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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

471–488

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Rieske-Braun, Uwe

Titel/Untertitel:

Vom Wesen des Christentums und seiner Geschichte - Eine Erinnerung an Adolf Harnacks Vorlesung (1899/1900)1

1. Resonanzen

Harnacks Vorlesung über das "Wesen des Christentums" ist nicht nur die meistgelesene Schrift des populären Kirchenhistorikers. Sie zählt auch zu den anregendsten deutschsprachigen theologischen Monographien im 20. Jahrhundert. Ihre Veröffentlichung basiert bekanntlich auf der Mitschrift einer im Wintersemester 1899/1900 gehaltenen Vorlesung vor Hörern aller Fakultäten.2 Von Harnack geringfügig überarbeitet und mit einem Vorwort versehen, ging das Manuskript am 7. Mai 1900 bei der Hinrichs’schen Verlagsbuchhandlung in Leipzig ein3 und wurde zunächst in 5.000 Exemplaren gedruckt.

Bereits im Monat darauf waren diese vergriffen, im Jahr darauf veröffentlichte der Verlag bereits die sechste Auflage.4 Damit begann der immense öffentliche Erfolg eines Buches, das
mannigfach nachgedruckt, übersetzt, rezensiert und analysiert worden ist: Im April 1903 waren 50.000 Exemplare von Harnacks Vorlesungen verkauft - nicht eingerechnet die Übertragungen in schließlich 16 Sprachen.5 Auch die Übersetzungen erlebten mehrere Auflagen, zahlreiche Reaktionen erschienen auch in Frankreich, Skandinavien, Nordamerika und England.6 Die lebhafte und kontroverse Debatte um das Wesen des Christentums kulminierte in den ersten Jahren des 20. Jh.s, wurde in Deutschland durch die 1950 von Rudolf Bultmann publizierte Neuauflage nochmals angeregt7 und dauert bis in die Gegenwart an.8 Der Impuls dieser Veröffentlichung Harnacks zeitigte ein Echo, das über den innerprotestantischen Richtungsstreit zwischen der konservativ-positiven und der kulturprotestantisch offenen, modern-liberalen Theologe weit hinausging.9 Harnack hatte offenkundig einen Nerv im Lebensgefühl der Jahrhundertwende getroffen.

Ein interessantes Spektrum zeigen ihrerseits die brieflichen Reaktionen, die sich verstreut in Harnacks Nachlass finden. Prompt, aber recht nüchtern reagierte am 29. Juni 1900 der prominente Alttestamentler Julius Wellhausen aus Göttingen auf die Zusendung eines Freiexemplars.10

"Vielen Dank für das Wesen des Christentums, das Sie mir freundlich übersandt haben. Sie wissen, daß ich in der Hauptsache mit Ihnen übereinstimme. Der Ausdruck ist wohl bedingt durch die Form der populären Vorlesung, er ist mir ein wenig zu enthusiastisch und breit, ich liebe auch die Citate nicht. Die meisten Leser werden aber ganz anderen Geschmack haben, und für mich haben Sie ja nicht schreiben wollen.

Der alte Kant drückt sich (an Lavater) so aus: ,Das Wesentlichste von der Lehre Christi ist, daß er die Summe aller Religion darin setzt, rechtschaffen (alio loco: von der reinsten Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens) zu sein, im Glauben, daß Gott alsdann das übrige Gute, was nicht in unserer Gewalt ist, ergänzen werde.’

Das unterschreibe ich Ihr Wellhausen G. 29.6.1900"11

Während Wellhausen eine souveräne und spröde Reserve gegen wissenschaftliche Popularisierung hegte, reagierte der Jenenser Professor für Praktische Theologie Paul Drews enthusiasmierter. Im Brief vom 8. Juli 190012 klingt jener Tenor an, der die nachfolgende Besprechung in der Christlichen Welt vom 15. November 1900 dominiert.13 Drews nahm Harnacks Buch als Fanal für den kulturprotestantischen Versuch, das religiös interessierte, aber der Kirche entfremdete Bürgertum zurückzugewinnen:

"Das ist ein Buch, wie wir es seit langem für unsere suchenden Gebildeten - und derer werden es ja Gott sei Dank immer mehr - gebrauchen. Weithin wird es Beachtung finden gerade in den Kreisen, für die es bestimmt ist ... So lange solche Bücher geschrieben werden, so lange so zu unserer Jugend geredet wird, steht es nicht schlecht um unsere evangelische Kirche - trotz allem. Es wird sich ein weiter Kreis von Gesinnungsgenossen um dieses Buch scharen, das wie ein Programm wirken wird. Denn obwohl es geschichtlichen Charakter trägt, steht es mitten in den gegenwärtigen Zeitfragen und gibt klare und scharfe Richtlinien für die Zukunft. Und das Alles so kurz, so scharf, so klar und so ernst. "

Neben Ernst Troeltsch,14 Heinrich Holtzmann,15 Georg Heinrici16 und anderen17 dankte auch Ernst von Dryander dem Verfasser für ein Freiexemplar: Er hätte die Vorlesungen "gern nicht gedruckt gesehen; aber nur aus dem Grunde, damit Sie sie noch öfters halten könnten".18 Wilhelm Herrmann anerkannte in einem Brief vom 16.11.1900 die konzeptionelle Stimmigkeit des Buches, obgleich sein Brief auf Einwände und Kritik aus dem Marburger Umfeld anspielt.19

Der enorme Erfolg der Vorlesungen Harnacks verdankte sich auch seiner streitbaren Popularität und der anerkannten kirchenhistorischen Qualifikation: Im Deutschen Kaiserreich war er zweifellos "ein Stern erster Ordnung am Wissenschaftshimmel".20 Integrative Kraft und wissenschaftliches Sendungsbewusstsein verriet bereits die gemeinsam mit Emil Schürer betriebene Gründung der Theologischen Literaturzeitung 1875/76, in der nicht weniger als "das gesamte theologische Schrifttum durchgeprüft und rezensiert werden sollte".21 Neben dem umstrittenen Lehrbuch der Dogmengeschichte, das 1894 bereits in dritter, erneut umgearbeiteter Auflage erschienen war,22 zeugte eine Fülle von kirchenhistorischen Editionen und Publikationen von einer immensen wissenschaftlichen Arbeitskraft, die auch Kritiker anerkannten.23 Harnacks beeindruckende Karriere profitierte seit dem publizitätsfördernden Wechsel nach Berlin (1888) von der Protektion, die in der Prosperität der Wilhelminischen Ära neben den neu eingerichteten Polytechnischen Hochschulen auch den Geisteswissenschaften zuteil wurde.24 Publikationen und Vorträge Harnacks entsprachen dem historistischen Zeitgefühl des protestantischen Wilhelminismus und seinem Bildungsinteresse. Seine wissenschaftliche Kooperationsfähigkeit und Leitungskompetenz in der mit der Edition der "Griechischen Christlichen Schriftsteller" befassten Kirchenväter-Kommission, die Bereitschaft zur Interdisziplinarität in der preußischen Akademie der Wissenschaften,25 aber auch eine mit charakterlicher Integrität gepaarte positionelle Klarheit und Streitbarkeit in Kontroversen wie dem Apostolikumstreit 1892/9326 wecken bis heute Interesse.

Seine wirkungsträchtigste Veröffentlichung enthält über diese Charakteristika hinaus ein eigenes theologisches Programm. In ihr bündelt sich nicht allein eine kirchenhistorische "Besinnung über das, was das 19. Jahrhundert erarbeitet hatte".27 Mit Winfried Döbertin lässt sich Harnacks "Wesen des Christentums" als dessen "zentrale theologische Aussage" bezeichnen.28

2. Konzept und theologiegeschichtlicher Hintergrund

"Gottfried Arnold schrieb 1699, Schleiermachersche Reden 1799, ich diese Vorlesungen 1899", notierte Harnack auf dem ersten des fünf Blätter umfassenden Konzeptes seiner Vorlesung. Es enthält Gedanken und Aphorismen, die teilweise in seine Vorlesung eingeflossen sind, darunter auch jene zahlreichen, von Wellhausen abschätzig beurteilten, aus dem Gedächtnis wiedergegebenen "Citate".29 Die theologiegeschichtliche Genealogie, in die Harnack sich mit der wohl später eingefügten Notiz einreihte, hat er öffentlich nicht anklingen lassen. Sie beleuchtet gleichwohl das Interesse seiner Vorlesung: Intendiert war eine unparteiische, nicht kirchlich-konfessionell orientierte Sicht eher der "Kirchen-" als der "Ketzerhistorie",30 vorrangig für das Zielpublikum des religiös interessierten Berliner Bürgertums, an das sich 1799 bereits Schleiermacher gewandt hatte.31 Harnack suchte und wagte Popularität. Eine weitere Notiz im Konzept bezieht sich auf den Dresdener Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhard (1753-1812): "Das Klassische, das Zopfige, das Sentimentale versteht d. Volk und das Romantische, so ist ihnen die Religion entfremdet worden. Predigten wie die Reinhardtschen (sic!) würden auch heute wirken."32

Die Vorlesungen orientierten sich bewusst am Interesse der Zeitgenossen. Das Konzept listet zehn Themen auf,33 die aktuelle Konflikte im Spannungsfeld von Kirche, Konfessionalität, Gesellschaft und Wissenschaft betreffen.34 Darunter sind Fragen der Kirchenverfassung neben der Schulproblematik zu finden, aber neben Bekenntnisfragen und der sozialen Problematik auch Aufgaben der Inneren und Äußeren Mission. Im vorläufigen "Stundenkonzept" wollte Harnack nach einer Einleitung zunächst den "inneren Gang der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts" darstellen, bevor das Verhältnis von Bildung und Christentum, von Union und Konfession, Verfassungsfragen, die soziale Frage und die Innere Mission folgen sollten.35 Diesem ersten Aufriss hat Harnack später nicht entsprochen, auch wenn Themen des ersten Entwurfs in der Vorlesung wiederbegegnen.

