: Eine Einführung in die Methoden der Exegese (Bibelwissenschaftliche Monographien 5), Wuppertal, Gießen, Basel 1999; M. Meiser u. a., Proseminar II. Neues Testament - Kirchengeschichte. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart, Berlin, Köln 2000.
3) W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, 5. Aufl., Freiburg, Basel, Wien 1999 (Rez. 1. Aufl. 1987 v. U. Schnelle, ThLZ 113 [1988], 442 f.); U. Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese (UTB 1253), 5., völlig neubearb. Aufl., Göttingen 2000.
4) R. Heiligenthal u. a., Einführung in das Studium der evangelischen Theologie, Stuttgart, Berlin, Köln 1999; K.-W. Niebuhr [Hrsg.], Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung. In Zusammenarb. mit M. Bachmann u. a. (UTB 2108), Göttingen 2000.
5) H. Conzelmann/A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament (UTB 52), 13., bearb. Aufl., Tübingen 2000; J. Roloff, Neues Testament. Unter Mitarb. v. M. Müller (Neukirchener Arbeitsbücher), 7., vollst. überarb. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1999.
6) Eine Einführung in unterschiedliche neuere methodische Ansätze neutestamentlicher Exegese bietet der von S. Alkier und R. Brucker herausgegebene Aufsatzband: Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen, Basel 1998.
7) S. Anm. 1, 60.
8) S. Anm. 2.
9) S. Anm. 2.
10) S. Anm. 3.
11) S. Anm. 2.
12) Methoden der Literaturwissenschaft (DTb 397), Bern, München 1970, 5.
13) "Als Hauptaufgabe der T. [= Textlinguistik] ist zu betrachten die Beschreibung der Konstitution von Texten ..., der allgemeinen Prinzipien des Textaufbaus, die in den Bereich der Sprachkompetenz gehören ..., die Spezifizierung der Bedingungen von Textkohärenz" (T. Lewandowski, Linguistisches Wörterbuch Bd. 3 [UTB 300], 3., verb. und erw. Aufl., Heidelberg 1980, 989).
14) S. Anm. 2, 45.
15) S. Anm. 2, 10 f.
16) S. Anm. 2, 44.
17) S. Anm. 2, 45.
18) S. Anm. 2, 45.
19) S. Anm. 2, 20; vgl. 71. Die gegenteilige Ankündigung im Klappentext des Buches ist also irreführend.
20) S. Anm. 2, 20.
21) S. Anm. 2, 205.
22) S. Anm. 3, 22.
23) S. Anm. 2, 25.
24) S. Anm. 12, 5.
25) S. Anm. 2, 25; vgl. 27-30. Noch vor der (selbstverständlich exemplarischen) Erarbeitung der außerexegetischen Wirkungsgeschichte des Textes kann nach Meiser ein Arbeitsschritt erfolgen, der darauf zielt, sich die bisherige eigene Wahrnehmung des Textes bewusst zu machen (ebd. 25 f.).
26) S. Anm. 2, 27-29.82-89.177 f. Der Literarkritik - verstanden als die "Frage nach dem historischen Wachstum des Textes" (ebd. 27) - noch vorgeschaltet ist bei Fenske (abgesehen von einer "Vorbereitung der Auslegung" [ebd. 173; vgl. 23-25]) die Textkritik (ebd. 25-27.71-82.174-176), wie es der wohl unmittelbar einleuchtenden Konvention entspricht.
27) S. Anm. 2, 101-116. Auch bei Söding geht die Textkritik der Si-tuationsanalyse voran (ebd. 86-101).
28) S. Anm. 3, 76.
29) S. Anm. 3, 74-158.
30) Auch zu solcher Differenzierung nach Texttypen finden sich wertvolle Hinweise bei Egger, vgl. besonders die Ausführungen zur Analyse narrativer Texte (s. Anm. 3), 119-133.
31) Vgl. in der Kurzübersicht über die exegetischen Arbeitsschritte bei Fenske (s. Anm. 2), 41-54.
32) S. Anm. 2, 21 f.
33) Vgl. Egger (s. Anm. 3), dessen Hinweise zu diesem Punkt aber eher pauschal bleiben: Auch bei der synchronen Analyse sei "in allen Arbeitsschritten die Berücksichtigung der kulturellen Welt der Texte unabdingbar" (ebd. 76); auf Grund der zeitlichen und kulturellen Distanz seien darum "zum rechten Verständnis Zusatzinformationen unumgänglich notwendig" (ebd. 101).
34) Zur Berücksichtigung des zeitgenössischen kulturellen Wissens im Zusammenhang der Auslegung vgl. M. Titzmann, Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation (UTB 582), München 1977, 263-322.
35) S. Anm. 2, 63-65 (Zitat: ebd. 64).
36) Bei den möglichen Uneinheitlichkeitskriterien weist Meiser ausdrücklich darauf hin, dass diese nicht notwendig und zwingend zum literarkritischen Schnitt führen; eine Entscheidung könne erst "nach Durchgang durch die anderen Methodenschritte" getroffen werden ([s. Anm. 2], 65). "Es gilt zunächst, den Text in seiner jetzigen Gestalt zu verstehen - der letzte Redaktor hat ihn so und nicht anders uns zum Verstehen aufgegeben!" (ebd.).