Die Veröffentlichung disponiert anders. Kirchliche Konfliktfelder und Christentumsgeschichte werden bezogen auf eine unverbrauchte, im geschichtlichen Wandel konstante Idee vom "Wesen des Christentums", die "immer gültiges in geschichtlich wechselnden Formen" enthält und sich wie der überzeitliche Kern aus den zeitbedingten Schalen lösen läßt:36 "Jesus Christus und sein Evangelium". Das "Wesen des Christentums" läßt sich für Harnack erheben aus den Anfängen der Christentumsgeschichte, vorrangig aus der "Verkündigung Jesu nach ihren Grundzügen" und dies allein "mit den Mitteln der geschichtlichen Wissenschaft und mit der Lebenserfahrung, die aus erlebter Geschichte erworben ist".37 Die Ermittlungen wenden sich auf das Evangelium selbst, das dank der im 19. Jh. entwickelten historisch-kritischen Wissenschaft in bislang ungekannter Authentizität aus der Verkündigung Jesu gewonnen werden kann.

Die ersten sechs Kapitel beziehen dieses Evangelium auf die aktuellen Probleme,38 bevor der zweite, geschichtlich orientierte Teil "Das Evangelium in der Geschichte" präsentiert. Dieser historisch deskriptive Teil bietet eine popularisierte Dogmenkritik, die sich an die differenzierte und ausführliche Darstellung im Lehrbuch der Dogmengeschichte anlehnt.39

Von der zunächst geplanten Übersicht über theologische Positionen des 19. Jh.s blieb in Harnacks Vorlesungsreihe lediglich die Abgrenzung gegen die apologetische und die religionsphilosophische Wesensbestimmung des Christentums.

Allein damit nahm er die theologiegeschichtliche Suche nach dem Wesen des Christentums auf, die im Pietismus und in der Aufklärungstheologie des 17. und 18. Jh.s angelegt worden war.40 Nach den Reden Friedrich Schleiermachers von 1799, François Auguste René Chateaubriands "Genie du christianisme ou beauté de la religion chrétienne" (1802), das 1844 in deutscher Übersetzung erschienen war41 und den Anregungen, die die ältere Tübinger Schule Gottlob Christian Storr (1746-1805) verdankte,42 hatten im Vormärz die radikale Christentumskritik Ludwig Feuerbachs und die Publikationen David Friedrich Strauߒ eine Auseinandersetzung um das Wesen des Christentums heraufgeführt. Feuerbachs Schrift von 1841 "Das Wesen des Christentums"43 bezeichnete die christlichen Dogmen bekanntlich als illusionäre Projektionen des menschlichen Geistes. Neben dieser kritisch-emanzipatorischen Wesensbestimmung der christlichen Religion44 provozierten David Friedrich Strauߒ Publikationen, an die später Friedrich Nietzsche anknüpfte.45 Auf Strauߒ Darstellung des "Lebens Jesu"46 folgte seine "christliche Glaubenslehre"47. Hier begegnen neben der konsequenten Mythos-Kritik auch Ansätze zu einer relativierenden Betrachtung der Dogmengeschichte, die Harnack aufnahm und differenzierte: "Die wahre Kritik des Dogmas ist seine Geschichte".48

Aber auch weniger prominente Darstellungen wandten sich nach 1840 auf die Frage nach zentralen Inhalten der christlichen Religion. Angeregt durch die linkshegelianischen Wesensbestimmungen publizierte der evangelische Vermittlungstheologe Karl Ullmann 1845 eine Schrift, in der er den spezifischen Charakter der christlichen Religion ebenfalls unter deutlicher Rezeption des Hegelschen Entwicklungsgedankens darzustellen suchte. Seine Schrift zeigt im methodischen Ansatz und Verfahren durchaus Parallelen zur Harnackschen Wesensbestimmung: Auch Ullmann ging davon aus, dass sich eine annähernd gemäße Bestimmung vom spezifischen "Wesen des Christentums" erst im Licht der neueren theologiegeschichtlichen Entwicklungen, in der Konzentration auf dessen Geschichte und auf die Persönlichkeit Jesu vornehmen lasse.49

Ullmann ging zunächst theologiegeschichtlichen Wesensbestimmungen des Christentums nach. Ein tieferes Verständnis für die Eigenart des Christentums sei erst mit der Aufklärung erwacht: "man wollte also das Christenthum in seinem Verhältnisse zu andern Religionen, in seiner weltgeschichtlichen, menschheitlichen Stellung wahrhaft begreifen, man wollte es zum Theil dadurch auch gründlich rechtfertigen. In diesem Sinne sind seit ungefähr einem halben Jahrhundert zahlreiche Abhandlungen über Geist und Wesen des Christentums geschrieben worden." (5) Infolge dieser Bemühungen könne man nunmehr "den unterscheidenden Charakter des Christenthums behandeln, d. h. das, was das Christenthum im Unterschiede von jeder andern Religion zu dem macht, was es ist, und ihm sein besonderes Gepräge giebt. Man kann dieß auch das Eigenthümliche, das Specifische oder, wenn man will, das Wesen des Christenthums nennen." (6) Das Spezifikum des Christlichen aber zeige sich erst in seinem geschichtlichen Werden: "Diese Entwicklung, weil sie die eines endlichen, dem Irrthum und der Sünde unterworfenen Geistes ist, bewegt sich nicht in stetiger, überall gleichmäßiger Richtung dem Ziele entgegen, sondern sie geht durch verschiedenartige, oft mangelhafte oder verfehlte Versuche, durch Einseitigkeiten und Gegensätze hindurch, aus deren Kampf und höherer Versöhnung, aus deren richtiger, lebendiger Zusammenfassung erst die volle Wahrheit ans Licht tritt." (9 f.) Das Zentrum des Christentums, auf dessen Erkenntnis die Theologiegeschichte seiner Wesensbestimmungen hindränge, aber sei Christus selbst in seinen beiden Naturen: "das, was das eigenthümliche Seyn Christi constituirt, ist die vollkommene Einheit des Göttlichen und Menschlichen in seiner Person. Was Christum zu dem macht, der er ist, und ihm seine höchste Bedeutung für die Menschheit giebt, liegt darin, daß in ihm Gottheit und Menschheit vollständig zusammengekommen und eins geworden sind; dieß ist der letzte Quellpunkt des Christenthums und dieß ist es auch, was demselben in eminenter Weise seinen unterscheidenden Charakter aufprägt." (40) Dieser zeige sich aber auch in der Dialektik von Sünde und Gnade, bzw. darin, daß das Christentum eine Erlösungsreligion sei, die auf die erneuerte Gemeinschaft mit Gott ziele (64). Zentrum des Christentums sei Christus als Erlöser und Versöhner, der seine Liebe zeige als eine "nicht bloß andeutende, symbolische, sondern eine reelle Offenbarung göttlicher Liebe und Gnade. Darum müssen wir alles wieder zusammenfassen in der Persönlichkeit Christi, welche, Wahrheit, Liebe, Geist und Leben ausströmend nach allen Seiten, Gott erkennen läßt in dem Menschen und den Menschen in Gott, und eine Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch gestiftet hat, wie das tiefste Verlangen des menschlichen Geistes sie sucht und fordert, aber sonst nirgends findet." (76)

Um die Mitte des 19. Jh.s veröffentlichten auch August Tholuck, Wilhelm Martin Leberecht de Wette und andere Theologen50 eigene Versuche, das "Wesen des christlichen Glaubens"51 zu bestimmen oder "die vornehmsten Glaubensfragen der Zeit" zu klären.52 Später bestimmte der lutherische Theologe Christoph Ernst Luthardt seinerseits "Grundwahrheiten des Christentums".53 Albrecht Ritschls "Unterricht in der christlichen Religion" fasste zentrale Aspekte des Christentums für den Religionsunterricht an den Gymnasien zusammen,54 wofür ihm Harnack hohe Anerkennung zollte.55 Aus dem Kreis der Ritschl-Schüler veröffentlichte Julius Kaftan 1881 eine Schrift über "Das Wesen der christlichen Religion".56





3. Zum Inhalt

Indem Harnack entschieden auf der geschichtlichen Erkenntnis insistierte, nahm er den Ertrag des 19. Jh.s auf und suchte zugleich gegenüber den voraufgehenden Entwürfen einen theologiegeschichtlichen Neuansatz. Seine Vorlesungen zeigen deutlich die positivistische und wissenschaftsoptimistische Orientierung, die den Mainstream des zeitgenössischen Historismus kennzeichnet.57 Offen tritt hier aber vor allem das auch anderen historistischen Geschichtskonzeptionen eignende Interesse an Sinnstiftung und religiöser Orientierung zu Tage, das unter der wissenschaftlich-objektivierenden Distanznahme verborgen liegt.58 Wissenschaftliche historische Arbeit, so betonte Harnack andernorts, begnüge sich keineswegs mit der empirischen Erkenntnis und ihrer Erweiterung im "Feststellen, Analysieren und Ordnen".59 Es sei für einen Historiker die höchste Aufgabe, in den Epochen, Institutionen und Phänomenen der Vergangenheit "das Bleibende und Wertvolle festzustellen", also "das Wesentliche zu ermitteln".60 Diese Zielvorgabe galt hier den Hauptzügen des geschichtlich entfalteten Christentums.

Aufgenommen wurde damit die Dogmenkritik seines Lehrbuches der Dogmengeschichte. Für deren Begründung profitierte Harnack bekanntlich vor allem aus Ritschls Darstellung von der "Entstehung der altkatholischen Kirche",61 der seinerseits die Impulse Ferdinand Christian Baurs eigenständig weiterentwickelt hatte.62

Die Vorlesungsreihe wandelte geschichtliche Diagnose und provozierende Dogmenkritik in einen religiösen Impuls. Im 2. Jh. habe sich, so Harnack unter Verweis auf Irenäus und Tertullian, "das Wesen der Religion gespalten" und darin liege "die verhängnissvollste Wendung in der Geschichte des Christenthums!"63 Der durch Hellenisierung und Institutionalisierung des Christentums bedingte Hiatus zwischen kirchlicher Lehre
und christlicher Gesinnung erscheint an der Wende zum 20. Jh. überwindbar. Die Kenntnis der geschichtlichen Bedingtheit von Glaubensregel und Dogma begründet ein entschiedenes Plädoyer, das seine argumentative Kraft aus der historisch-kritisch ermittelten Reinform des ursprünglichen Evangeliums Jesu gewinnt: Angestrebt wird eine in der Moderne überzeugende und attraktive Erneuerung der ursprünglichen Einheit christlichen Glaubens und Lebens, ausgehend von einer Neuentdeckung des "Evangeliums im Evangelium", das vom Dogma überfremdet worden ist. Die unverstellte Selbstevidenz des christlichen Propriums ließ sich für den Kirchenhistoriker am ehesten in der geschichtlichen Perspektive wahrnehmen, die sich freihält von interpretierenden Einträgen, institutionellen Interessen und dogmatischen Fixierungen.

Aufgenommen werden damit Erträge der zeitgenössischen Studien etwa von Emil Schürer,64 Johannes Weiß65 und Wilhelm Bousset,66 die den Charakter der Predigt Jesu aus der Kenntnis des zeitgenössischen Judentums bestimmt hatten. Harnack äußerte Vorbehalte gegen eine Exegese, die die Spezifika der Botschaft Jesu vor allem aus ihren Übereinstimmungen mit der "spätjüdischen" Eschatologie bestimmen wollte. Diese Kritik bezog der Marburger Neutestamentler Weiß gewiss mit einigem Recht auf sich, wie der Brief Wilhelm Herrmanns zeigt:67 "Weiß ist sehr traurig, weil er meint, Du hättest bei dem das Eigenständige weghebelnden Historiker an ihn gedacht."68 Das Proprium der Predigt Jesu69 hob Harnack ab vom zeitgenössischen Judentum - trotz aller einzuräumenden Übereinstimmungen.70 Namentlich in den Gleichnissen Jesu begegne auch eine neue Qualität gegenüber der - mit Wellhausen71 - positiver beurteilten Prophetie: Es zeige sich "eine innere Freiheit und Heiterkeit der Seele inmitten der höchsten Anspannung, wie sie kein Prophet vor ihm besessen hat."72 Auch die Mahnungen des Täufers habe seine Predigt "weit hinter sich zurückgelassen".73 Jesu Botschaft sei zugleich einfach und doch reich gewesen, zudem: "Hinter jedem Spruch steht er selbst."74 Über Jahrhunderte hinweg sei ihre Wirkung ungebrochen.

Von der hellenischen Philosophie zeige sich Jesus unbeeindruckt.75 Erst in der zweiten und dritten christlichen Generation seien die christologischen Reflexionen über Gottessohnschaft und Präexistenz Christi sekundär an das Evangelium
herangetragen worden: "Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie Jesus es verkündigt hat, hinein."76

Mit der Kritik am Dogma verband sich die am griechischen und römischen Katholizismus: Seit die vom Papst geleitete Kurie im Abendland das Erbe des römischen Weltreiches angetreten habe und sich als "äußeres Kirchentum mit dem Anspruch auf göttliche Dignität" darstelle, fehle "jeder Zusammenhang mit dem Evangelium. Es handelt sich nicht um Entstellungen, sondern um totale Verkehrung."77 Der Protestantismus habe mit der Konzentration auf das Wort Gottes und den Glauben diese Fehlentwicklung zunächst korrigiert, dann aber seinerseits eine doktrinäre Kirchenlehre ausgebildet und die Freiheit des Evangeliums beschnitten; in evangelischen Landeskirchen seien die daraus gegebenen "Folgen der Selbstverblendung und Intoleranz" anzutreffen: Mit seiner kirchlichen Lehrfixierung drohe "der Protestantismus zu einer kümmerlichen Doublette des Katholizismus zu werden."78

Das Wesen des ursprünglichen Christentums hob sich für Harnack damit von vier Negativfolien der institutionell verfestigten Religion ab: Vom Judentum, vom griechischen und römischen Katholizismus und vom konfessionellen Protestantismus. Die geschichtlich entwickelte Gestalt der Kirche zeige lediglich verfremdet und verfestigt, was in der Predigt Jesu unmittelbar lebendig hervortrete: "Erstlich, das Reich Gottes und sein Kommen, Zweitens Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele, Drittens, die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe."79 Im Vorlesungskonzept hatte Harnack diese "drei Hauptgebiete in der Predigt Jesu" noch vorläufig skizziert: "1) Die Reichspredigt und Eschatologie 2) Das neue Bewußtsein der Gottessohnschaft. Die rührenden Elemente. 3) Das neue Gebot".80 Diesen durchaus variabel bestimmbaren,81 bewegenden Kern des Christentums suchte er in dessen Geschichte aufzuspüren, um ihm neue Geltung zu verleihen - im Interesse an einem erneuerten, modernen Christentum, das sich auf seine Ursprünge besinne.

Es sind jene an die Predigt Jesu angelehnten Partien in der Harnackschen Vorlesungreihe, in denen eine tief empfundene lebendige Religiosität ihren unbefangenen Ausdruck findet und dem Buch seine anregende Wirkung verleiht. Harnacks Überzeugung von einer überzeitlichen elementaren Bedeutung des Evangeliums selbst ermutigte zum eigenen Nachdenken über die christliche Religion und ihre Bedeutung, die "im Tiefsten" des Menschen angelegt sei und keineswegs obsolet auch dort, "wo das religiöse Prinzip nach seiner Vertreibung aus den meisten Kirchen" sich in andere Formen kleide oder aber heimatlos geworden sei.82

4. Wirkungen

Das unübersehbare Echo auf Harnacks Vorlesung, das über den innerprotestantischen Kontext und deutschen Sprachraum weit hinausging, zeigte eine ambivalente Resonanz: Gewürdigt wurde weithin die religiöse Anregung, die seine Vorlesung enthielt - auch dort, wo sie kritisch beurteilt wurde.83 Zum Anlass der Kritik aber wurde die Verflechtung von historischer Methode, Kirchenkritik und religiösem Plädoyer. Harnack hatte das historistische Wissenschaftskonzept beansprucht, für dessen erkenntnisfördende Leistungsfähigkeit sein Name stand, um ein pointiertes religiöses und institutionenkritisches Plädoyer zu begründen, das er zugleich zielgenau als "das Wesen des Christentums" betitelte.

Die methodisch-konzeptionelle Problematik dieses Verfahrens bemerkte etwa George A. Gordon, dessen Brief vom 15.4. 1902 an Rev. Fritzemeier in Watertown/Wisconsin84 den kulturprotestantischen Optimismus Harnacks kritisch herausstellte. Harnack habe die bleibende Kulturgebundenheit des Christentums wie seiner eigenen Wesensbestimmung unterschätzt:

"He proceeds to disengage the original in the Gospel from the elements that have been added from the world’s culture. He seems to assume that Christianity in entering into combination with the culture of the world is largely taking into its life an alien product, and indeed a body of error. If this is true the question arises, why does it not hold true of his own method?" Auch Harnack betrachte das Christentum durch die Folie der Kultur seiner Zeit: "Through scientific conceptions, through the new idea of historical development, through what is known as the ’Higher Criticism’, and through Kantian and Lotzes philosophies, Harnack looks upon original Christianity. He assumes for his purposes that the culture of his time is exact knowledge and that all in Christianity that does not agree with the culture of the time must be accidental and perishable. The question arises whether a new age with a new culture will not invalidate Harnack’s result, using his method, as completely as he would have the world believe that his analysis invalidates ancient Christianity."

Ähnlich hielten im deutschen Sprachraum positiv-lutherische Theologen wie Wilhelm Walther und Hermann Cremer85 den Ansatz Harnacks für verfehlt: Aus der historischen Perspektive sei es unmöglich, das "Bleibende und das Vergängliche", das "Wertvolle und Wertlose" am Christentum zu unterscheiden. Als Historiker, der wissenschaftlich-objektive Neutralität beanspruche, habe sich Harnack eine "völlig unlösbare Aufgabe" gestellt, seine Wesensbestimmung sei nicht von historischer Methodik, sondern von dogmatischen Prämissen bestimmt.86 Es sei absurd, wenn Harnack in der vorösterlichen Verkündigung Jesu das Evangelium im Evangelium suche und die Frage der Christologie für eine geschichtlich zweitrangige Entwicklung erkläre. Das Christentum sei vielmehr von Beginn an nichts anderes als eine bekennende Religion, die Jesus als den Christus bezeuge. Diese von Beginn an vorhandene Christologie entfalte und differenziere sich in den Dogmen und Bekenntnissen der Kirche.