37) S. Anm. 2, 97-101.
38) Bei der formgeschichtlichen Erarbeitung erzählender Texte empfiehlt Meiser, eine strukturale Textanalyse zu Hilfe zu nehmen, die er dann in Grundzügen skizziert ([s. Anm. 2], 98-101).
39) S. Anm. 2, 97 f.
40) Jedenfalls in den praktischen Hinweisen des Kapitels "Die formgeschichtliche Erarbeitung eines Textes" ([s. Anm. 2], 97-101) wird der Rückschluss auf vorausliegende mündliche Einzeltradition nicht mehr thematisiert; in den Ausführungen "[z]ur Geschichte der formgeschichtlichen Arbeit" (ebd. 84-90) meint Meiser allerdings, "in manchen Fällen" könne man "vorevangeliares Gut nicht nur postulieren, sondern auch nachweisen" (ebd. 90).
41) S. Anm. 2, 102. Vgl. auch den abschließenden Hinweis zur Durchführung der Redaktionskritik: "Ihre zusammenfassende Darstellung sollte den vermuteten Traditionsbestand benennen und die Eingriffe des Evangelisten mit Rücksicht auf sein Gesamtwerk beschreiben" (ebd. 108).
42) Statt von "Gattungen" spricht Egger von "Textsorten". Die "Analyse der Textsorten" ([s. Anm. 3], 146-158) bildet bei Egger den letzten Schritt im Rahmen der synchronen Analyse.
43) S. Anm. 3, 159.
44) S. Anm. 2, 49.
45) S. Anm. 2, 205.
46) Auf diese Gefahr rein synchron orientierter Textauslegung ist von Kritikern gelegentlich hingewiesen worden (vgl. z. B. H.-J. Klauck, Die Frage der Sündenvergebung in der Perikope von der Heilung des Gelähmten [Mk 2,1-12 parr], BZ NF 25 [1981] 223-248, 224 Anm. 4).
47) Dass beide Verfasser der Frage nach dem Autor Gewicht beimessen, wird man aus den jeweiligen Ausführungen zur Redaktionskritik bzw. Kompositionskritik schließen dürfen; vgl. Fenske (s. Anm. 2), 55 f. 146-159.192 f.; Meiser (s. Anm. 2), 102-108. Allerdings beschreibt Meiser in einem Unterabschnitt zur Redaktionskritik, "Erzählanalyse", ein Verfahren, das gerade nicht auf den Autor als Faktor der ursprünglichen Kommunikationssituation zielt (ebd. 106 f.). Bei Fenske richtet sich darüber hinaus ein eigener Arbeitsschritt auf den Rezipienten/die Rezipientin ([s. Anm. 2], 57-60.159 f.194). Dabei geht es ihm aber wohl weniger um die ursprünglich intendierte Adressatenschaft als Faktor der ursprünglichen Kommunikationssituation, sondern mehr allgemein um mögliche Rezeptionsweisen von mit dem Text zeitgenössischen Leserinnen und Lesern.
48) S. Anm. 3, 39.
49) Egger selbst verweist auf das unterschiedliche "Ausmaß der durch Rückschlüsse erschließbaren Kenntnisse" ([s. Anm. 3], 40), eigentümlicherweise verbindet er diese Einsicht aber nicht mit seiner These zur Notwendigkeit eines Gesamtbildes von den an der Textentstehung beteiligten Faktoren.
50) Vgl. Egger (s. Anm. 3), 186-189; Söding (s. Anm. 2), 238-243.
51) S. Anm. 2, 237. Im Unterschied zum ",realen'" Autor handelt es sich beim ",impliziten'" Autor um "jene[r] ,literarische[n]' Gestalt, als die sich der historische Verfasser im Text durch dessen Thema, Machart und Aussage präsentiert (Paulus z. B. als ,Apostel Jesu Christi' in seinen Briefen) oder als die ein Text einen Verfasser präsentiert, der nicht mit dem geschichtlichen Autor identisch ist (wie im Beispiel der Pseudepigraphie)" (ebd.). - Ob der Ausdruck "impliziter" Autor eine glückliche Bezeichnung des von Söding gemeinten Sachverhalts ist, kann man fragen. Schließlich kann der "implizite" Autor ja auch explizit im Text - als "ich"- vorkommen. Der Ausdruck "innertextueller" Autor wäre möglicherweise eindeutiger, aber Söding schließt sich in diesem Punkt einem verbreiteten Sprachgebrauch an.
52) "An der traditionellen Fixierung auf die Autorintention läßt sich mit Recht Kritik üben. Auch die Frage, wieviel ein Text von seinem Autor verrät oder verbirgt, muß gestellt werden" ([s. Anm. 2], 237). Im Zusammenhang des Rückschlusses auf die empirischen Adressaten bekommt die Skepsis mehr Gewicht: "Die große Schwierigkeit liegt darin, daß in der Regel kein unmittelbares Leser-Echo zu hören ist" (ebd. 241). Zu letzterem Punkt vgl. auch Egger: "Freilich kennen wir die Gemeinden nur durch die neutestamentlichen Texte selbst; die Gemeinden existieren also für den Leser nur mittelbar, als ,gedeutete und vertextete Gemeinde(n)'" ([s. Anm. 3], 188).
53) S. Anm. 2, 45.