Die prominenten Einwände des französischen Reformkatholiken Alfred Loisy führten den Modernismusstreit im Katholizismus herauf.87 Loisy erkannte in Harnacks historisierendem Verfahren spezifisch protestantische Voraussetzungen: Aufgrund historischer Wahrnehmung lasse sich nicht begründen, warum der Maßstab für das Wesen des Christentums im Urchristentum zu suchen sei. Harnacks Destillat eines "Evangeliums im Evangelium" aus der Predigt Jesu sei zudem willkürlich entworfen. Er verleugne die Kontinuität Jesu zum Judentum,88 verkenne den eschatologischen Charakter seiner Predigt und reduziere das anpassungsfähige, sich in unterschiedlichen geschichtlichen Gestalten entwickelnde Christentum auf eine recht willkürlich konstruierte Urgestalt. Vor allem aber begegne das Wesen des Christentums nicht platonisierend als eine unveränderliche Idee, die dessen geschichtlichen Entfaltungen zu Grunde liege. Das frühe Christentum gleiche vielmehr dem Samenkorn in der Parabel, in dessen Keim der Baum angelegt war, "den wir kennen". Das Wesen des Christentums zeige sich in seiner vielfältig verästelten geschichtlichen Wirklichkeit, in den Entfaltungen, eben "in der Totalität der lebendigen Kirche und ihrer Betätigungen."89



Die pointierteste Kritik äußerte bekanntlich der seinerzeit in Oppeln tätige jüdische Rabbiner Leo Baeck.90 Harnack habe den historischen Maßstäben, die er mit Emphase auf sein Panier gesetzt habe, seinerseits nicht entsprochen. Er nehme das für einen modernen Christen Wertvolle am Christentum für dessen Wesen und projiziere ein Wunschbild auf die historischen Anfänge des Christentums. Das Ergebnis sei kein Ergebnis historischer Wissenschaft.91 Es sei, so Baeck, selbstverständlich, "dass der Historiker nicht nur erzählt, sondern auch urtheilt, sogar Parthei ergreift, vertheidigt und verdammt, aber er darf nicht sein Urtheil mit dem der dargestellten Zeit verwechseln."92 Harnack habe den einfachsten Prinzipien der historischen Wissenschaft zuwidergehandelt, mehr noch: er habe zugleich "sich selbst mit Jesus verwechselt".93 "Es ist Herrn Harnacks religiöses Bekenntnis, das uns dargestellt wird, und jedermann wird ihn dessenthalb achten. Aber deshalb Herrn Harnacks Religion auch für die Religion Jesu erklären zu wollen, das ist geschichtlich jedenfalls nicht."94

Gegenüber dieser scharfen Kritik hielt Ernst Troeltsch an seinem Urteil fest, der immensen Resonanz auf Harnacks Buch entspreche ein hohes Maß an Plausibilität in dessen gedanklichem Ansatz.95 In der Moderne lasse sich das Wesen des Christentums kaum anders als "rein historisch" ermitteln.96 Harnacks Methodik sei aber nicht nur zeitgemäß, sondern entspreche der Sache, weil nur in der geschichtlichen Perspektive die selbstevidente Kraft des Christentums zur Geltung gelange: "Das ,Wesen’ kann nur gefunden werden aus dem Ueberblick über die Gesamtheit aller mit diesem Gedanken zusammenhängenden Erscheinungen, und seine Auffindung erfordert die Uebung der historischen Abstraktion, die Kunst der das Ganze zusammenschauenden Divination, zugleich die Exaktheit und Fülle des methodisch bearbeiteten Einzelmaterials."97

Doch sei auch der geschichtlich-induktiv begründete Abstraktionsbegriff vom Wesen des Christentums - wie alle anderen - seinerseits dem geschichtlichen Wandel unterworfen:98 Jede Wesensbestimmung sei geschichtlich relativ und als solche zugleich Wesensgestaltung. Immerhin: der "Zauber an dem Harnackschen Buch" bestehe darin, dass es "die Arbeit des ungewöhnlich erfolgreichen Historikers mit der charaktervollen Auseinandersetzung des Christen gegenüber den verschiedenen Strömungen des religiösen und irreligiösen modernen Gedankens" verbinde. Harnacks Entwurf habe das Problem zutreffend bezeichnet und bleibe lehrreich auch dann, "wenn man seinerseits das Wesen etwas anders versteht."99

5. Resümmee

Die pluriformen Reaktionen auf Harnacks Vorlesungen spiegeln das religiöse und konfessionelle Spektrum an der Jahrhundertwende; Protestanten, Katholiken und Juden aus verschiedenen Nationen ließen sich von Harnack zu eigenen Wesensbestimmungen anregen. Der attraktive Impuls dieser Vorlesungsreihe bündelte sich dabei aus vier Teilaspekten: Der Offenlegung einer subjektiven religiösen Überzeugung, die mit einer geschichtlichen Perspektive verbunden wurde, auf die positiv, aber kirchenkritisch beantwortete Identitätsfrage des Christentums zielte und zugleich mit Gespür auf aktuelle Gegenwartsfragen einging.

Die kirchenkritischen Spitzen veranlassten Adolf Stoecker zur Forderung einer konfessionellen Trennung der beiden evangelischen Richtungen,100 brachten in die Debatte aber zweifellos eine belebende Schärfe, wie der New Yorker Independent konstatierte:101 "the impeteous, brilliant and warmheated reconstruction of Harnack is decidedly refreshing, even for those who disagree with him in principles, processes and results."

Gewiss bewegte sich Harnacks Vorlesungsreihe weitgehender als annonciert in den Bahnen, die er mit der geschichtlich orientierten Wesensbestimmung hatte verlassen wollen, nämlich in der apologetischen und in der religionsphilosophischen; der Entwicklungsgedanke, der das Christentum aus den Anfängen und seinem Prinzip zu bestimmen sucht, zeigt zudem unverkennbar das Erbe des Idealismus.102 Indem Harnack das Proprium des Christentums als Einheit von Lehre und Leben bestimmte, nahm er die Perspektive des Pietismus auf und mit der Suche nach seinem konfessionsübergreifenden Proprium die der Aufklärungstheologie.103 In diesen Momenten ist seine Wesensbestimmung - wie Loisy zutreffend bemerkte - eine spezifisch protestantische, in der das Erbe der Reformation und wohl auch Momente der baltisch-lutherischen Frömmigkeit fortwirken, ohne daß ein Faible für die paulinisch-lutherische Dialektik von Sünde und Gnade deutlich würde.104 Und dennoch: Aus Harnacks Vorlesungen ist ein lebendiges, für Zeitfragen offenes und in seiner entschlossenen Popularisierung anregend gewagtes Buch entstanden, in dem sich die kirchenhistorische Perspektive aus einem religiösen Anliegen entwickelt; Harnacks zielgenaues Plädoyer für das Evangelium "des Gottes, den Jesus Christus seinen Vater genannt hat, und der auch unser Vater ist",105 bleibt in seinem klaren methodischen Ansatz und in seiner Sprachkraft zweifellos ein genialer Entwurf. Sein Esprit verrät neben der religiösen Empathie für die "Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen"106 ein mit eminenter Wahrnehmungskraft gepaartes Bildungsinteresse, das aus einer engagierten eigenen Verstehensbemühung erwächst.

Harnacks klassische Vorlesungen zeigen: Am Ende erweisen sich wissenschaftliche Historiographie und die von ihr profitierende Theologie an ihrem Lebenswert. In keiner anderen Perspektive hätte diese unverbrauchte Evidenz deutlicher aufscheinen können als in der Kirchengeschichte. Harnacks Denkbewegung entwickelt eine unabweisbare Logik: Die Bemühung um die Geschichte des Christentums erwächst aus der Suche nach seinem inspirierenden, lebendigen Proprium - das seinerseits Interesse weckt an einer eminenten Geschichte.

Summary

Harnack’s printed lectures "What is Christianity?" can be ranked amongst the most exciting theological monographs to be published in the Twentieth century. This can be seen in the numerous editions, in translations in some 16 languages, and in widespread public reaction in books and correspondence. All exemplify the plural religious spectrum around 1900 visible both in Protestant Germany and elsewhere. Letters to Harnack stressed the stimulating religious impulse connected with his perspective on Christianity’s historical development, and Harnack’s lively sense of contemporary issues. Reviews criticized the cultural context of Harnack’s historical-inductive method which, it seemed, overestimated by far objectivity in historical judgement.

Harnack’s lectures were also criticized for their similarity to his ’classic’ criticism of Christian doctrine in his Handbook of the History of Christian Doctrine: namely, that the historical recognition of the historical context of doctrines allows for a new unity in Christian teaching and religious life; that following the preaching of Christ makes one first aware of the substance beneath the institutionalized forms of contemporary Christianity. This perspective focussing on the essence ot Christianity was in terms of historical theology less innovative than Harnack supposed, and betrayed in its approach Harnack’s debts to Pietism, to the theology of the Enlightenment, and to Idealism associated with the Vormaerz period. New, however, was Har-nack’s positivist emphasis on a scientific approach which can be seen also as mainstream Historicism. Harnack’s lectures therefore raise the leading question, whether the perspective on the essence of Christianity will not be indisputable in future also for the historical perception of Christianity, or put the other way round, whether there is room for approaches other than one based on the self-evidence of historical recognition.

Fussnoten:

1) Überarbeitete und ergänzte Fassung eines Gastvortrages vor der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena am 30. Juni 1999.

2) Sie wurde von dem Theologiestudenten Walther Becker gefertigt. Auch Martin Rade in Marburg hatte einen Stenographen mit der Mitschrift beauftragt, vgl. Johanna Jantsch, Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade, Theologie auf dem öffentlichen Markt, Berlin/New York 1996, 458 f. Eine weitere, vom Theologiestudenten Friedrich Israel gefertigte Nachschrift ist veröffentlicht bei Thomas Hübner, Adolf von Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums unter besonderer Berücksichtigung der Methodenfragen als sachgemäßer Zugang zu ihrer Christologie und Wirkungsgeschichte (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII, 493), Frankfurt /M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien 1994, 358-403.

3) Unter diesem Datum bestätigte Lektor Adolph Rost von der J. C. Hinrichsschen Verlagsbuchhandlung in Leipzig brieflich den Erhalt des Manuskriptes: "Die Sendung ist mir hocherfreulich als deutlichster Beweis Ihrer dauernd freundschaftlichen Gesinnungen, nicht minder aber auch um der Sache willen, weil ich selbst Ihren Standpunkt vollkommen zu teilen glaube. Gilt es Ihnen doch anscheinend den Gebildeten die Hoheit und Wahrheit des lebendigen Gottessohnes wieder näher zu bringen, unter Verzicht oder wenigstens Hintansetzung der leider stark verknöcherten kirchlichen Verhältnisse. Auch wollen Sie auf ein eigenes, lebendiges Christentum positiv hinarbeiten durch Aufzeigen der rechten Lebensquellen in der Geschichte" ... (Nachlaß Adolf v. Harnack, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Kasten 33, Hinrichs’sche Buchhandlung Leipzig, Bl. 25).

4) Das Wesen des Christentums [= WdChr] 26.-28. Tausend, Leipzig 1901. Im Herbst 1999 erschien im Gütersloher Verlagshaus die von Trutz Rendtorff herausgegebene und kommentierte Neuausgabe der Auflage von 1929; die Einleitung interpretiert die Programmatik der Vorlesungen, skizziert ihren biographischen Kontext und referiert inhaltliche Schwerpunkte. Es folgen auch Überlegungen zur Wirkungsgeschichte, damit zu den "unerledigten Anfragen" (K. Barth 1920), die Harnacks Vorlesungen der Gegenwart weiterhin stellen. Der Edition des Textteils ist ein Abdruck der Vorworte zu den verschiedenen Auflagen vorangestellt, die bereits in Th. Hübners Dissertation (wie Anm. 2) versammelt sind; der Text selbst enthält neben den von Harnack erwähnten Bibelstellen zahlreiche Hinweise auf Literaturzitate, die Harnack aus dem Gedächtnis beibrachte. Dies nun in einer neuen Ausgabe übersichtlich präsentiert zu finden, ist zweifellos ein Gewinn. Vermisst wird ein Literaturverzeichnis, das neuere Literatur auflistet, darin auch Harnacks Briefwechsel mit Theodor Mommsen (wie Anm. 24) und mit Christoph Ernst Luthardt (wie Anm. 22). Der Verweis auf Harnacks schriftlichen Nachlass (12, Anm. 15) ist zu korrigieren: Die große Zahl von Zuschriften aus vielen Ländern, die Harnack im Vorwort zum 45.-50. Tausend vom April 1903 erwähnt und die Rendtorff in einer separaten Mappe in Harnacks Nachlass vermutet, ist dort nicht vorhanden. Reaktionen auf Harnacks Vorlesungen, überwiegend Dankschreiben der Empfänger von Freiexemplaren, sind in seinem schriftlichen Nachlass verstreut. In der Mappe "Das Wesen des Christentums" (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Nl. v. Harnack, Kasten 10) finden sich neben Vorlesungspräparationen, Zeitungsausschnitten und einer Sammlung von amerikanischen Reaktionen, die Rev. W. Fritzemeier aus Watertown, Wisconsin, zusammengetragen hat, nur zwei Leserbriefe.

5) Vgl. Agnes von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, Berlin 1936, 242; zu den Auflagen vgl. Friedrich Smend: Adolf von Harnack. Verzeichnis seiner Schriften bis 1930, Mit einem Geleitwort und bibliographischen Nachträgen bis 1985 hrsg. von Jürgen Dummer, Leipzig 1990, Anhang I, 149 f.; Th. Hübner, Harnacks Vorlesungen (wie Anm. 2), 312-341. Bereits am 13. Juli 1900 fragte die Pariser Librairie Fischbacher bei Harnack wegen einer Übersetzung ins Französische an, (Nl. Harnack, Kasten 10, Mappe "Wesen des Christentums", Bl. 40, vgl. Smend/Dummer Nr. 767a) im Oktober 1900 wurde die von Bailey Saunders übersetzte englische Ausgabe veröffentlicht: Lectures on the Principles and Applications of Christianity; Im Vorwort zur 11. Aufl. aus dem April 1903 dankte Harnack für die Übersetzungen ins "Englische, Französische, Italienische, Japanische, Holländische, Norwegisch-Dänische, Schwedische und ich vermute, auch ins Russische".

6) Eine Bibliographie der Reaktionen bietet Th. Hübner, Harnacks Vorlesungen (wie Anm. 2), 256-272: Im Jahr 1900 zählte er allein 60 veröffentlichte Reaktionen, im Jahr darauf 254 gedruckte Bezugnahmen.

7) Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Neuauflage zum fünfzigsten Jahrestag des ersten Erscheinens mit einem Geleitwort von Rudolf Bultmann, 74.-77. Tausend, Stuttgart 1950; dazu Th. Hübner, Harnacks Vorlesungen (wie Anm. 2), 165-175.

8) Evangelisch-Theologische Fakultät der Ruhr-Universität Bochum [Hrg.]: Was ist Christentum? Versuche einer kritischen Annäherung; eine Ringvorlesung, Waltrop 1997; T. Rendtorff, Das Wesen (wie Anm. 4).

9) Zum Methodenstreit an den Theologischen Fakultäten und den di vergierenden Positionen im Protestantismus vgl. Friedrich Wilhelm Graf/ Hans Martin Müller, Der deutsche Protestantismus um 1900, Gütersloh 1996; zudem Friedrich Wilhelm Graf, Fundamentalpolitik. Der Streit um das Selbstverständnis der protestantischen Theologie, in: Christoph König und Eberhard Lämmert, Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M. 1999, 28-43.

10) Nl. Harnack, Kasten 45, Bl. 19.

11) Das Zitat findet sich in Kants Briefentwurf an Johann Caspar Lavater, den er nach dem vorhergehenden Brief vom 28. April 1775 verfasst hat, in: Immanuel Kant, Briefwechsel, Hamburg 31986, Nr. 59 (100), 139 f.

12) Nl. Harnack, Kasten 30, Bl. 1.

13) Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums, in: ChrW 14, 1900, Nr. 46, 1082-1085.

14) 10. Juli 1900, Nl. Harnack, Kasten 44, Bl. 6, zit. bei Kurt Nowak, Historische Einführung zu: ders. [Hrsg.], Adolf von Harnack als Zeitgenosse: Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Berlin/New York 1996, 37.

15) 1.7.1900, Nl. Harnack, Kasten 33, Bl. 18.

16) 1.7.1900, Nl. Harnack, Kasten 33, Bl. 28.

17) Agnes von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, Berlin 21951, 183 ff. zitiert Auszüge aus Briefen von Gustav Schmoller, Friedrich Loofs und Karl Holl. Dessen eindrücklicher Brief vom 1.7.1900 an Harnack, mit dem er für das Freiexemplar dankte, ist wiedergegeben bei Heinrich Karpp [Hrsg.], Karl Holl (1866-1926), Briefwechsel mit Adolf von Harnack, Tübingen 1966, 28-30.

18) 19.7.1900, Nl. Harnack, Kasten 30, Bl. 1.

19) Nl. Harnack, Kasten 33, Bl. 29: "... Endlich sollst Du auch von mir ein Echo Deiner Vorträge hören. Ich bin Dir sehr dankbar dafür. Was ich hiesigen Kritikern gesagt habe, sage ich auch mir selbst. Was wir auch im Einzelnen einzuwenden haben, auf jeden Fall hätte auf dem großen Gebiet des Protestantismus kein Anderer ein so reiches und anziehendes Bild von der geschichtlichen Erscheinung des Christenthums entwerfen können. Es ist eben unschätzbar, daß wir endlich ein ernstes Buch dieser Art besitzen, das wir dem gebildeten Laien mit dem Vertrauen empfehlen können, daß er gefesselt werden wird, wenn er anfängt. Aber bei meiner Freude über das Buch denke ich nicht bloß an die Eroberungen, die es in diesen Kreisen machen wird, sondern auch an meinen eigenen Gewinn.

Ich habe nun freilich am Meisten von den Theilen, gegen die ich auch den stärksten Widerspruch erhebe, von der Charakteristik der drei großen Konfessionen. Ich finde sie prachtvoll und überdenke sie mir immer wieder. Meine Symbolik wird dadurch menschlicher und reicher werden. Aber ich werde allerdings nicht davon lassen können, den Gegensatz zwischen dem Protestantismus und dem in den beiden anderen Konfessionen befestigten Christenthum etwas anders zu fassen. Bei diesem sind die stärksten Elemente der öffentlichen Religion die Gewohnheit, der Wunsch und die Angst und die Illusion. In der Reformation dagegen wagt sich eine Religion in die Öffentlichkeit, die zwar jene drei Stücke nie ganz los wird, aber ausdrücklich Selbstbesinnung auf die wahre Macht des Wirklichen sein will. Ich unterschreibe alles, was Du zum Lobe des in der römischen Kirche sich trotzdem durchdringenden Christenthums sagst. Aber die Hauptsache, die Besinnung auf das, was sie doch schließlich thatsächlich für wirklich halten, wird diesen Leuten durch ihre Kirche ungeheuer schwer gemacht. Bei uns ist die Lage nicht ganz so schlimm, weil, Gott sei Dank, das kirchliche Institut schwächer ist."

20) Kurt Nowak, Wie theologisch ist die Kirchengeschichte?, in: ThLZ 122, 1997, 3-11 (7).

21) A. v. Zahn-Harnack (21951), 58. Vgl. Georg Pfleiderer: Theologie im Fachmenschenzeitalter (ThLZ 125, 2000, 3-22).

22) Smend/Dummer Nr. 574.

23) Dies zeigt bereits das Beratungsprotokoll der Leipziger Fakultät vom 21.12.1885, die gegen die Einwände von Fr. Delitzsch und Chr. E. Luthardt zunächst eine Berufung Harnacks für den erkrankten K. F. A. Kahnis in Aussicht genommen hatte: "Darüber bestand Einstimmigkeit innerhalb der Fac[ultät], dass derselbe unter den jüngeren Kirchenhistorikern weitaus der hervorragendste an Gelehrsamkeit, Productivität und academischem Erfolg sei." (U. Rieske-Braun [Hrsg.]: Moderne Theologie. Der Briefwechsel Adolf von Harnack-Christoph Ernst Luthardt 1878-1897, hrsg. und eingel., Neukirchen-Vluyn 1996, 114).

24) Vgl. dazu Ch. König/E. Lämmert, Konkurrenten in der Fakultät (wie Anm. 9).

25) Stefan Rebenich: Theodor Mommsen und Adolf Harnack, Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Edition und Kommentierung des Briefwechsels, Berlin/New York 1997; K. Nowak, Einführung, Harnack als Zeitgenosse I (wie Anm. 14), 46-52, T. Rendtorff (wie Anm. 4), 17 f.

26) Hans-Martin Barth, Art. "Apostolisches Glaubensbekenntnis II." in TRE 3, 1978, 554-566 (560-562); Agnes von Zahn-Harnack, Der Apostolikumstreit des Jahres 1892 und seine Bedeutung für die Gegenwart, Marburg 1950.

27) A. v. Zahn-Harnack (21951), 181.

28) Winfried Döbertin, Adolf von Harnack. Theologe, Pädagoge, Wissenschaftspolitiker (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII, 258), Frankfurt/M.-Bern-New York 1985, 47, vgl. J. Jantsch, Briefwechsel Harnack-Rade (wie Anm. 2), 79.

29) Mappe "Das Wesen des Christentums", Nl. Harnack, Kasten 10, Bl. 1-5 (Auszüge): "Der Christ muß bekennen: ,Ich kann nie wieder so thun, als hätte ich Christi Worte nie gekannt.’" - "Wer heute behauptet, er wüßte in den letzten Fragen etwas Sicheres, der wird mit dem mitleidigen Erstaunen betrachtet, mit dem wir den Mittelalterlichen Ritter in seinem Panzer den modernen Kugeln entgegentreten sehen. Jeder Jägerbursche schießt ihn, so steht es, heute um" - "Die Wahrheit schreitet immer fort und der Mensch bleibt immer derselbe. Damit ist zu beginnen. Für den Menschen, nicht für die Menschheit ist die Religion da. Hat man das eingesehen, so kann man sich von vielen falschen Vorstellungen und Anforderungen befreien." (Bl. 1) "Die Systeme sind das Malheur; der Historiker ist immer der geborene Widerpart des Systematikers" - ",Die Menschheit kann kaum oft genug daran erinnert werden, daß es einst einen Mann Namens Socrates gegeben hat’ (Mill)" (Bl. 3).

30) Vgl. Gottfried Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auff das Jahr 1688 (2 Teile 1699), Franckfurt am Mayn 1700; Fortsetzung und Erläuterung Oder Dritter und Vierdter Theil der unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie/Bestehend In Beschreibung der noch übrigen Streitigkeiten im XVIIden Jahrhundert, Franckfurt am Mayn 1700.

31) Friedrich Schleiermacher, Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: Krit. Gesamtausgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, hrsg. von Hermann Fischer, Abt. 1, Bd. 12, Über die Religion. Monologen, Berlin 2.-4. Aufl. 1995.

32) Nl. Harnack, Mappe "Wesen des Christentums", Vorlesungskonzept, Kasten 10, Bl. 4

33) Nl. Harnack, Mappe "Wesen des Christentums", Vorlesungskonzept, Kasten 10, Bl. 5.

34) "Welche Fragen bewegen heute!

1) Stellung zur Schrift.

2) Union und Confession (Conf.; Confession in der Union;

Ev. Prinzip; Linke)

3) Altes oder neues oder kein Bekenntniß.

4) Kirche und Staat. Landeskirche, Staatskirche, Volkskirche, Frei kirche. Verfassung der Kirche. Bischöfliche, consistoriale, pres- byterianische Verfassung.

5)Kirche und sociale Frage? Das Evangelium für Jenseits oder Diesseits "rein religiös" oder "social" oder "individualistisch". Die innere Mission

6) Die Kirche und die Volksschule.

7) Die Kirche und die Bildung und Wissenschaft des 19. Jahr- hunderts (der Geist des 19. Jahrhunderts), Herder, Goethe,

Ranke, Naturwissenschaft.

8) Die Kirche und die Mission.

9) Die Kirche und der öffentliche Gottesdienst.

10) Die Kirche und der Katholicismus. Der Katholicismus im Protestantismus".

35) "Stundenkonzept:

1. Stunde: Allg. Einleitung.

2.-6. Stunde: Der innere Gang der dt. Geschichte des 19. Jahr- hunderts.

7.-9. Wissenschaft und Bildung und Christenthum

10.-12. Union. Confession. Liberalismus.

13.-14. Schrift (Kritik)

15.-24. Altes oder neues oder kein Bekenntniß. Theol. Einzelfra- gen. Ritschl.

25.-28. Verfassungsfragen. Kirche und Staat.

29.-31. Kirche und sociale Frage. Innere Mission.

(32.-33.Volksschule) dies fällt eventuell aus.

34.-35. Gottesdienst

36.-37. Mission

38.-40. Katholicismus und katholische Kirche."

36) WdChr 9. Die von Harnack aufgegriffene, botanische Metaphorik von Rinde und Schale findet sich etwa bei Hieronymus, Epist. 58, 9 (PL 22, 585), weitere patristische Belege nennt Klaus Lange, Geistliche Speise, Untersuchungen zur Metaphorik der Bibelhermeneutik, in: ZDA 95, 1966, 108 f.

37) WdChr, 4, 7, 9.

38) Das Evangelium und die Welt, oder die Frage der Askese,

Das Evangelium und die Armut, oder die soziale Frage,

Das Evangelium und das Recht, oder die Frage nach den irdischen Ordnungen,

Das Evangelium und die Arbeit, oder die Frage der Kultur

Das Evangelium und der Gottessohn, oder die Frage nach der Christologie,

Das Evangelium und die Lehre, oder die Frage nach dem Bekenntnis.

39) Für den "Historiker der ersten Jahrhunderte der Kirche" erwachse "die Pflicht, nicht bei der Feststellung der Wandelungen der christlichen Religion stehen zu bleiben, sondern zu untersuchen, wie weit die neuen Formen fähig gewesen sind, das Evangelium selbst zu schützen, fortzupflanzen und einzuprägen. Es wäre wahrscheinlich untergegangen, wenn die Formen des ,Urchristenthums’ ängstlich in der Kirche bewahrt worden wären; nun aber ist das ,Urchristenthum’ untergegangen, damit sich das Evangelium erhielte. Diesem Gange der Entwicklung nachzudenken und die Bedeutung der neu recipirten Formen für den Kern der Sache festzustellen, ist die letzte und höchste Aufgabe des Historikers, der selbst in seinem Gegenstande lebt." (Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, Smend/Dummer Nr. 574, 73).

40) Auch die theologiegeschichtliche Frage nach vorhergehenden Wesensbestimmungen des Christentums wurde durch Harnacks Vorlesung angeregt. Ernst Troeltsch, Was heißt "Wesen des Christentums"? (in: ChrW, 17, 1903, 443-446; 483-488; 532-536; 578-584; 650-654; 678-683. Überarbeitete Fassung in: Ges. Schriften, 2. Bd.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Neudruck der 2. Aufl. 1922, Aalen 1962, 386-451, hier 391 f.) ortete die Wurzel dieser Fragestellung im Idealismus: "Erst mit Chateaubriands, freilich auf einer sehr verworrenen historisch-empirischen Grundlage beruhendem, Génie du Christianisme taucht ,das Wesen des Christentums’ auf und weist uns hierdurch auf seine Quelle in der historischen Anschauung und Kunst der Romantik hin, nachdem Lessing und Herder nach ähnlichen Begriffen gesucht hatten." Heinrich Hoffmann, Die Frage nach dem Wesen des Christentums in der Aufklärungstheologie, in: Harnack-Ehrung. Beiträge zur Kirchengeschichte ihrem Lehrer Adolf von Harnack zu seinem siebzigsten Geburtstage (7. Mai 1921) dargebracht von einer Reihe seiner Schüler, Leipzig 1921, 353-365; ders., Zum Aufkommen des Begriffs "Wesen des Christentums", in: ZKG 45, N.F. 8, 1927, 452-459; Hermann Mulert, Wann kam der Ausdruck "Das Wesen des Christentums" auf?, in: ZKG 45, N.F. 8, 1927, 117; Rolf Schäfer, Welchen Sinn hat es, nach einem Wesen des Christentums zu suchen?, in: ZThK 65, 1968, 329-347; ders., Art. "Christentum, Wesen des", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 1, 1971, 1008-1016; Hans Wagenhammer, Das Wesen des Christentums. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung, (= Tübinger Theologische Studien, 2), Mainz 1973.

41) Der Geist des Christentums/von Chateaubriand, übersetzt von Hermann Kurtz, Ulm 1844.

42) Vgl. Maximilian A. Landerer/Otto Kirn, Art. "Tübinger Schule, ältere", in: RE3, Bd. 20, 148-159.

43) Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1841, 2. verm. Aufl. 1848, Neuausgabe der 3. Aufl. Leipzig 1849, Stuttgart 1969.

44) Paradigmatisch für seinen Entwurf ist Feuerbachs Lehre vom Wesen "Gottes" (3. Aufl., a. a. O., 80): Hier bezeichnet F. "Gott als Wesen des Verstandes": "Die Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist - der Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme: Gott das schlechthin Positive, der Inbegriff aller Realitäten, der Mensch das schlechtweg Negative, der Inbegriff aller Nichtigkeiten. Aber der Mensch vergegenständlicht in der Religion sein eignes geheimes Wesen. Es muß also nachgewiesen werden, daß dieser Gegensatz, dieser Zwiespalt von Gott und Mensch, womit die Religion anhebt, ein Zwiespalt des Menschen mit seinem eigenen Wesen ist."

45) Erstes Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen: David Strauss, Der Bekenner und der Schriftsteller, in: Friedrich Nietzsche, Werke in sechs Bänden, Bd. I, München-Wien 1980, 137-207; Ders. Der Antichrist. Fluch auf das Christentum. Ebd., Bd. IV, 1160-1235.

46) Das Leben Jesu kritisch bearbeitet, Bd. 1/2, Tübingen 1835/36.

47) Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwickelung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, 2 Bde. Tübingen u. Stuttgart 1840/41.

48) D. F. Strauß, Glaubenslehre, Bd. 1, 71, vgl. Ulrich Köpf, Ferdinand Christian Baur als Begründer einer konsequent historischen Theologie, in: ZThK 89, 1992, 440-461 (457). Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, a. a. O., Vorwort zur ersten Auflage, 10, und Theobald Ziegler, Art. "Strauß, David Friedrich", in: RE3, Bd. 19, 1907, 76-92, hier 84, 51.

49) Ueber den unterscheidenden Charakter oder das Wesen des Christenthums, Hamburg 1845; zuerst abgedruckt in: ThStKr 17, 1845, 1. Vgl. Willibald Beyschlag, Art. "Ullmann, Karl", in: RE3, Bd. 20, 204-211.

50) Der reformierte Zürcher Diakon Heinrich Hirzel veröffentlichte 1862 eine Stellungnahme in der Debatte um Strauß und Feuerbach: "Rechenschaft von unserm Glauben. Antwort auf das Sendschreiben des Herrn Prof. Tholuck", Winterthur 1862.

51) Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Das Wesen des christlichen Glaubens, Vom Standpunkt des Glaubens dargestellt, Basel 1846.

52) August Tholuck, Gespräche über die vornehmsten Glaubensfragen der Zeit, zunächst für nachdenkende Laien, welche Verständigung suchen, Halle 1846.

53) Im Winter 1864 begann Luthardt in Leipzig eine Vortragsreihe, aus der eine vierbändige Apologie des Christentums hervorging, deren erster Band vierzehn Auflagen erreichte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde: Apologetische Vorträge über die Grundwahrheiten des Christenthums im Winter 1864 zu Leipzig gehalten, Leipzig 1864, 12.-14. Aufl. 1897.

54) Bonn 1875, 3. verb. Aufl. 1886.

55) ThLZ 12, 1887, 82-86, Rezension zur 3. Aufl.

56) Basel 1881, 2. Aufl. 1883.

57) Otto Gerhard Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Studien zur Problemgeschichte der Moderne (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 116), Göttingen 1996, 17-40, hier 21: Unbeschadet eines pluriformen positionellen Spektrums im Historismus war "in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts die vorherrschende Orientierung die des Objektivismus ... Das heißt: auch die Geschichtswissenschaft erhob im ganzen den Anspruch, Abbildung und Wiedergabe der Welt, der geschichtlich gewesenen Wirklichkeit bieten zu können, also - mit den berühmten Worten Rankes von 1824 - zeigen zu können, ,wie es wirklich gewesen’." Zu den metaphysischen Implikationen im historischen Konzept Rankes vgl. Rudolf Vierhaus, "Leopold von Ranke - Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Kunst", in: Leopold von Ranke, Vorträge anläßlich seines 100. Todestages (= Schriften des Historischen Kollegs, Dokumentationen 3), München 1987, 31-44; O. G. Oexle, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Momente einer Problemgeschichte, in: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit - Gegensatz - Komplementarität? (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 6), Göttingen 1998, 99-151, hier 106 f.

58) Etwa J. Burckhardt und J. G. Droysen haben in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Wurzel des Historismus als Suche nach der vergewissernden Erfahrung von Gewordenheit bestimmt, die auf die Verunsicherung und "völlige Negation" antwortete, die zum Ende des 18. Jahrhunderts Staat, Kirche, Kunst und Leben erfaßt habe. Dazu O. G. Oexle, "Historismus", Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (wie Anm. 57), 41-72, hier 46 f.

59) Über wissenschaftliche Erkenntnis, in: Reden und Aufsätze, Neue Folge, 3. Bd., Aus der Friedens- und Kriegsarbeit, Giessen 1916, 173-201, hier 179.

60) WdChr 8.

61) Eine kirchen- und dogmengeschichtliche Monographie, Bonn 1850, 2. Aufl. 1857.

62) U. Köpf, F. Chr. Baur, ZThK 89, 1992 (wie Anm. 48), 440-461.

63) Lehrbuch der Dogmengeschichte, 5. Aufl. 1909, 365.

64) Die Predigt Jesu in ihrem Verhältniß zum Alten Testament und zum Judentum, Leipzig 1882.

65) Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892.

66) Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich, Göttingen 1892.

67) WdChr 34 f.

68) W. Hermann an Harnack am 16.11.1900, Nl. Harnack, Kasten 33, Bl. 3

69) WdChr 10.

70) Mit Jesu Botschaft, so Harnack, "brach der Quell frisch hervor und brach sich durch Schutt und Trümmer einen neuen Weg, durch jenen Schutt, den Priester und Theologen aufgehäuft hatten, um den Ernst der Religion zu ersticken." WdChr 31.

71) In der Schlusspassage seiner Prolegomena zur Geschichte Israels, 6. Ausg. 1905, 423 f. hatte Wellhausen seinerseits die Metaphorik von Kern und Schale verwendet: "Bei der Restauration des Judentums sind die alten Bräuche zusammengeflickt zu einem neuen System, welches aber nur als Form diente zur Aufbewahrung eines edleren Inhalts, der anders als in einer so harten, alle fremde Einflüsse schroff abhaltenden Schale nicht hätte gerettet werden können. Das Heidentum in Israel, gegen welches die Propheten vergebens protestirten, ist auf seinem eigenen Gebiete vom Gesetz innerlich überwunden, und der Kultus, nachdem die Natur darin ertötet worden, zu einem Panzer des supranaturalen Monotheismus gemacht."

72) WdChr 23.

73) WdChr 32 f.

74) WdChr 33.

75) WdChr 22.

76) WdChr 91. Auf die konfessionelle Kritik von Hermann Cremer (vgl. das Vorwort zur 2. und 3. Aufl. bei Cremer, VII-X) antwortete Julius Kaftan: Gehört Jesus in das von ihm verkündigte Evangelium hinein?, in: ChrW 16, 1902, 295-298.

77) WdChr 163. Ähnlich scharf 165: "Der römische Katholizismus als äußere Kirche, als ein Staat des Rechts und der Gewalt, hat mit dem Evangelium nichts zu thun, ja widerspricht ihm grundsätzlich ... Daß dieser Staat sich vom Evangelium her einen göttlichen Schimmer borgt, und daß dieser Schimmer ihm außerordentlich nützlich ist, kann das Urteil nicht umstoßen."

78) WdChr 184.

79) WdChr 33.

80) Nl. Harnack, Kasten 10, Mappe "Wesen des Christentums", Bl. 3.

81) Im 1. Band der 3. Auflage des Lehrbuches der Dogmengeschichte (Smend/Dummer Nr. 574) hatte Harnack (58) formuliert: "In den drei Momenten aber, in denen sich das Evangelium darstellt (Gottesherrschaft, bessere Gerechtigkeit [Gebot der Liebe] und Sündenvergebung), ist es untrennbar verknüpft mit Jesus Christus." Noch in der 5. Aufl. 1931 (69) findet sich "das den Konventionen der Kirchensprache verpflichtete Wort ,Sündenvergebung’" (K. Nowak, Einführung, Harnack als Zeitgenosse I [wie Anm. 14], 26).

82) WdChr, 3 f.; das Zitat nach Thomas Carlyle, Sartor Resartus. Leben und Meinungen des Herrn Teufelsdröckh, Übersetzung aus dem Englischen, Nachwort und Anmerkungen von Peter Staengle, Zürich 1991, 366, vgl. T. Rendtorff (wie Anm. 4), 56, Anm. 3.

83) Vgl. die Reaktion Karl Holls vom 1.7.1900 an Harnack, zit. bei H. Karpp, (wie Anm. 18), 28: "Ich habe mich so ganz hingeben können, wie selten an ein Buch: Ich habe nicht denken mögen an das, was ich für die Technik der Vorlesung aus dem Buch lernen kann, auch nicht die Kunst studieren wollen, mit der Sie den Gegenstand herausgearbeitet haben, ich habe alles das über der Sache vergessen können. Das Buch ist ja ein Bekenntnis; in dem Sinne habe ich es gelesen und werde es weiter lesen. Wer gelehrt daran kritisieren mag, der tue es von mir aus; ich schweige vor dem Buch und glaube es damit am meisten zu ehren. Mich hat es in die Welt hinausgehoben, in der es mir am wohlsten ist." Dagegen zeigte sich die AELKZ besorgt über den Erfolg der Vorlesungen, vgl. Jg. 1901, 302-304: Harnack’s Wesen des Christenthums und die Bibel: "... sie gewinnen immer größere Verbreitung auch über den Kreis der Theologen hinaus, und wenn schon bei diesen es nicht an solchen fehlt, die ohne Verständniß für die ungeheure Tragweite und die letzten Konsequenzen einer solchen Würdigung des Christenthums sich zu diesem Buch bekennen und es als eine große Errungenschaft preisen, wie sollen dann erst Laien sich seinem Einfluß entziehen, die nicht in der Lage sind, die mit so großer Zuversichtlichkeit vorgetragenen Behauptungen auf ihre Wahrheit zu prüfen und den schillernden Schriftbeweis im einzelnen zu kontrolliren?"

84) Nl. Harnacks, Mappe "Wesen des Christentums", Bl. 33 ff.

85) Hermann Cremer: Das Wesen des Christentums. Vorlesungen im Sommersemester 1901 vor Studierenden aller Fakultäten an der Universität Greifswald gehalten, Gütersloh 1901. Wilhelm Walther: Adolf Harnacks Wesen des Christentums für die christliche Gemeinde geprüft, Leipzig 1901, 5. Aufl. 1905.

86) W. Walther, 15 f.; H. Cremer, V.

87) L’ Évangile et L’ Église, Paris 1902; deutsch: Evangelium und Kirche. Autorisierte Übersetzung nach der zweiten vermehrten, bisher unveröffentlichten Auflage des Originals von Joh. Griére-Becker, München 1904. Dazu Jan Hulshof, Wahrheit und Geschichte, Alfred Loisy zwischen Tradition und Kritik, Essen 1973; Otto Weiß, Der Modernismus in Deutschland, Ein Beitrag zur Theologiegeschichte, Mit einem Geleitwort von Heinrich Fries, Regensburg 1995.

88) A. Loisy, Evangelium und Kirche, 7 f.: "Es ist also höchst willkürlich zu bestimmen, daß das Wesen des Christentums in dem beruhen soll, was im Evangelium nicht vom Judentum stammt, als ob das, was das Evangelium von der jüdischen Tradition zurückbehalten hat, notwendig einen sekundären Wert besäße. ... Jesus hat das Gesetz nicht zerstören, sondern erfüllen wollen. Man muß also darauf gefaßt sein, im Judentum und im Christentum gemeinsame, für beide wesentliche Züge zu finden."

89) Loisy, Evangelium und Kirche, 13 f.; Ernst Troeltsch, Was heißt: "Wesen des Christentums"? (wie Anm. 40), 390. Dazu Th. Hübner, Harnacks Vorlesungen (wie Anm. 2), 148 f. Der Sinn des bekannten, pointierten Diktums von Loisy (112 f.) ist in seinem Kontext ein anderer als in zahlreichen späteren Zitationen: "Jesus hatte das Reich angekündigt, und dafür ist die Kirche gekommen. Sie kam und erweiterte die Form des Evangeliums, die unmöglich erhalten werden konnte, wie sie war, seitdem Jesu Aufgabe mit dem Leiden abgeschlossen war. Wenn man das Prinzip aufstellt, daß alles nur in seinem ursprünglichen Zustand Existenzberechtigung hat, so gibt es keine Einrichtung auf der Erde und in der menschlichen Geschichte, deren Legitimität und Wert nicht bestritten werden könnte. Ein solches Prinzip läuft dem Gesetz des Lebens zuwider, welches eine Bewegung und ein beständiges Streben nach Anpassung an ewig wechselnde und neue Bedingungen ist. Das Christentum hat sich diesem Gesetz nicht entzogen, und es darf nicht getadelt werden, weil es sich ihm gefügt hat. Es konnte nicht anders handeln." Vgl. dazu Gerhard Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, München und Hamburg 21965, 20.

90) Leo Baeck (1873-1956) war 1897-1907 Rabbiner in Oppeln (Niederschlesien), 1907-1912 Düsseldorf, 1912 Dozent in Berlin an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, 1942-1945 Theresienstadt, 1945 Präsident des Rates der Juden in Deutschland, 1946 Präsident der "World Union for Progressive Judaism", 1948-1952 Gastprofessor am "Hebrew Union College" in Cincinnati. Zur Debatte um das "Wesen des Judentums" vgl. Uriel Thal, Theologische Debatten um das "Wesen des Christentums", in: Werner E. Mosse [Hrsg.]: Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914, Tübingen 1976, 599-632. Zu Baeck vgl. Werner Licharz [Hrsg.], Leo Baeck - Lehrer und Helfer in schwerer Zeit (Arnoldshainer Texte 20), Frankfurt/M. 1983; Albert H. Friedlander, Leo Baeck, Leben und Lehre, München 1979; Walter Homolka, Jüdische Identität in der modernen Welt, Leo Baeck und der deutsche Protestantismus, Gütersloh 1994.

91) Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums, 45, N.F. 9, Breslau 1901, 100: "Nicht die Vergangenheit wird so vor uns hingestellt, sondern nur die Projection eines vorher gefassten Bildes in die Vergangenheit hinein. Die Vorträge, die eine vortreffliche apologetische Schrift hätten sein können, sind so eine sehr angreifbare geschichtliche Skizze geworden. Der Titel, der ,meine Religion’ oder ,mein Christentum’ hätte heissen sollen, stellt ungenauer Weise ,das Wesen des Christenthums’ als Inhalt hin. Hierin besteht die Atopie des Buches."

92) A. a. O., 99.

93) A. a .O., 101.

94) A. a. O., 101 u. 103.

95) Vgl. dazu Carsten Colpe, Der Wesensbegriff Ernst Troeltschs und seine heutige Anwendbarkeit auf Christentum, Religion und Religionswissenschaft, in: Troeltsch-Studien, Bd. 3, Protestantismus und Neuzeit, hrsg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 1984, 231-239; Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch, Leben und Werk, Göttingen 1991, 283-295; Norbert Witsch, Glaubensorientierung in "nachdogmatischer" Zeit, Ernst Troeltschs Überlegungen zu einer Wesensbestimmung des Christentums, Paderborn 1997, 140 ff.

96) Der Anspruch der historisch-wissenschaftlichen Objektivität sei nunmehr der einzig verbliebene legitime Zugang zum Wesen des Christentums: "Wem die kirchlichen Dogmen zerbrochen sind und wem die Voraussetzungen der modernen Historie selbstverständlich sind, der wird in einem solchen Versuche den einzigen Weg sehen, auf dem wir unsere religiöse Ueberzeugung klären und auf dem wir unserer Christlichkeit gewiß werden können." (Ges. Schriften II, 401).

97) A. a. O., 393

98) A. a. O., 429: "Ist aber so die Wesensbestimmung eine Tat, so ist sie selbst nicht mehr bloß ein Urteil über die Geschichte, sondern geradezu ein Stück der Geschichte."

99) Ges. Schriften II (wie Anm. 40), 433.

100) Vgl. Deutsche Ev. Kirchenzeitung 1902, 1-6; Darauf erwiderte die katholische Zeitung "Germania" in einem Artikel vom 17. August 1902, "Ein Christentum ohne Christus" zustimmend: "Stöcker sollte es daher lieber als verhängnißvoll betrachten, daß die noch Christusgläubigen im protestantischen Lager, welche das Christenthum Schulter an Schulter mit den Katholiken vertheidigen sollten, statt dessen sich mit Christusleugnern verbinden, um das stärkste Bollwerk des Christusglaubens, die katholische Kirche, anzugreifen. ... Dagegen sind der gläubige Protestantismus und der Katholicismus, die beide an Christus glauben, nur zwei Confessionen derselben Religion. Daraus kann logisch nur das Eine sich ergeben: Ein schiedlich-friedliches Zusammenwirken der Katholiken und der gläubigen Protestanten zur Bekämpfung der Christusleugner!" Harnack sandte Stoecker im Sommer 1902 offenbar eine ihm zugegangene positive Zuschrift auf seine Vorlesungen, wofür ihm dieser brieflich am 10.9.1902 dankte (Nl. Harnack, Kasten 43, Bl. 1): "Ich habe einmal die Ritschl’sche Theologie als einen Versuch der Seelsorge an den gebildeten Unchristen bezeichnet und sie unter diesem Gesichtspunkt in ihrem Nutzen für die Kirche zu begreifen gesucht. ... (2) Aber ich habe doch schließlich gefunden, daß der negative Einfluß auf positiv angelegte Christen weit größer war als der positive Einfluß auf Zweifler und Lügner. ... Für meine theologische und kirchliche Auffassung ruht die christliche Kirche auf der Schrift, und zwar auf der ganzen Schrift, die evangelische Kirche auf der Schrift, wie sie in den Bekenntnissen durch die großen Zeugen der Reformation bezeugt ist. Meines Erachtens kann die Kirche auf dem schmalen Streifen heiligen Landes, den Sie stehen lassen, nicht bestehen. Deshalb meine scharfe Stellung."

101) "Harnack and Anti-Harnack", The Independent, New York 1901, 1696-1697.

102) Dazu Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hg. und eingel. von Carl Hinrichs, Werke III, München 1965, 285 ff.; Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991.

103) H. Wagenhammer, Das Wesen des Christentums, 140-252.

104) Vgl. K. Nowak, Einführung, Harnack als Zeitgenosse I (wie Anm. 14), 44: "Luther nahm in der Harnackschen Frömmigkeitswelt einen untergeordneten Platz ein. Sosehr Harnack den Reformator wegen seiner Rückkehr zum Zeugnis des Neuen Testamentes und seines historischen Ranges als ,Vater der Neuzeit’ zu würdigen vermochte: was die Herztöne der Frömmigkeit anlangte, suchte Harnack seine Gesprächspartner anderswo."

105) WdChr 189.

106) WdChr 36.